Ägypten
Wenn sich politische Ereignisse zur persönlichen Geschichte entwickeln, gewinnen sie umgehend tiefere Einsichten.
Die Revolution am 25. Januar hat mich, kurz gesagt, aus meiner sicheren, behüteten Umgebung herausgerissen. All die Jahre habe ich ein Netz aus Schutzhüllen gleich einem Kokon um mich herum gesponnen, ein sicheres System, das mich privat, beruflich und ideologisch beschützt hat.
Obwohl ich immer sehr selbstbewusst war, habe ich mich doch niemals frei geäußert oder selbst dargestellt. Ich betrachtete mich als Nubierin, Muslimin, Feministin und Ägypterin. Ich sah keinen Widerspruch zwischen meinen diversen Identitäten. Es war mir bisher immer darum gegangen, meine Individualität innerhalb der verschiedenen Gruppen, denen ich angehörte, ausleben zu können. Doch in letzter Zeit beschlich mich zusehends der Gedanke, dass mich meine Schutzhüllen, die ich mir so sorgsam zugelegt hatte, daran hinderten, mein volles Potenzial auszuschöpfen.
Während der Revolution begann ich, nach und nach meinen sicheren Hort zu verlassen. Ich rebellierte gegen meine Familie und schloss mich gegen ihren Willen den Protesten an; ich entwickelte das Gefühl, dass alle Kompromisse, die ich bisher eingegangen war, um meinen Platz in einem patriarchalisch-konservativ geprägten Mittelklassehaushalt weiter aufrecht zu erhalten, sinnlos waren. Ich musste mich erheben und endlich meine Standpunkte lautstark nach außen vertreten.
Die nächste sichere Schutzhülle, die ich ablegen musste, war die meiner Großfamilie. Sie sahen in mir nicht mehr die Tochter oder Verwandte, die sie großgezogen haben. Außer durch die häufigen Reisen ohne Begleitung, die ihren Auslegungen des Islam zuwiderhandelten, habe ich mich ihrer Meinung nach nicht genug um meine Mutter gekümmert, sondern ihr stattdessen Sorgen bereitet. Ich habe eine längere Auseinandersetzung mit meinem Cousin geführt, der, genau wie ich, 29 Jahre alt ist. Er wollte mich davon überzeugen, den Tahrir-Platz zu verlassen. Aus seiner Sicht repräsentieren wir Demonstranten nicht das ägyptische Volk, sondern brechen stattdessen seine Gesetze. Er beendete seine Argumentation, indem er feststellte, dass die Opfer der Revolution nicht als Märtyrer angesehen werden.
Die letzte Schutzhülle, die fiel, war die Beziehung zu den alten Freundinnen aus der Kindheit, alles nette, apolitische Frauen, die mich wirklich sehr gern mögen, aber von meinen politischen Aktivitäten und feministischen Vorstellungen vor den Kopf gestoßen waren. Doch im Gegensatz zu allen anderen boten sie mir bedingungslose Unterstützung.
Die Revolution auf dem Tahrir-Platz war meine erste Demonstration. Davor habe ich die aufgebrachten, lauten Stimmen und diese absolute Hingabe immer gehasst, aber wenn die alles durchdringende Stimme des eigenen geliebten Landes ruft, ist es an der Zeit den sicheren Hafen zu verlassen und seinen Beitrag zu leisten.
© Übertragen von Mo Zuber
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