Bahareh Ebrahimi lebt in einer Einzimmerwohnung. Sie arbeitet teils im Home-Office, teils im Büro und erzählt hier über ihre Einsamkeit.
Neulich habe ich mit meinem Cousin geskypt. Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen, weil er von Teheran nach Ecuador ausgewandert ist. Und ich nach Deutschland. Als allererstes fragte er mich: „Na, ist es gut, während solch einer Pandemie in Deutschland zu sein?“ Ich erzählte ihm, dass ich trotz der Krise jeden Tag acht Stunden arbeite, teils im Home-Office, teils im Büro, regelmäßig meine Miete und all die Betriebskosten zahle. Er antwortete mir, dass er von zu Hause arbeitet. Dass sie für drei Monate keine Miete zahlen müssen. Strom, Gas und so weiter können sie später in Raten abzahlen. Und das sei für alle so. Ich war überrascht. Er war überrascht. Dass in Berlin auch während des Lockdowns Menschen normal auf der Straße waren, dass viele hier die Coronamaßnahmen als Eingriff in ihre persönliche Freiheit wahrnehmen und auf ihrer Normalität beharren. (Ein Berliner Kollege hat sogar die Maskenpflicht mit der Kopftuchpflicht verglichen!) All das erstaunte meinen Cousin auf der anderen Seite der Welt. Er kannte nur die Nachrichten über die wenigen Toten und das viele Testen in Deutschland. Ein fast ähnliches Gespräch hatte ich mit meinem Vater im Iran. Auch er meinte: „Gut, dass du in dieser Coronazeit in Deutschland bist.“ Auch er dachte, alles sei hier ordentlich, alles sei hier erstklassig. Ich verriet ihm, dass es bis vor zwei Wochen keine Masken zu kaufen gab, dass man sich selber welche basteln musste. Erzählte ihm von meinem selbst hergestellten Desinfektionsmittel mit Ethanol und abgekochtem Wasser und sprach mit ihm über meine Einsamkeit.
Ich brauchte kein Corona, um mich in Berlin einsam zu fühlen.
Anfangs, als ich hier neu war, versuchte ich irgendwelche Lieblingsorte zu finden. Vieles habe ich probiert – mal schleppte ich mich und meine Einsamkeit zum Kreuzberger Kanal, mal zur Friedrichstraße in Mitte, mal auf das Tempelhofer Feld in Neukölln und mal in die Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg. Und jedes Mal kam ich noch einsamer nach Hause.
Im Laufe der Zeit füllte sich eine Liste von Orten, Communitys und Aktivitäten, zu denen ich mich nicht dazugehörig fühlte: Die Berliner Club-Szene. Techno. Die einer neuen Bürgerlichkeit ähnelnde alternative Szene. Die Chillen-wa-mal-im-Späti-Kultur. Die Multikulti-WG-Partys. Überhaupt WG-Partys. Die gutsituierten Prenzlauer Berger Linken. Die alles mit Meditation Besiegenden. Die Vintage-Szene. Die Ich-leg-heut-mal-in-der-Kotz-Bar-auf-Szene. Die Gatherings mit den sich wichtig findenden Autor*innen, Agent*innen und Redakteur*innen. Die bei jedem banalen Gespräch geisteswissenschaftliche Fachbegriffe Nutzenden. Das Ich-arbeite-an-meinem-künstlerischen-Projekt-Milieu. Die Demo-Tourist*innen. Die Mode-Szene. Die unter sich gebliebenen Ausländer*innen-Empowerment-Communities. Die auf ihre Vergangenheit stolzen Iraner*innen. Die mir immer Iran-Bücher schenkenden Deutschen. Die den Urlaub des nächsten Jahres ein Jahr vorher planenden Deutschen. Die anstatt Reise Urlaub sagenden Deutschen, damit es so planbar und langweilig klingt wie die Bürokratie.
Auch in der Coronapandemie gehöre ich zu keiner Gruppe
Und nun, in der Coronapandemie, gehöre ich wieder zu keiner der Gruppen, die in den Medien dauerpräsent sind: Die Risikogruppen. Die Älteren. Die Eltern. Die Kinder. Die mit dem Recht auf Home-Office. Die Männer. Die, denen applaudiert wird. Die Applaudierenden. Die Held*innen. Die, die auf einmal so viel Zeit haben. Die, die selber Brot backen. Die, die mit Online-Apps Yoga machen. Die, die in Parks Sport treiben. Die, denen irgendwelche Demos fehlen. Die, die sich um Spargel Sorge machen. Die, die ärmer wurden. Die, die reicher wurden. Die, die den Staat gut verarschen konnten. Die, die aus dem übervollen Berlin nach Brandenburg fahren können zum Wandern. Die, die ihren Zweitwohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern nicht besuchen konnten. Die, deren gebuchter Ski-Urlaub oder Italien-Urlaub platzte. Die, die Hof-Office machen können. Die, die mehr Auto gefahren sind. Die, die mehr Fahrrad gefahren sind. Die sogenannten Hygiene-Demonstrant*innen. Die Verschwörungstheoretiker*innen. Die, denen Corona egal ist und sich mit anderen verabreden. Die, die unbedingt raus müssen, wenn die Sonne scheint.
Ich lese täglich die Zeitungen und fühle mich noch einsamer. Kein Wort von meinem Lebensstil in dieser Krise, weil ich keiner der Muster-Familien- oder -Beziehungsformen lebe. Die Frage nach dem Zusammensein ist für mich komplizierter als die, die sich etliche separat lebende Paare einfach mal gestellt haben: „Hey, ziehen wir in der Coronazeit zu dir oder zu mir?“
Kein Wort von meinen Ängsten, solange man mich nicht in die bis jetzt bekannten Risiko-Gruppen schubladisieren kann. Dass ich auch Angst habe, dass ich nur wegen der Arbeit oder zum Einkaufen die Wohnung verlasse, ist höchstens ein Lacher wert in einer Gesellschaft, wo die Arrrrbeit (mit gerolltem R) wichtiger ist als die Gesundheit der Arbeitenden. Und während die Illusion besteht, der Zugang zum Internet würde in der Pandemie für alle gleich gut sein, und während der Video-Konferenzen das Bücherregal im Hintergrund gut ausgeleuchtet, verhallt meine ständige Bitte, die Kamera auszuschalten, damit die Bildübertragung nicht meine begrenzte Datenmenge frisst. Das geringe Datenvolumen in meiner Wohnung brauche ich für die Arbeit im Home-Office, keine Chance für einen Video-Call mit meiner Mutter im Iran, geschweige denn für die hippen Podcasts, YouTube-Filme, visuellen Ausstellungen und digitalen Theaterinszenierungen. Es herrscht Funkstille hier in meiner winzigen Einzimmerwohnung, die im Laufe meines Tag für Tag minimalistischer gewordenen Lebens in Berlin nun zu meinem Lieblingsort wurde. So bleibe ich auch in der Pandemie gern daheim, nicht weil ich einen kleinen Garten oder Balkon habe, nicht weil ich zumindest eine schöne Aussicht oder einen hellen Raum habe, das alles habe ich nicht – es ist ein typisches dunkles Berliner Zimmer halt. Aber nichts reizt mich in dieser Stadt, mich nach der sogenannten Normalität zu sehnen, zu der ich sowieso nie gehörte.
Über die Kolumne:
Berlin ist eine Arche. Menschen aus den verschiedensten Ländern sind in die Stadt gekommen, auf der Flucht vor unerträglichen Verhältnissen, homophoben Kleinstädten, Krieg und politischer Verfolgung oder weil sie hier einfach nur leben oder studieren wollen bzw. Arbeit gefunden haben. Berliner:innen sind so vielfältig wie ihre Herkünfte. So entstanden und entstehen in der Stadt die verschiedensten Communitys, manche abgeschottet, andere offen. Durch die Coronakrise kommt uns derzeit das laute, Tag und Nacht lebendige Berlin wie ein Ort aus ferner Zeit vor.
In der Kolumne, die in den nächsten Wochen immer donnerstags auf boell.de veröffentlicht wird, erzählen Frauen über ihr Berlin und wie sich ihr Verhältnis während des Lockdowns und der Zeit danach zur Stadt und speziell zu ihren Lieblingsorten verändert. Die Schriftstellerin Annett Gröschner kuratiert gemeinsam mit Annette Maennel die Reihe.