Im April 2021 wählen die Chileninnen und Chilenen einen Verfassungskonvent. Die 155 Mitglieder – die Hälfte davon Frauen – sollen innerhalb eines Jahres eine neue Verfassung erarbeiten. Das ist ein weltweites Novum. Wir sprachen darüber mit der chilenischen Feministin Gloria Maira.
Nach so vielen Jahren des Einsatzes für eine neue Verfassung – wie haben Sie sich gefühlt, als am 25. Oktober 2020 die Ergebnisse des Plebiszits bekannt wurden und klar war: Chile bekommt eine neue Verfassung?
Ich war schon im Vorhinein überzeugt, dass wir gewinnen würden. Aber nie hätte ich mit einer so großen Zustimmung von 80 Prozent gerechnet. Es war sehr wichtig, dass wir diese Bandbreite erreicht haben, vor allem die Beteiligung der Jugendlichen macht Hoffnung.
Chile bekommt nicht nur eine neue Verfassung: Es wird auch das erste Land der Welt sein, dessen verfassungsgebendes Gremium zur Hälfte aus Frauen besteht. Wie war das möglich?
Nach der Revolte im Oktober 2019 war klar, dass es das Volk nach 30 Jahren endlich geschafft hatte, den Weg für eine neue Verfassung zu öffnen. Es gab kein Zurück mehr, das musste auch die politische Klasse akzeptieren. Die Parteien haben daraufhin ein Abkommen über den verfassungsgebenden Prozess geschlossen, das in Bezug auf Repräsentation und Partizipation nicht sehr demokratisch ist. Von da an bestand der große Kampf darin, die Grenzen des Abkommens zu erweitern. Die Parität war die erste große Errungenschaft und das Ergebnis einer gemeinsamen Forderung von Feministinnen aus allen Bereichen.
Eine gemeinsame Forderung? Mehr braucht es nicht, um Geschichte zu schreiben?
Der Druck war immens. Sowohl von den weiblichen Abgeordneten der Parteien, als auch von Seiten der feministischen Organisationen. Ich würde sogar sagen, von den Frauen insgesamt. Und schließlich gab es kein schlüssiges Argument gegen unsere Forderung. Warum sollte man uns die Parität verweigern? Und natürlich haben viele von uns den legislativen Prozess eng begleitet und Druck gemacht. Als nächstes geht es um die Beteiligung unabhängiger Kandidat/innen und die Repräsentation der indigenen Völker, der afrochilenischen Bevölkerung und der sozialen Bewegungen. Das ist noch nicht geklärt. Wenn der bisherige Prozess eines gezeigt hat, dann, dass jeder kleine Schritt ein gewaltiger Kampf ist. Man muss stetig Druck ausüben und in den Debatten präsent sein, damit die im Parlament vertretenen Sektoren sich darauf einigen, die Grenzen des Verfassungskonvents zu erweitern. Vor allem die konservative Rechte, die kein Interesse an einer neuen Verfassung hat, die die Grundlagen für eine gerechtere Gesellschaft legen könnte.
Der Kampf ist nicht vorbei, aber immerhin: Der erste Verfassungskonvent der Welt, der zur Hälfte aus Frauen besteht! Das ist doch für sich genommen schon ein historischer Sieg, oder?
Auf jeden Fall! Es ist von gleicher Bedeutung wie die Einführung des Frauenwahlrechts.
Und ich nehme an, damit ist es nicht getan…
Exakt. Von der Parität zum Feminismus, wie wir sagen. Das heißt, jetzt daran zu arbeiten, dass es innerhalb der Parität eine große feministische Repräsentation gibt, also viele Frauen mit feministischen Überzeugungen, die sich im Verfassungskonvent für die Rechte von Frauen einsetzen.
Damit Chile eine feministische Verfassung bekommt?
Hoffentlich. Leider erschrecken immer noch viele Menschen, wenn man von einer feministischen Verfassung spricht – als würden wir alle Männer nehmen und auf den Mars schießen wollen!
Was heißt feministische Verfassung für Sie?
Eine feministische Verfassung ist eine Verfassung, die den Weg zur einer substanziellen Gleichheit beschreitet und die formale Gleichheit überwindet. Schon jetzt steht in allen Verfassungen, dass Männer und Frauen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Aber diese formale Gleichheit hat keine Substanz, sie nimmt im alltäglichen Leben keine Gestalt an, etwa wenn es darum geht, das Lohngefälle auszugleichen, politische Partizipation zu ermöglichen, oder Probleme im Bereich der Sorgearbeit zu lösen.
Wie kann das gelingen?
Das hat mit den Rechten, Garantien und Freiheiten in der Verfassung zu tun, aber auch mit dem institutionellen Rahmen, der sicherstellt, dass diese Erklärungen durch das Sekundärrecht und die Politik umgesetzt werden. Es geht um Gesetze und Institutionen, aber auch um unsere Vorstellungen von Staat, Wirtschaft und Entwicklung. Wir müssen über ein System nachdenken, das nicht die Produktion von Reichtum in den Mittelpunkt des staatlichen und wirtschaftlichen Interesses stellt, sondern das Leben, die Fürsorge und das Wohlergehen von Menschen, Gemeinschaften und Völkern – eine kopernikanische Wende.
Das klingt erstmal nicht nach speziell feministischen Forderungen…
Ich glaube, dass wir von einer feministischen Verfassung sprechen, weil es im Feminismus einen Diskurs und eine Praxis transformativen Handelns gibt, die einen Beitrag leisten können bei der Erarbeitung neuer Grundlagen des Zusammenlebens. Eine feministische Verfassung greift diesen Beitrag auf, um das Fundament für ein besseres Land zu legen. Wir können nicht weiterhin so unglücklich sein.
Die Rechte von Frauen sind dafür fundamental wichtig. Wo muss die zukünftige Verfassung ansetzen, um die Situation der Frauen in Chile zu verbessern?
Ein Thema sind die sexuellen und reproduktiven Rechte: gewünschte Mutterschaft, das Recht auf Abtreibung, etc.. Die aktuelle Verfassung kennt dieses Thema nicht. Das führt dazu, dass dieser riesige Bereich im Leben der Frauen kein Gegenstand von garantierten Rechten ist, und dabei geht es nicht nur um Abtreibung. Der andere große Bereich hat mit der Anerkennung von Fürsorge- und Reproduktionsarbeit als Arbeit zu tun. Aber nicht nur im Sinne von "Ja, ja, es ist Arbeit", sondern auch im Sinne der Bewertung ihres Beitrags zur Wirtschaft, zur Produktion und zur Wertschöpfung im Land. Das muss sich auch in Form einer monetären Anerkennung konkretisieren.
Es geht also um Sexualität, Reproduktion, Arbeit…
… und Gewalt! Wie im Rest Lateinamerikas ist Gewalt gegen Frauen nach wie vor an der Tagesordnung, sie begleitet uns Frauen ein Leben lang. Die aktuelle Verfassung nimmt dazu keine Position ein. Das Recht auf ein gewaltfreies Leben und die Beseitigung von Gewalt müssen stark in der neuen Verfassung verankert werden.
Die Umsetzung dieser Forderungen wird stark von den 78 Frauen abhängen, die im April in den Verfassungskonvent gewählt werden…
Und von den Allianzen, die wir eingehen. Denn es ist nicht ausgemacht, dass diese 78 Frauen Feministinnen sein werden. Auch die Rechten bringen sich in Stellung. Deshalb ist er sehr wichtig, nicht nur im Hinblick auf die feministische Vision und die Themen, die wir als Feministinnen für grundlegend halten, einzutreten, sondern für die sozialen Bewegungen und die Bevölkerung im Allgemeinen. Zum Beispiel im Umweltbereich: Wir müssen erreichen, dass das Wasser nicht länger Privateigentum ist, sondern es ein Zugangsrecht für alle gibt. Dafür müssen Feministinnen, Umweltorganisationen und Gewerkschaften zusammenarbeiten.
Die feministische Bewegung in Chile ist stark. Zum 8. März waren zuletzt 2 Millionen auf der Straße. Was könnte einer feministischen Verfassung noch im Wege stehen?
Wir Feministinnen müssen politische Vereinbarungen treffen – inhaltlich und auch in Bezug auf die Art und Weise, wie wir die feministische Kandidatur für den Konvent stärken. Die Feministische Versammlung arbeitet daran, genau wie die Parteien. Aber ich habe das Gefühl, dass wir miteinander kollidieren. Es gab bisher wenig politisches Design und wenig Visionen, wie man den Moment strategisch managen kann. Und schließlich ist da noch die konservative Rechte. In der Gesellschaft ist das eine Minderheit – das hat das Plebiszit gezeigt – aber diese Menschen kennen sich mit politischer Macht aus, und auch mit den schlechten Gewohnheiten in der Politik. Sie haben kein Problem damit, Terrorkampagnen zu führen und zu lügen. Und ich bin sicher, sie werden bis zum Letzten kämpfen, um ihre Privilegien und konservative Weltanschauung zu verteidigen. Damit unsere Forderungen tatsächlich Eingang in die Verfassung finden, müssen wir den Druck aufrechterhalten und den Konvent eng begleiten. Mit der Wahl ist es nicht getan. Das Volk ist der Souverän, das muss im ganzen verfassungsgebenden Prozess von Anfang bis Ende zum Ausdruck kommen.
Dieser Artikel ist Teil des Dossiers Geschlechterdemokratie in Lateinamerika