Yosra Frawes blickt in ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des Anne-Klein-Frauenpreises 2022 auf die Geschichte des Ringens um Sichtbarkeit und Gleichberechtigung. In Tunesien und anderswo.
Dieses verdammte Corona! Nur deswegen können wir nicht alle dabei sein. –
Meine Damen und Herren, liebe Anwesende! Liebe Barbara, Franziska, Heike, Hasna – alle, die ich hier treffen durfte und mit denen ich das Gefühl hatte, dass wir hier in der HeinrichBöll-Stiftung in einer Welt der Frauen sind. Danke euch! Danke, dass ihr da seid, und danke, dass ich bei euch sein darf.
Ich wollte Ihnen allen zu Beginn eine Botschaft von meinem Onkel Hedi überbringen. Er hat mir aufgetragen, dass ich mich bei Ihnen dafür bedanke, dass ich den Anne-Klein-Frauenpreis 2022 bekomme. Er trug mir auf: „Sag ihnen bitte, dass ich stolz auf dich bin, und bleibe bitte so wagemutig, wie du immer warst, und mach weiter, was du machst!“
Es hat den Anne-Klein-Frauenpreis gebraucht, dass mein Onkel mir so etwas Nettes sagt. Seht Ihr, Barbara, Franziska und alle anderen aus der Jury, Heike und alle, die aus Tunesien mitgekommen sind und die uns jetzt in Tunesien zuhören: Seht, was Ihr bewirkt habt, was Hedi, mein Onkel, zu mir gesagt hat! Als ich mich gefragt habe, wie die Männer in meinem Umfeld reagieren würden, habe ich mich an vieles erinnert. Ich habe mich an die Diktatur erinnert, an früher. – Ich erzähle gerne Geschichten, deswegen kann ich Sie auch heute nicht davon verschonen.
Wie alles begann
Es gab in Tunis einmal eine Gruppe von Studenten und Studentinnen, die einen Hungerstreik an der Universität gemacht haben, unter ihnen Rajaa Chamikh, die daraufhin aus Tunesien flüchten musste wegen der Unterdrückungspolitik. Als ich von diesem Hungerstreik gehört hatte – eine Schwester hat mich davon unterrichtet – habe ich Blumen gekauft, ein paar Flaschen Wasser und habe meinen Regenschirm mitgenommen, weil es geregnet hat, um die Hungerstreikenden zu besuchen.
Ich habe erst einmal Polizisten gesehen an der Universität. Natürlich haben die dort ‚good cop - bad cop‘ gespielt. Der eine sagte: „Wir verstehen, was Sie möchten. Ich verstehe Ihr Anliegen.“ – Er wollte mich reinlassen, aber der andere hat mich beschimpft und geschlagen und getreten. Er warf meine Blumen weg, das Wasser, selbst meinen Regenschirm haben sie mir weggenommen. Dann war ich plötzlich ganz weit weg von dem Hungerstreik. Aber ein Wort habe ich sehr gut gehört. Einer der Polizisten sagte zu mir: „Hau ab, du N-U-T-T-E!“ Ich traue mich gar nicht, das Wort ganz auszusprechen, sonst wird das auf Facebook gleich geblockt.
Ein paar Jahre später war ich Anwältin, hatte eine schwarze Robe an und dachte: Jetzt habe ich das Gesetz in der Hand, obwohl mir Bouchra Belhaj Hmeda vorher schon gesagt hatte, dass es anders kommen würde. Ich vertrat damals eine junge Frau im Auftrag der ATFD (Association Tunisienne des Femmes Démocrates). Ihr Mann war auch vor Gericht. Er sagte zu mir: „Frau Anwältin, Sie wissen nicht…“ (Weil ich eine Frau bin, deswegen verstehe ich das nicht.) „Aber ich muss Ihnen sagen: Meine Frau hat eine psychische Störung und eine nervöse Krankheit.“ – Ich sagte: „Schön, dass Sie mir das sagen. Dann habe ich jetzt verstanden. Sie ist also nervös und psychisch krank wegen der Gewalt, die Sie ihr angetan haben. Ich werde einen Spezialisten beauftragen vom Gericht, der bestätigt, dass Sie schuld daran sind.“ – Er trat einige Schritte zurück und sagte dann: „Jetzt habe ich verstanden! Sie sind eine N-U-T-T-E, so wie meine Frau auch!“
Schmähungen und Anfeindungen auf dem Weg
2011, als wir begeistert unsere Revolution gemacht haben: Die Welt stand Kopf. Mit der ATFD haben wir mit Partnern und Partnerinnen aus der Zivilgesellschaft eine Demonstration organisiert, und zwar unter der Parole: „Feminismus, um Gleichberechtigung zu erreichen“. Wir dachten: Die Opfer, die wir Frauen gebracht haben, werden ja wohl nicht vergessen werden. Die Frauen haben seit der Unabhängigkeit siebzig Jahre lang genug gelitten. Wir waren mit Luftballons unterwegs. Wir waren fröhlich. Plötzlich war da eine Gruppe von bärtigen Männern mit Stöcken und sie schrien: „Geht zurück in die Küche! Jetzt gibt es keine Diktatur mehr. Jetzt können wir vier Frauen heiraten!“ – Für die war das das Ziel der Revolution, dass sie jetzt vier Frauen heiraten können. Und auch die hatten das genannte Zauberwort. Aber es blieb auch dabei nicht.
Vor einiger Zeit war ich im Fernsehen zu Gast, zum Menschenrechtstag, am 10. Dezember. Ich habe die Frauen dazu aufgerufen, keinen Geschlechtsverkehr mehr anzubieten und keine Kinder mehr zu bekommen. Warum sollen wir Kinder kriegen, wenn wir wissen, dass diese Mädchen Gewalt erleben werden?! Dann habe ich nachts die Kommentare zur Sendung auf Facebook gelesen. Da habe ich erfahren, dass ich eine Lesbe sei, eine Geschiedene, eine alte Jungfer, die Frau eines Weichlings. Ich bräuchte einen Mann, der mit mir schläft, aber zugleich sei ich ein Mann-Weib und sollte vergewaltigt werden. Natürlich stand da auch dieses Wort, das ich nicht noch einmal ausbuchstabieren möchte. So etwas bekommt man zu hören und zu lesen, wenn man für Frauenrechte kämpft. Aber letztlich sind das wenige.
Wir sind Teil eines langen Kampfes. Barbara sagte es schon. Ich denke an die Ukrainerinnen, die auch heute wieder Sirenen hören, die ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken können. 34 palästinensische Frauen sitzen in israelischen Gefängnissen ein, zum Teil minderjährig, und sie sind zweifach kolonisiert: Ihr Land und ihr Körper. In diesem Moment, während Sie mir diesen Preis verleihen mit diesen freundlichen und ermunternden Worten, gibt es Polinnen, die nicht abtreiben dürfen. Ruhm und Ehre den chilenischen Frauen, die sagen: „Es ist nicht mein Fehler. Es liegt nicht an meiner Kleidung. Der Vergewaltiger bist du. Die Polizei. Der Richter. Der Staat.“
Wir alle sind also Magierinnen
Genau deswegen haben sie Angst vor den Frauen: Erstens, weil sie die Abkömmlinge von großen Frauen sind, die ein Teil einer unsichtbaren Geschichte sind. Ich bin eine Nachfahrin von Simone de Beauvoir, von Anne Klein und von Dahia, unserer alten tunesischen Königin, die die Berberstämme 693 vereint hat. Sie hat sich den Römern und den arabischen Kolonisatoren entgegengestellt, die im Namen des Islam kamen unter Hassan bin Nu‘man, der Nordafrika wieder verlassen musste. Aber was sagen die Geschichtsbücher über Dahia? Zitat Ibn Chaldūn, der alte arabische Historiker: „Sie war eine Heidin, die Holzgötzen anbetete, die sie auf einem Kamel trug und einräucherte und vor jeder Schlacht umtanzte.“ Als Magierin wird diese große Frau dargestellt. Wir alle sind also Magierinnen.
Es gibt noch viele andere Frauen, nicht nur Dahia. Wir sind Glieder einer langen Kette in der Geschichte. Kraft unserer Ideen, mit denen wir uns allen diesen Systemen entgegenstellen, haben sie Angst vor uns.
Drei Jahrzehnte lang hat Tunesien viele Veränderungen erlebt. Das war ungefähr die Zeit, in der Tunesien nach und nach islamisiert wurde. Es begann schon unter Ben Ali, obwohl der behauptete, er sei gegen die Islamisten. Dann wurde uns die Revolution gestohlen. Die Islamisten kamen an die Macht. Seit dem 25. Juli letzten Jahres haben wir einen Präsidenten, der auch wieder eine islamistische populistische Rhetorik anschlägt. Er versucht, alles auszulöschen, alle, die sich für Frauenrechte einsetzen, die Frauen und die Parteien. Aber haben wir kapituliert? Haben wir nicht immer Widerstand geleistet? Zehn Jahre lang? Haben wir uns nicht auf die Straße gestellt? Haben wir nicht unsere Universitäten verteidigt, unsere Schulen, die öffentlichen Verkehrsmittel mit unseren Körpern? Haben wir nicht mit ihnen diskutiert, mit diesen Islamisten? Sie haben immer davon geträumt, die Scharia einzuführen, davon, dass Tunesien sich vom CEDAW-Abkommen zurückzieht. Dann wollten sie das Wort ‚Gleichberechtigung‘ ersetzen durch ‚gegenseitige Ergänzung der Geschlechter‘. Sie mussten nach langen Verhandlungen schlucken, dass es ein Gesetz gegen Gewalt gibt und unter Sebsi ein neues Gesetz eingeführt wurde, nach dem muslimische Frauen endlich Nicht-Muslime oder Ausländer heiraten durften.
Tunesien ist in einer sehr schwierigen Lage
Wir haben in vielem versagt. Wir haben vieles nicht geschafft. Wir haben die grundsätzliche Frage nicht beantwortet, welche ökonomischen Alternativen wir unseren jungen Leuten anbieten können, die sich auf den Weg übers Meer machen und ertrinken oder in Europa wegen ihrer dunklen Haut abgelehnt werden. Wir alle sind verantwortlich. Wir alle haben diese Fragen nicht beantwortet: Wie können wir unsere Demokratie gegen die Mafia schützen? Wie können wir unsere Politik vor der Korruption schützen? Wie können wir unsere demokratische Kultur schützen? Das haben wir nicht geschafft. Es ist unser Recht, Fehler zu machen. Aber wir müssen diese Fragen beantworten. Wir müssen unsere Rechte, unsere Zivil- und Sozialrechte zurückbekommen und dafür kämpfen. Aber wir müssen unsere Errungenschaften auch erhalten. Niemand darf verhindern, dass wir die Wahrheit aus der Vergangenheit aufdecken. Solche Antworten bringen uns ein besseres Morgen. Das versuchen wir. Wir versuchen es, weil es ganz einfach Hoffnung gibt, weil es einen Rest von Hoffnung und Widerstand gibt, weil es junge Leute gibt, die Ben Ali gar nicht mehr richtig kennengelernt haben und die die Polizisten bei dem Hungerstreik damals nicht gesehen haben, wie sie Frauen eingeschüchtert haben. Die wachsen auf mit YouTube und Facebook und freier Presse und Parteien, die miteinander konkurrieren. Werden die aufgeben? Werden die ihre Meinungsfreiheit aufgeben? Ich glaube nicht.
Es gibt Frauen, zu denen viele gehören, die heute hier sind, aber auch viele andere, die sich daran gewöhnt haben, mit Feministinnen auf die Straße zu gehen gegen Gewalt. Sie sind stolz darauf, dass sie Gleichberechtigung im Erbrecht fordern und sehen darin überhaupt nichts Schlechtes. Wenn sich ihnen einer entgegenstellt und sagt: „Gott sagt aber dieses und jenes“, dann sagen wir: „Ich arbeite. Als Gott sein Wort herabgesandt hat, habe ich gearbeitet. Es berührt meine Menschlichkeit, wenn ich im Erbrecht benachteiligt werde.“ Sollen diese Frauen, die gegen Gewalt auf die Straße gehen, auch mit Queer-Personen, und die ‚Trans women are women too‘ auf ihre Plakate schreiben, sich ihr Recht nehmen lassen? Ich glaube nicht. Die Zivilgesellschaft, die uns unterstützt, hat viel erreicht. Auch die Gewerkschaften, die verschiedenen Vereine und Assoziationen, die ATFD, die Föderation für Menschenrechte usw. – alle diese Menschen tragen es in ihrem Herzen, , dass es wichtig ist, dass man Rechte einfordert. Ich glaube nicht, dass sie schweigen werden und dass wir ins Schweigen zurückfallen werden. Das haben wir seit 2011 nicht mehr getan. Das werden wir nicht tun.
Neben diesen jungen Leuten und Frauen, die viele sind, neben den Opfern von Gewalt und Diskriminierung, wirtschaftlicher Ausbeutung, den Opfern der Globalisierung, der Tyrannei, der Korruption werde ich für sie meinen bescheidenen Kampf fortführen. Auch für jede alleinerziehende Mutter, jede Prostituierte, jede Fabrikarbeiterin und jedes Mädchen, das zum Teil jeden Tag sieben Kilometer zur Schule laufen muss.
Der Anne-Klein-Frauenpreis ist auch ein Auftrag
Aber ich glaube, wie Hafidha Chkeir, Bouchra Belhaj Hamida, Ilham Marzouqi, Marwa Frawes und andere, die so viel getan haben mit anderen jungen Leuten, es gibt Hoffnung. Meine Tochter Yara stellt sich in der Schule immer mit meinem Nachnamen vor. Das ist ungewöhnlich. Alle sagen: „Warum heißt du wie deine Mutter? Du musst mit Nachnamen wie dein Vater heißen!“ Aber Yara und viele andere Mädchen haben mitbekommen, was wir diskutieren, worum es geht. Deswegen gibt es Hoffnung. An dieser Hoffnung können wir uns festhalten. So werden wir unseren Weg fortsetzen.
Mit diesem Preis, den Sie mir verleihen, werde ich das tun. Ich habe gut verstanden, welche Verantwortung das für mich bedeutet: dass ich weiter kämpfe wie Moufida Maysaoui und so viele andere Wegbegleiterinnen und Vorkämpferinnen in Tunesien. Es gibt freie Völker, die auf unserer Seite stehen. Ich verstehe, dass sie mich als ein Beispiel sehen, als ein Vorbild. Aber es gibt tausende solcher Vorbilder. Ich weiß, dass ich eine Verantwortung mit diesem Preis auf mich lade. Dass wir alle mit unseren Körpern und mit unserem Geist etwas tun müssen. Ich weiß, dass Deutschland auch unter Kriegen gelitten hat. Ich glaube nicht, dass Sie uns oder die Syrer oder die Palästinenser im Stich lassen angesichts dieser Raubtiere, die zusammen auf uns losgehen.
Ich habe diese Lektion verstanden. Ich glaube, dass dieser Preis ein Preis für alle Frauen ist und für alle, die trotz aller Schrecken und trotz aller Repression und der Gefängnisse, trotz Bashar al-Assad, vor dem alle Syrerinnen sich zu verneigen gezwungen werden, versuchen sich dagegen zu erheben.
Ich schulde Anerkennung, auch wenn ich ein Vorbild bin. Ich glaube, dass die Partnerinnen und Partner - ich nenne insbesondere Ayman, damit er nicht böse wird – weiter zusammenstehen werden gegen die Kraft der Mächtigen. Es wird keine weltliche und keine religiöse Macht geben, die uns aufhalten kann als Frauen und Männer und junge Leute – egal, wie unterschiedlich wir sind, mit unserer Musik, unserem Rhythmus, mit unseren Träumen. Keine Kraft kann gegen uns aufstehen, weil wir für die Freiheit kämpfen. Ich zitiere unseren berühmten Dichter Abu al-Qasim al-Shabbi: „Gemeinsam zum Licht! Dort, wo es schön und hell ist!“
Herzlichen Dank!
Übersetzung: Günther Orth
Transkript: Franziska Hirschmann
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de