Inspiriert durch den Erfolg der christlichen Rechten in den USA und den Aufstieg der globalen extremen Rechten, schließen sich ultrakonservative Christen in Europa zusammen und versuchen, Europa neu zu gestalten. Die Beiträge des Sammelbandes The Christian Right in Europe bieten neue Perspektiven auf die Protagonisten und die verflochtenen Netzwerke, die hinter den Kulissen an der Abschaffung der liberalen Demokratie in Europa arbeiten. Hier lesen Sie den ersten Teil der deutschen Übersetzung des einführenden Buchbeitrags Die Christliche Rechte in Europa: Eine Gesamtschau.
Wenige Wochen vor den ungarischen Parlamentswahlen 2018 betritt Pastor Sándor Németh, Leiter der 70.000 Mitglieder zählenden Pfingstgemeinde, für den Sonntagsgottesdienst die Bühne der größten Megachurch Europas in Budapest. Wie üblich, wird der Sonntagsgottesdienst über sein familiengeführtes Medienimperium im Fernsehen und im Internet an Zehntausende von Haushalten übertragen.
Auf die Frage aus seiner Gemeinde, ob er den rechtsextremen Politiker Viktor Orbán als einzig geeigneten Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten unterstütze, erwidert Nèmeth, was er in den letzten Monaten wiederholt gesagt hat: Die Opposition zu wählen, würde bedeuten, „10.000 Moslems pro Jahr ins Land zu lassen”. Weiter behauptet er, dass nur Orbán Ungarn vor gleichgeschlechtlichen Ehen und einer Geschlechterideologie schützen könne. Zudem fürchtet er, dass sich „das ungarische Christentum nie wieder erholen würde”, wenn man Islamisierung und Kulturmarxismus in Ungarn zuließe (Adam 2018).
Ein Jahr später und ein paar tausend Kilometer weiter südlich ist der Platz vor dem Mailänder Dom mit Menschen gefüllt, als Matteo Salvini, stellvertretender italienischer Ministerpräsident und Chef der rechtspopulistischen Lega, den Wahlkampf seiner Partei für das Europäische Parlament beschließt. Zuvor hatte er Äußerungen von Papst Franziskus zur Aufnahme von Geflüchteten kritisiert und sich dabei auf einige der Schutzheiligen Europas berufen: „Ich persönlich vertraue Italien, mein Leben und das Eure Mariä und ihrem Unbefleckten Herzen an; sie wird uns gewiss zum Sieg führen", verkündete er und zog dabei einen heiligen Rosenkranz aus seiner Brusttasche - unter dem tosenden Beifall seiner Anhänger*innen, die italienische Fahnen schwenkten (Vista Agenzia 2019). 2022, zwei Jahre später, wird Giorgia Meloni, Salvinis Konkurrentin und Verbündete, schließlich die erste italienische Ministerpräsidentin mit einer neofaschistischen Vergangenheit. Während ihres Wahlkampfes betont sie die Bedeutung von „Gott, Heimat und Familie” - eine moderne Neuinterpretation von „Gott und Heimat", dem faschistischen Leitspruch, den Benito Mussolini zuvor verwendet hatte (Evolvi 2023).
Im selben Jahr hält Patriarch Kirill, Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche mit ihren rund 100 Millionen Gläubigen, seine wöchentliche Sonntagspredigt, die aufgrund ihrer homophoben und antiwestlichen Rhetorik abermals weltweit für Schlagzeilen sorgt. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine begründet der Patriarch den Krieg zunehmend theologisch und befördert die Idee des Heiligen Russlands (Russkij Mir) als letzte Bastion des Christentums gegen die vermeintliche moralische Korruption des Westens. In seiner Predigt geht er auf die kurz vorher gemachte Ankündigung seines langjährigen Verbündeten, Wladimir Putin, ein, Reservekräfte zu mobilisieren, um die russische Invasion in der Ukraine zu unterstützen. Dazu erklärt er: „Die Kirche erkennt, dass, wenn jemand – getrieben von dem Pflichtgefühl und Bedürfnis, seinen Eid zu erfüllen – seiner Berufung treu bleibt und bei der Erfüllung des Wehrdienstes sein Leben lässt... dieses Opfer sämtliche Sünden, die diese Person begangen hat, abwäscht " (Radio Free Europe 2022).
Auch wenn sich diese Ereignisse Tausende von Kilometern voneinander entfernt abgespielt haben, ist klar, dass es sich weder um Einzelfälle noch um bloße Zufälle handelt. Sie zeugen von einer Entwicklung, die weltweit an Bedeutung zunimmt. Diese Entwicklung ist weder auf Europa beschränkt, noch ist sie nur innerhalb des Christentums zu finden; man findet sie auch als christlichen Nationalismus in den USA und Brasilien, als Hindu-Nationalismus in Indien und als religiösen Zionismus in Israel. Diese Begebenheiten sind Symptome subtiler, aber folgenschwerer Veränderungen, die die aktuelle europäische Politik tiefgreifend prägen. Sie offenbaren zwei große, kollidierende Phänomene, die zu einer gefährlichen und weitreichenden Verquickung führen: Einerseits die Politisierung von Religion, die oft von religiösen Akteur*innen, Oberhäuptern und Institutionen vorangetrieben wird, und andererseits die Sakralisierung der Politik, die von rechtsextremen Parteien und Akteur*innen befördert wird (Van der Tol und Gorski 2022). Anzeichen für diese sich verändernde Dynamik lassen sich auf dem gesamten Kontinent in den letzten 20 Jahren in verschiedenen Stadien und Formen finden – von Portugal bis Rumänien und vom Vereinigten Königreich bis Griechenland. Die Verfechter*innen dieser Entwicklung haben die Absicht, sowohl die liberale Demokratie als auch die Rolle der traditionellen religiösen Autoritäten zum Kentern zu bringen. Sie tun dies, indem sie die etablierten Beziehungen und Normen zwischen Politik und Religion in Europa in Frage stellen.
Untersucht man diese Dynamiken jedoch lediglich innerhalb ihrer jeweiligen nationalen Grenzen, kratzt man an der Oberfläche. Die Ursprünge, Strategien und Einflussmöglichkeiten dieser Narrative und Akteur*innen sind nicht auf die Machtkorridore einer bestimmten Hauptstadt beschränkt; vielmehr überschreiten sie Grenzen, Ideologien und Konfessionen sowie institutionelle Barrieren, auch wenn sich die überwältigende Mehrheit der christlichen Kirchen in Europa nach wie vor klar zur liberalen Demokratie bekennt. Eine genauere Betrachtung bringt hoch komplexe Netzwerke zutage - in Europa und darüber hinaus - zwischen Denkfabriken, Nichtregierungsorganisationen, Öl- und Gasunternehmen, dubiosen Kapitalgeber*innen, staatlich finanzierten Wohlfahrtseinrichtungen und -vereinen, extremistischen Parteien und Gruppierungen, Kirchenoberhäuptern und anderen Initiativen. Diese Netzwerke haben sich im Geheimen miteinander verbunden, operieren abseits der Öffentlichkeit und bilden gewaltige und ehrgeizige Lobbygruppen. So sind beispielsweise viele der vorbenannten Akteur*innen auf die eine oder andere Art mit dem World Congress of Families verbunden, einer mächtigen Organisation mit Sitz in den USA, die sich durch intensive Netzwerkarbeit auf globaler Ebene einen Namen gemacht hat und die in den länderspezifischen Fallstudien im vorliegenden Sammelband näher unter die Lupe genommen wird.
Diese vielschichtigen Entwicklungen belegen einen globalen Austausch von Ideen, Trends und Strategien im Rahmen einer Transformation, die generell eher mit dem US-amerikanischen Kontext in Verbindung gebracht wird. Obgleich sie mit den USA die meisten Gemeinsamkeiten aufweist, funktioniert diese Transformation ebenso nach eigenen Mustern und führte zur Entstehung einer christlichen Rechten in Europa.
Dies war zunächst nur der erste Abschnitt der Übersetzung des Einführungsbeitrags in The Christian Right in Europe. Die Übersetzung der gesamten Einführung des Buches, finden Sie hier zum Download.