Archived | Content is no longer being updated

Feminismus im Ausnahmezustand

Lesedauer: 5 Minuten
Street Art in Istanbul
Teaser Bild Untertitel
Street Art in Istanbul

Das Buch Feminismus im Ausnahmezustand besteht aus einem langen und ausführlichen Interview, das Ceren Belge in den Jahren 2006, 2007, 2010 und 2011 mit Nebahat Akkoç führte. Ceren Belge forscht im Fach Politische Wissenschaften über Gender Studies, Recht und Politik sowie Minderheiten und Identität an der Concordia Universität. Dieses Buch und das lange Interview zeigen, wie sich die Lebensgeschichte der Lehrerin Nebahat Akkoç, der Gründerin der Frauenrechtsorganisation KAMER, bereits von Anfang an in eine Geschichte des Widerstandes entwickelte. Eine Rezension.

Nebahat Akkoç ist Tochter eine Familie aus Diyarbakır. Lange Jahre war sie in Diyarbakır und den umliegenden Dörfern als Lehrerin tätig. Gerade als sie 1993 Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft Eğitim-Sen in Diyarbakır war, wurde ihr Ehemann Zübeyir Akkoç, ebenfalls Lehrer von Beruf, erschossen. Daraufhin ging Nebahat Akkoç in Pension. Auch wenn es den Eindruck macht, als nähme die Geschichte mit diesem Verbrechen ihren Anfang, war es nicht so. Angesichts der Herkunft ihrer Familie, angesichts eines Lebens im Ausnahmezustand in Diyarbakır nach dem Militärputsch und in den 90er Jahren war ihr Lebensweg nahezu unausweichlich. Nebahat Akkoç musste Stellung beziehen und Widerstand leisten. Ihr Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ging als „Akkoç-Verfahren“ in die Geschichte ein. Da sie eine der ersten aus der Türkei war, die sich an den EGMR wandte, war sie während des Verfahrens verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt. Doch das ist nur eine Seite ihres Widerstandes. Denn sie leistete Widerstand vor und nach dem Urteilsspruch im Jahr 2000, in dem das Gericht feststellte, dass der Tod von Zübeyir Akkoç auf die Fahrlässigkeit des Staates zurückzuführen sei.

Wurzeln, 'Normal'itäten, Lebenswege

Die Wurzeln des Vaters von Nebahat Akkoç verlieren sich 1915, die ihrer Mutter 1938. Sie wurden vertrieben, allein gelassen, von ihren Familien und Heimatorten weggerissen - zwei entwurzelte Menschen. Nebahat Akkoç ist die kurdische Tochter einer armenisch-alevitischen Familie. Auch wenn sie in jungen Jahren dieses 'Anderssein' gefühlt haben mag, sie konnte ihm keinen Sinn geben. Sie wusste aber, dass sie nicht 'normal' nicht 'wie die Anderen' war.

Vielleicht hat sie als Kind das empfunden, was ihre Tochter empfand. Ceren Belge hat in ihrem Buch Feminismus im Ausnahmezustand auch die Tochter und den Sohn von Nebahat Akkoç interviewt. Aus diesen Zeilen wissen wir um die ähnlichen Gefühle ihrer Tochter: "Ich betrachtete die Familien meiner Freunde und Freundinnen und sagte mir, wie normal sie doch sind. Sie hatten eine fassbare Ordnung, sie folgten einem geregelten Ablauf. Bei mir war das nicht so. (...) Wie bei normalen Familien wünschte auch ich mir, jemand solle auf die Elternabende gehen, sich mit mir beschäftigen, mich umsorgen und stärken..."

Vielleicht aus diesem Grund - selbst das 'vielleicht' ist zu viel - sagen wir: Genau aus diesem Grund gibt Nebahat Akkoç, von deren Leben wir über die gesamten Seiten hinweg Zeuge werden, nie auf. Sie resigniert nie - obwohl ihr Leben von einer Härte gekennzeichnet ist, der viele Menschen nicht standhalten könnten. Sie sucht Zuflucht an dem einen Ort, den sie finden konnte, versucht dort Wurzeln zu schlagen und eine Geschichte der Zugehörigkeit zu entwickeln. Die Möglichkeit 'wie Andere' oder 'normal' zu sein, gibt es schon lange nicht mehr, aber wenigsten gibt es einen Platz, ein Daheim, ein Zuhause... Manchmal gehen die Kinder ans Telefon, aber die Anrufer achten nicht darauf und stoßen ihre Todesdrohungen aus. Manchmal wird sie unter Druck gesetzt, manchmal nur angemahnt, sie solle fortgehen - aber Nebahat Akkoç bleibt in Diyarbakır. Die Leserinnen und Leser werden es bemerken: Trotz aller Härte des Erlebten, trotz aller Grausamkeit in ihren Berichten und in ihrem Leben findet sich keine Spur einer Opferhaltung.

"Es gibt keine Frauenrechte"

1994 wird Nebahat Akkoç verhaftet, aufgrund ihrer Beschwerde beim EGMR und weil ihr Name als eine mögliche Kandidatin für die Demokratische Partei (DEP) genannt wurde. Nach der Folter, die sie in den zwölf Tagen ihrer Inhaftierung erlebte, begann sie vornehmlich über Gewalt an Frauen nachzudenken. "Als ich aus der Haft entlassen wurde und mich etwas erholt hatte, ging ich zum Menschenrechtsverein (IHD). Ich war zu dieser Zeit Mitglied des Vereinsvorstandes. (…) 'Ich werde nicht mehr im IHD mitarbeiten. Die Folter war für mich ein furchtbares Erlebnis. Ich möchte etwas für Frauen machen', sagte ich. Ich hatte am eigenen Leib erfahren, dass es in der Haft keine Menschenrechte gibt, aber für Frauen gab es überhaupt keine Rechte."

Die Jahre zwischen 1994 und 1997 vergingen mit Vorbereitungen für das Frauenzentrum KAMER, das schließlich 1997 von Nebahat Akkoç gegründet wurde. Ihr größtes Engagement in dieser Zeit galt dem Aufbau einer unabhängigen Frauenorganisation. "Weder die politischen Bewegungen noch der Staat glaubten an die Unabhängigkeit von KAMER." Nebahat Akkoç, die in dieser Zeit oft bedroht, von manchen Kreisen isoliert und sogar sabotiert wurde, hat aufgrund ihres Einsatzes für KAMER - die Organisation ist inzwischen in 23 Bezirken vertreten - viele Preise aus dem In- und Ausland erhalten. Sie hat das Leben vieler Frauen beeinflusst und das Überleben von Vielen ermöglicht, die im Namen der 'Ehre' ermordet werden sollten.

Feminismus im Ausnahmezustand basiert auf keinem Interview im klassischen Sinne. Ceren Belge unterbricht die Jahre füllenden Ausführungen von Nebahat Akkoç nur selten. Während sie ihre persönliche Lebensgeschichte erzählt, übermittelt sie die Geschichte der letzten 30 Jahre, ja sogar die Geschichte bis zurück zum Jahre 1915. Das Buch leistet einen wichtigen Beitrag zu dem Verständnis, wie sich die Geschichte eines Landes auf das Leben eines Individuums auswirkt. Feminismus im Ausnahmezustand berichtet nicht nur von den Schwierigkeiten einer Feministin unter den Ausnahmezustandsbedingungen. Es rückt das Lebensrecht der Frauen ins Licht, das unter außergewöhnlichen Umständen aus dem Blick gerät oder, noch schlimmer, geleugnet wird. Ein Buch, das sagt: "Feminismus [auch] unter diesen Umständen".

 

Diese Rezension wurde bereits auf Türkisch in der Buchbeilage der Zeitschrift Radikal veröffentlicht.

 

Feminismus im Ausnahmezustand (OHAL’DE FEMİNİZM)

Nebahat Akkoç Erzählt (Nebahat Akkoç Anlatıyor)

Ceren Belge

Ayizi Kitap

2012, 240 Seiten