"Die Freundschaft zur Welt nicht verlernen" – mit diesem Gedanken, in dem sich zugleich eine Hoffnung und eine Herausforderung verbirgt, beendete Christina Thürmer-Rohr unser Gespräch, in dem wir die Vor- und Nachteile des Begriffs der Feindschaft im politischen Denken gegeneinander abwogen. Sollten wir die Kategorie der Feindschaft wieder anwenden? Das war unsere Ausgangsfrage. Immerhin erleben wir dieser Tage weltweit eine Intensivierung hasserfüllter und demokratiefeindlicher Politiken. Auch in Deutschland steigt die Zustimmung zu sexistischen, rassistischen und homophoben Werten stetig, wie zuletzt die Leipziger Studie Enthemmte Mitte zeigen konnte (Decker/Kies/Brähler 2016), und es findet sogar eine Rückkehr völkischen Denkens statt, das wesentlich vom Freund-Feind-Gegensatz bestimmt ist. Christina Thürmer-Rohr fand am Ende jedoch, dass uns das Konzept der Täter- bzw. Mittäterschaft größere Denk- und Handlungsräume eröffnet – liege hier der Akzent doch auf den Taten und nicht auf einem wie auch immer verstandenen Sozialcharakter von Personen oder Gruppen. Der Feindschaft setzt sie die Freundschaft zur Welt entgegen. Und das, obwohl sie aus dem schrecklichen 20. Jahrhundert kommt, mit seinen "Vor- und Einübungen in die Gegenwart, die kaum eine menschliche Phantasie sich bis dahin auszudenken getraut hat" (Thürmer-Rohr 1987: 21), wie sie schon vor nunmehr dreißig Jahren im ersten Essay ihres sicher meist- und kontrovers diskutierten Buches Vagabundinnen (1987) schrieb. Trotz all der Grausamkeiten und Kollaborationen die Freundschaft zur Welt nicht zu verlernen, das sei nicht nur eine Herausforderung, sondern geradezu eine Provokation, – und auch deshalb schien ihr der Titel dieses Band zu gefallen.
Um zu verstehen, wohin wir wollen, müssen wir verstehen, woher wir kommen. Das Konzept der Mittäterschaft, erstmals 1983 in den beiträgen zur feministischen theorie und praxis publiziert und wenige Jahre später mit dem Essayband Vagabundinnen einer größeren feministischen Öffentlichkeit zugänglich geworden, schüttelte die unterschiedlichen feministischen Szenen der 1980er Jahre durch. Fast alle Autor*innen in diesem Band sprechen davon, wie sie davon affiziert, inspiriert, aber auch irritiert und zum kritischen Widerspruch angestachelt wurden. Bei Schwarzen Feminist*innen hatte die von weißen Frauen vielfach für sich reklamierte Unschuldsvermutung ohnehin zumindest Kopfschütteln hervorgerufen, doch bei vielen weißen Feminist*innen durchkreuzte das von Christina Thürmer-Rohr analysierte systematische Mittun der Frauen* an Patriarchat und Nationalsozialismus sicher geglaubte Schutzräume. Die Wut, Empörung und kreative Unruhe waren daher groß. Bis heute ist der Gedanke, dass Frauen* an patriarchaler Gewalt mitgetan haben und mittun, geeignet, Verstörung und Abwehr auszulösen. Das machte die Diskussion anlässlich der Premiere des Films von Gerd Conradt über Christina Thürmer-Rohr, anfangen (2014), in der Heinrich-Böll-Stiftung einmal mehr deutlich.
Christina Thürmer-Rohr war und ist nicht nur eine Feindin der gemütlichen Selbstversicherungen und Begriffsunschärfen; sie ist zeit ihres Lebens auch komponierende Musikerin und eine Pionierin hinsichtlich der Verbindung von Musik und Theorie. Gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin, der Schweizer Pianistin Laura Gallati, entwickelte sie noch während ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit als Professorin an der Technischen Universität Berlin einen Ort für "Übungen im politischen und musikalischen Denken", das Forum Akazie 3. Orientiert am Konzept des Dialogs als philosophischer Idee, als musikalischem Prinzip und als kritische Theorie und Praxis, werden hier seit bald zwanzig Jahren Verbindungen zwischen politischen, philosophischen und musikalischen Fragen gesucht, Probebohrungen in die gesellschaftliche Gegenwart vorgenommen, Theorie und Musik in einen immer wieder neuen und spannenden Dialog miteinander gebracht.
Uns, Sabine Hark und Ines Kappert, hat die Arbeit an diesem Band große Freude bereitet. Es war an- und aufregend, berührend und befremdend zugleich, sich erneut in Christina Thürmer-Rohrs Texte zu vertiefen und zu lesen, was feministische und andere Weggefährt*innen und Kritiker*innen an ihrem Denken damals bewegt hat und bis heute bewegt. Ein herzliches Dankeschön dafür an alle Autor*innen! Mit ihren Texten tragen sie dazu bei, zentrale Ideen und Begriffe feministischer Debatten ins Gedächtnis zu rufen, damit wir sie alle in Erinnerung behalten und so erneut ausloten können, warum und wozu feministisches Denken auch heute noch taugt.
Literatur
Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler Elmar (2016): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Gießen: Psychosozial Verlag.
Thürmer-Rohr, Christina (1987): Abscheu vor dem Paradies, in: Vagabundinnen. Feministische Essays, dies., Berlin: Orlanda Frauenverlag, 21-37.
Thürmer-Rohr, Christina (1987 [1983]): Aus der Täuschung in die Ent-Täuschung. Zur Mittäterschaft von Frauen, in: Vagabundinnen. Feministische Essays, dies., Berlin: Orlanda Frauenverlag, 38-56.Freundschaft wider die Feindschaft