Unermüdliche Suche im Begreifen und Verstehen der Welt, eine Weise, Theorien zu bilden und immer wieder zu fragen, neu zu bedenken und zu denken. Es ist das Gefühl, freundschaftlich willkommen zu sein: ein Raum voller Musik, ein Raum des zwecklosen Denkens, des Miteinander-Sprechens, ein Raum des Dialogs, ein Raum des nachdenklichen Schweigens, ein Raum des Fragens und des Zweifelns. Dessen Luft getränkt ist mit Freundlichkeit, mit Lachen. Immer die Sehnsucht so weit voraus – immer noch nicht Daheim und zu Haus.
Unser theoretischer Bezug zu Christina Thürmer-Rohrs Begriff der Freundschaft verknüpft sich mit der « Idee des Verbündet-Seins », der politischen Freundschaft, wo die Anliegen der Anderen die je eigenen Anliegen sind. Verbündet-Sein steht im Zentrum des Konzeptes « Social Justice und diskriminierungskritisches Diversity », das wir gemeinsam mit Heike Weinbach seit 2001 entwickelten. Dabei ist kein identitäres Wir, sind keine identitätslogischen Merkmale als Bedingung für ein Verbündet-Sein gegeben: weder in Bezug auf Einzelpersonen noch auf Gruppen hinsichtlich eines gemeinsamen Handelns. Verbündet-Sein als spezifische Form von Solidarität richtet sich gegen Macht- und Herrschaftsverhältnisse und die dadurch hergestellte Exklusion, die soziale Ungleichheit und die strukturelle Diskriminierung bestimmter Menschen aufgrund spezifischer Diversitätskategorien wie Geschlecht, Alter, zugewiesene « Behinderung », kulturelle Herkunft, soziale Herkunft etc. Es ist eine pluralgesellschaftliche und damit auch migrationsgesellschaftliche Perspektive, insofern nicht mein Ich und nicht meinesgleichen in der Unterscheidung zwischen dem « Subjekt der Handlung » und dem « Subjekt der Repräsentation » (Gürses 2004) in den Blick des Tuns und Handelns genommen werden, sondern die Anderen in ihrem jeweiligen Anderssein. Das Konzept des Verbündet-Seins basiert auf der Pluralität von Menschen, auf Momenten pluraler Logiken und rekurriert auf mögliche Gleichzeitigkeiten privilegierten und diskriminierten Daseins. Im Blick sind die Anderen, die strukturellen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Ihre Perspektiven und Entscheidungen stehen im Fokus und die Intention, eigene Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Verbündet-Sein ist keine moralisierend zu verallgemeinernde Anrufung eines bestimmten Tuns oder Handelns. Vielmehr steht die je eigene Entscheidung für verbündete (Sprech-)Handlungen im Zentrum (Czollek/Perko/Weinbach 2012; Czollek/Perko 2014, 2016).
Diese wenigen Zeilen der von uns entwickelten Idee des Verbündet-Seins verdeutlichen zweierlei: einerseits rekurriert es – neben Social-Justice-Theorien – auf Hannah Arendts Begriff der Freundschaft in Verbindung mit Pluralität [1]; andererseits zeugt es von gleichzeitigen Denkrichtungen gegen identitätslogische Wir-Gefüge zugunsten der Anderen, wie sie auch Christina Thürmer-Rohrs Denken auszeichnet. Dass dies auch den zahlreichen « Gesprächen in der Freundschaft » geschuldet ist, die wir mit Christina Thürmer-Rohr als Grande Dame der feministischen Theorien, der profunden Kennerin Arendtscher Werke und als kritischer Denkerin der Komplexität – nicht einordbar in eine Wissenschaftsdisziplin – geführt haben, ist Grund genug, ihrem Denken einmal mehr nachzugehen.
Freundschaft erfährt aktuell den Bezug zur Pluralität von Menschen in ihrem absoluten Verschiedensein, als Existenzbedingung und als Interesse an der gemeinsamen Welt: eine politische Freundschaft, bei der es Christina Thürmer-Rohr im Dialog immer um das Gewicht der Anderen zu tun ist, um die « prinzipielle Nicht-Assimilierbarkeit des Gegenübers » (Thürmer-Rohr 2002, 774). Werden Texte von Christina Thürmer-Rohr erinnert, so zieht sich ihr Denken um und über die politische Freundschaft durch. Bereits in ihren frühen Schriften wie Vagabundinnen (1987) oder in Verlorene Narrenfreiheit (1994) erscheint das Thema. Hier ein Beispiel: « Wäre Menschenliebe so etwas wie Erinnerung an unsere Existenz als Geschöpfe einer Schöpfung zusammen mit Mitgeschöpfen, Erinnerungen an die ‹im Plural geschaffenen› Menschen, dann wären die Verhältnisse untereinander nicht vom mitmenschlichen Appetit abhängig, nicht von einer Erotik des Habenwollens, sondern einer Erotik der Dankbarkeit. Sie wäre Anlaß zum Handeln (…) » (Thürmer-Rohr 1994, 88).
Wie mit der These der Mittäterschaft von Frauen bleibt Christina Thürmer-Rohr eine herausfordernde Theoretikerin zugunsten des Blickes auf die Anderen, in dem sie hier einen Begriff verwendet, der bei so manchen, wie sie selbst formuliert, Gereiztheit evoziert. Doch war es ihr um eine « nüchterne Dankbarkeit » zu tun, die bedeutet, « ständig neue Lebensläufe zu machen, um das eigene Dasein in Verbindung mit demjenigen der Anderen zu übernehmen » (ebd., 89).
Freundschaft bleibt bis heute eines der Themen, die Christina Thürmer-Rohr nicht einmal abhandelte und in Buchläden legte. So pointiert sie 2015 Freundschaft als einen « ins Politische transformierten Freundschaftsbegriff » (Thürmer-Rohr 2015, 316) wiederum in Verbindungen zu Pluralität, zu den Anderen « trotz oder wegen ihres Andersseins » (ebd., 316), dessen Grundlage auf dem gegenseitigen Interesse der Verschiedenen basiert. Hier wird ein politisches Konzept gegen das identitätslogische Wir (wie etwa Familie) in den Blick genommen, das die Dialektik von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, die Grenzen triadischer Dynamiken von Wir – Ihr – Sie und somit Prozesse des « Othering » aufzubrechen intendiert. Gegen die « Liebe zum mir eigenen, naht- und problemlos verlängerbar hin zum nationalen Wir » (ebd., 319), die dem Zugang zu Anderen diametral gegenüberstehen, beschreibt Christina Thürmer-Rohr ein Denken der Anderen im affirmativen Sinn: dabei können wir uns zwar nie gänzlich in die Anderen hineinversetzen, können aber doch hinter uns selbst zurücktreten. Verunsicherung, Ungewissheiten, Unbestimmtheiten sind die zu bejahende Kehrseite, die gegen das Reine, Vereinheitlichende und Absolute anspricht. Als Theoretikerin des Dialogs fordert sie das Denken des und im Dialogischen heraus, charakterisiert Freundschaft nicht bloß als eine unter zahlreichen Theoriegegenständen. Vielmehr lassen sich ihre Ausführungen lesen als Herausforderung des denkenden Tuns und handelnden Denkens – nicht zuletzt im Kontext gegenwärtiger Diskurse um Menschen, die als Andere im pejorativen Sinne gehandelt werden oder im Korsett der Integration ihr zukünftiges, wenn erlaubtes Dasein bestreiten sollen. Jene Herausforderungen zeigen sich in den Texten nicht als moralisierender Gestus. Vielmehr basiert die Freundschaft auf dem politischen Zusammenhang von Differenz und Freiheit und forciert die « Selbstermächtigung des Subjektes » (ebd., 317) im Sinne der eigenen Wahl und Entscheidung für Bündnisse und Aktivitäten. Dabei macht, wie Christina Thürmer-Rohr in einem früheren Text schreibt, « (…) die Freundschaft oder Anfreundung mit der Welt und die Sorge um die Welt über die Anfreundung mit verschiedenen Menschen (…) die Freiheit der Zustimmung zum Anderen deutlich » (Thürmer-Rohr 2003, 90).
… Dialog und Freundschaft als gelebter Beginn auf den Fugen von Bach. Musik – Sprechen – Spielen – Denken – Schreiben. Die Fähigkeit zur Freundschaft in Freiheit – nicht moralisierend, nicht verhöhnend, nicht bewertend, vielmehr im tiefsten Sinne: das Ernstnehmen der Anderen als Andere. Immer die Sehnsucht so weit voraus – immer noch nicht Daheim und zu Haus.
[1] Für Arendt, deren Werke immer im Kontext ihrer Totalitarismuskritik zu lesen sind, gilt das Faktum der Pluralität als Bedingung des Handelns, das sich ihr zufolge als Gleichheit und als absolute Verschiedenheit manifestiert. Pluralität versteht sie als Existenzbedingung im Sinne der absoluten Verschiedenheit jedes Menschen, d.h. das zwar alle Menschen sind, aber kein Mensch dem anderen gleicht. Arendt ist es um das Interesse am Anderen, um die Liebe zur Welt zu tun, das « (…) sich daran erweist, dass man bereit ist, die Welt mit ihnen zu teilen » (Arendt 1989, 41). Der Dialog und das dialogische Denken steht bei Arendt der Verfestigung einer Wahrheit entgegen, was die Auslöschung der Pluralität und darum des Politischen bedeutet.
Literatur
Arendt, Hannah (1989): Gedanken zu Lessing – Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. In: Menschen in finsteren Zeiten. München/Zürich: Piper.
Arendt, Hannah (2002): Vita Activa oder vom tätigen Leben. München/Zürich: Piper.
Czollek, Leah Carola/Perko, Gudrun/Weinbach, Heike (2012): Praxishandbuch Social Justice und Diversity. Theorien, Training, Methoden, Übungen. München/Weinheim: Beltz/Juventa.
Czollek, Leah Carola/Perko Gudrun (2014): Das Konzept des Verbündet-Seins im Social Justice als spezifische Form der Solidarität. In: Solidarität in der Migrationsgesellschaft. Befragung einer normativen Gruppe. Hrsg. von Anne Broden/Paul Mecheril. Bielefeld: transcript, 153-167.
Czollek, Leah Carola/Perko, Gudrun (2016): Verbündet-Sein im Konzept « Social Justice und diskriminierungskritisches Diversity ». In: Migration und Soziale Arbeit, Lehrbuchreihe « Grundwissen Soziale Arbeit ». Hrsg. von Ayça Polat. Heidelberg: Kohlhammer.
Gürses, Hakan (2004): Das « untote » Subjekt, die « ortlose » Kritik. In: Lust am Denken: Queeres jenseits kultureller Verortungen. Das Befragen von Queer-Theorien und queerer Praxis hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf andere Sphären als Sex und Gender. Hrsg. von Gudrun Perko/Leah Carola Czollek. Köln: PapyRossa, 140-159.
Thürmer-Rohr, Christina (1987): Vagabundinnen. Feministische Essays. Berlin: Orlanda.
Thürmer-Rohr, Christina (1994): Verlorene Narrenfreiheit. Essays. Berlin: Orlanda.
Thürmer-Rohr, Christina (2002): Die Stummheit der Gewalt und die Zerstörung des Dialoges. In: Utopie kreativ Nr.143. Berlin: Rosa Luxemburg Stiftung.
Thürmer-Rohr, Christina (2003): Herta Kuhrig und Christina Thürmer-Rohr im Gespräch. Ein Dialog über den Dialog zwischen dem Kommunistischen Manifest und dem Feminismus. In: Verständigung in finsteren Zeiten. Interkulturelle Dialoge statt « Clash of Civilizations ». Hrsg. von Leah Carola Czollek/ Gudrun Perko. Köln: Papy Rossa, 65-93.
Thürmer-Rohr, Christina (2009): Freundschaft und Freiheit. In: Raum der Freiheit - Reflexionen über Idee und Wirklichkeit (Festschrift für Antonia Grunenberg). Hrsg. von Waltraud Meints/ Michael Daxner/Gerhard Kraiker. Bielefeld: transcript, 33-55.
Thürmer-Rohr, Christina (2015): Kontroversen zur Kohabitation. « Denken von anderswo ». In: feministische studien 2_2015 (33. Jg.), 308-322.Meisterin der Freundschaft