Tina Thürmer-Rohr wurde 80, und das Gunda-Werner-Institut richtet ihr zusammen mit feministische studien ein Fest aus. Dem „Geburtstagsmuffel“, wie Thürmer-Rohr sich selbst bezeichnet. Aber dann ist sie doch sehr vergnügt mit dem, was Weggefährtinnen und Nachgeborene da aus ihren Texten zutage fördern.
Die Jubilarin schimpft, wedelt wütend mit den Armen und springt dann mit einem beherzten Satz von der Bühne. Immerhin so ungefähr 60 Zentimeter hinunter. Die Jubilarin ist 80. CTR80, so lautete der Hashtag dieser Feier auf Twitter – und der Kommentar Christina Thürmer-Rohrs dazu: „Na gut“.
Was hat diese rigorose Dame, ganz in Schwarz – bis auf die sprungtauglichen Turnschuhe, Typ Retro-Tennisschuh, nun so aufgebracht? Gerade hat sie mit ihrer Partnerin Laura Gallati ein furioses Konzert für zwei Flügel von Bach hinter sich gebracht – doch Gallati hatte ein Notenblatt verwechselt, kam raus und gar nicht wieder rein, bis Christina Thürmer-Rohr entnervt zu ihr hingeht und die Reihenfolge klarstellt. Dann ging es weiter, auch der Anschlag ist entschlossen bis zum Glenn Gould-artigen – aber den Fehler verzeiht sie im ersten Moment nur ungern.
Tina Thürmer-Rohr wurde 80, und das Gunda-Werner-Institut richtet ihr zusammen mit der Redaktion des Magazins „feministische studien“ ein Fest aus. Dem „Geburtstagsmuffel“, wie Thürmer-Rohr sich selbst bezeichnet. Aber dann ist sie doch sehr vergnügt mit dem, was Weggefährtinnen und Nachgeborene da aus ihren Texten zutage fördern. Sie haben sich je eine Textstelle gesucht, die für sie wichtig war und ist, und lesen nun vor. Und auch Moderatorin Claudia Neusüß erinnert sich daran, dass bei Thürmer-Rohr auch immer eine Poetin am Werk ist. Ihre Texte und ihre Urteile trafen und treffen – und riefen bei Claudia Neusüß, so ihre Worte, eine Gänsehaut von 1 cm 15 hervor.
Radikal in der Gegenwart bleiben
Was ist es nun, das die Gratulant*innen bis heute fasziniert? Erst einmal CTRs existenzialistisches Gegenprojekt zu jeglichen Großtheorien, Großlösungen und den daraus allzu oft folgenden Dualismen. Ihre unbequeme Diagnose der Mittäterschaft von Frauen im Patriarchat. Die nicht in einem neuen Dualismus endet, nicht in Reue und Umkehr, nicht in fernen Paradiesvorstellungen einer besseren weiblicheren Welt, sondern in täglicher und tätlicher Entstrickung, so schreibt sie in ihrem berühmtesten Band, „Vagabundinnen“, der 1983 erscheint. Studentin Veza Clute-Simon zitiert ihn ebenso wie eine der Kolleginnen an der TU Berlin, Carola Wildt, und wie die Mitbegründerin der Schwarzen feministischen Bewegung in Deutschland, Katharina Oguntoye. Entstricken muss man sich aus dem patriarchalen Projekt, der „verrotteten Wirklichkeit“, die zu dem damaligen Zeitpunkt die Gesamtheit aus bipolarer Weltordnung samt atomarer Bedrohung beschreibt und heute: muss man sich nur kurz zwischen AfD und Trump umschauen, wie die Leiterin des Gunda-Werner-Instituts, Ines Kappert, und Soziologin Sabine Hark für die „feministische studien“ es zur Begrüßung tun.
Wie sieht die Entstrickung aus? Sie bleibt radikal in der Gegenwart. Sie setzt Widerstand und Leben nicht in einen femininen Gegensatz aus Politik und Privatleben, sondern setzt beides in eins, Hannah Arendts „Vita Activa“ lässt grüßen. Und - ein typischer CTR-Nachsatz: „Alles andere ist Hochstapelei“.
Zweites großes Thema: Wie umgehen mit dem Fremden, das in den vergangenen Monaten so nah gerückt ist und heftige xenophobe Reaktionen hervorgerufen hat? Explizit wird, etwa von Gratulantin Nivedita Prasad von der Alice Salomon Hochschule, der französischen Philosoph Alain Finkielkraut erwähnt, der den Deutschen jüngst vorhielt, ihre islamistischen und antisemitischen Feinde nicht zu benennen und nicht zu bekämpfen. Thürmer-Rohr unterscheidet zwischen dem üblen Tun eines Feindes und der bloßen Fremdheit. Weshalb sie vorschlägt, von Tätern zu sprechen, nicht von Feinden. Demgegenüber ist Thürmer-Rohr immer voll „innerer Gastfreundschaft“, sie „macht sich zugänglich“, wie Ilona Pache von der Humboldt-Uni zitiert.
Mit dem Ignorieren der Feindschaft kommt man nicht recht weiter, aber mit der fixen Definition, die zwangsläufig in eine Art Eskalation der Gewalt auf beiden Seiten, einer Art „pathologischem Mimetismus“ endet, eben auch überhaupt nicht. „Erst eine Antwort, die einen unerwarteten Kontrast in das wahnsinnige Geschehen einbringt, kann die Lawine anhalten, indem sie durch eine dezidiert andere Antwort der Gewalt Grenzen setzt. Das Nicht-Zurückhassen ist keine fromme Sonntagsrede, sondern eine Weisheit, die sagt, dass man sich um andere Wege kümmern soll und längst hätte kümmern müssen – nicht unbedingt aus Barmherzigkeit, auch mit List und Raffinesse, Umwegen und Niederlagen“, schreibt Thürmer-Rohr in einem aktuellen Text mit Blick auf das Jahr 2015, den Fotografin Heidrun Melinski zitiert.
Gegen den „Lustverlust“
Da ist sie wieder, die Entstrickung, das Heraustreten aus der herkömmlichen Logik, mit Michel Foucault würde man es „Subversion“ nennen. Und Tina Campt, Frauenforscherin der New Yorker Columbia University, bringt die Stimmung der Lesenden in einer Videobotschaft auf den Punkt: „Ich bedanke mich für Deine Possibilität“, sagt sie. Ein seltener Begriff, aber wie für Thürmer-Rohr gemacht.
Possibilität – Möglichkeiten ausloten, ist auch der Nenner, auf den man ein sehr persönliches Dokument bringen kann, das Claudia Koppert vom Orlanda Verlag, der Thürmer-Rohrs Essaybände verlegte, vorstellt: „erfahrungsmüde“ findet sich CTR 1994, das ist tatsächlich das Jahr, in dem die deutsche Frauenbewegung weitgehend versandete - und schreibt „Fragmente zum Lustverlust“. Ost-West-Konflikte, die Niederlage bei der Reform des Abtreibungsparagrafen, die Anstrengung, die Gleichberechtigung als Arbeitsauftrag in Artikel 3 des Grundgesetzes zu verankern, der Frauenstreik – aber was macht man mit fehlendem Enthusiasmus, wenn genau dieses Fehlen doch die „Mitarbeit am Zerfall“ bedeutet. Doch die Entheroisierung des Guten, seine verschwundene Großartigkeit, seine Banalisierung könnte auch wieder genau das Mittel gegen den Lustverlust sein.
Und zuletzt: ein Hildegard Knef-Song
Das Arbeiten am Banalen, die Possibilität nicht aus den Augen verlieren – und - ein letzter Satz von CTR80: „hoffnungslos gegenwärtig leben“. Thürmer-Rohr freut sich, dass ihre Texte, die immer „Gesprächsangebote“, ein „gemeinsames Drittes“ sind, so viel Resonanz finden und beendet den offiziellen Teil mit einem Hildegard Knef-Song, ja, singen kann sie auch noch: So oder so ist das Leben, wieder mit einem existenzialistischen Einschlag: „Du musst entscheiden, wie du leben willst, nur darauf kommt es an“, klingt es einem noch im Ohr, da sitzt CTR schon längst unten bei Häppchen und Fernet Branca und signiert, umringt von Lieben und Fans, das ihr gewidmete Buch: „Die Freundschaft zur Welt nicht verlernen“. Die Gastgeberinnen haben es für sie herausgegeben.
Video der Veranstaltung
Welt lesen. Zum 80. Geburtstag von Christina Thürmer-Rohr - Heinrich-Böll-Stiftung
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