Vor einem Jahr gründeten professionelle Musiker*innen den Verein MitmachMusik e.V., mit dem Ziel, durch gemeinsames Musizieren die Integration zu unterstützen. Zweimal pro Woche besuchen die Musiker*innen verschiedene Unterkünfte für Geflüchtete in Berlin und Potsdam und musizieren mit hier lebenden Kindern und Jugendlichen.
“Mein Bruder und ich haben immer ein Spiel gespielt, bei dem er ein Kissen vom Bett wirft und dabei ein „Bumm“-Geräusch macht, so wie die Flugzeuge, die uns bombardiert haben. Ich bin im unteren Bett geblieben und habe tot gespielt.“
Von diesem Spiel erzählt mir lachend ein achtjähriges Mädchen und versucht mich zum Lachen zu bringen. Ich schaue in ihre Augen, die voller Geschichten sind, und muss lächeln.
Ich arbeite für das Musikprojekt MitmachMusik in der Unterkunft Brauhausberg in Potsdam. Zweimal wöchentlich verbringen wir ein paar Stunden mit den Kindern, machen Musik, tanzen, malen und zeichnen gemeinsam mit bunten Farben.
Ich erinnere mich wie ich anfangs dachte: “Das funktioniert niemals – eine Klasse mit so vielen Kindern aus unterschiedlichen Kulturen, verschiedenen Alters und mit diversen Sprachen.“ Viele von ihnen wussten mit Musik nichts anzufangen und hatten keine Erfahrung damit, wie frau* und mann* mit einem Instrument eine Melodie erzeugt.
Ahmad etwa zog sein Cello achtlos hinter sich her, so wie alle seine Spielsachen, ohne sich dem Wesen und der Heiligkeit des Instruments bewusst zu sein. Nazira spielte in alberner Überschwänglichkeit auf der Geige, ohne zu wissen wie empfindlich das Instrument ist und wie viel harte Arbeit es erfordert, es spielen zu können.
Angesichts der großen Gruppe von Kindern ist der Raum, in dem wir uns regelmäßig treffen, recht klein. Anfangs begannen wir gemeinsam deutsche, syrische und afghanische Lieder zu singen und zu spielen. Die Kinder fingen an den Takt der Musik zu halten, manche im Singen, andere im Tanz, und wieder andere entdeckten Instrumente für sich. Die Musik begann aus ihren Seelen zu entstehen. Und nach einiger Zeit bemerkte ich, dass die Musik auch anfing ihre Stimmen zu formen.
Die neunjährige Sarah erzählt mir: „Wenn ich groß bin möchte ich lernen, wie frau* und mann* eine Band oder ein ganzes Orchester leitet. Ich weiß wie frau* und mann* Violine spielt und ich will auch andere Instrumente spielen lernen. Aber weißt du, als mein Vater gestorben ist hat er mir gesagt ich sollte eine Ärztin werden. Und ich will genau das werden, was mein Vater sich von mir gewünscht hat.“ Die Kinder erzählen mir Geschichten und reden von ihrem Alltag in der Schule und Zuhause, sie fragen und verlangen Antworten.
Oft kann ich mir kaum vorstellen was sie mit der Musik verbinden und ich bin oft überrascht. Wie als ich Raza, ein achtjähriges Mädchen, fragte: “Warum spielst du lieber Geige und nicht ein andere Instrument?“ Ihre Antwort: „Weil sie so leicht ist, ich kann sie immer mit zur Schule nehmen, nach Hause und in der Park. Ich kann sie mit hinnehmen wo ich will.“
Ein anderes Mädchen namens Sabah stellte mir jedes Mal wenn sie mich sah genau dieselbe Frage: “Du sprichst Arabisch, warum trägst du kein Kopftuch? Meine Mutter muss eines tragen!“ Die Antwort war nicht einfach. Wie konnte ich einem Mädchen von nicht einmal fünf Jahren meine Sicht auf Religion und meinen persönlichen Glauben erklären? Wie ihr von einer Gesellschaft erzählen, die anders ist als sie es gewohnt ist.
Ich lächelte einfach.
Am nächsten Tag unterbrach sie mich beim Singen und verlangte eine Antwort: „Meine Mama trägt ein Kopftuch und sie nimmt es nur in unserem Zimmer ab, was ist mit dir?“
Ich antwortete: „Liebling, wenn du groß bist, wirst du lernen, dass es verschiedene Typen von Frauen gibt. Manche tragen Kopftuch, andere nicht. Ich trage keins.” Sie stand eine Weile still und sagte dann: “Meine Mama hat lange Haare, länger als deine.“
Ich lächelte wieder und wir sangen weiter.
Mittlerweile hat unser Projekt sein erstes Jubiläum gefeiert. Es besteht seit einem Jahr und wir feierten den Tag gemeinsam, singend und tanzend. Jede* und Jeder* im Raum fühlte die Freude der Kinder und ihre kraftvolle Energie.
Ich fragte Rubella, 11 Jahre alt: „Meinst du Musik ist wichtig im Leben?“ Sie antwortete: „Musik ist wichtig, weil sie uns glücklich macht.“
Eine andere Geschichte ist die Art, in der Marie Kogge, die Geigenlehrerin und Leiterin des Projekts von den Kindern erwartet wird. Die Kinder rennen jedes Mal zu ihr, um sie zu begrüßen und zu umarmen als wäre es das erste Mal.
Nach dem Unterricht kann ich sie Marie rufen hören „Marie! Schau wie ich das neue Lied geübt habe.“ „Marie! Schau wie ich das gemalt habe.“ „Marie! Ich will, dass du mit mir spielst.” Ihre Augen hängen an ihr und alle versuchen ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Und sie bleibt immer fröhlich, lacht und bringt sie dazu, weiter zu lernen, selbst wenn sie noch nicht so weit sind eine Melodie zu spielen.
Ich wünsche mir immer ich könnte nochmal ein kleines Mädchen sein und mich dieser großen musikalischen Familie anschließen. Wenn Musikzeit ist, ist ein großes Team da, um den Kindern alle kreativen Möglichkeiten zu eröffnen – seien es Gitarre, Geige, Cello, Flöte, Trommeln oder die Rhythmusinstrumente. Ich wünschte ich hätte als Kind diese Möglichkeiten gehabt. Sie kommen zur angekündigten Zeit, nehmen ihre Instrumente vorsichtig und halten sie als wären es ihre kleinen Babys. Sie warten ungeduldig auf uns, während ihre Augen auf die Noten mit allen ihren Farben und Zeichnungen gerichtet sind und unter Maries Leitung beginnt die Stunde.
Dieser Artikel erschien zuerst beim Aktionsbündnis "Wir machen das". Der Originalbeitrag hier.