Wir sind die Kinder des Lehms

Ein poetische Reflexion über Kindheit, Heimat und die Natur - im Rahmen von Weiter Schreiben - ein literarisches Portal für Autor*innen aus Krisengebieten.

Wir sind die Kinder des Lehms
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Wir sind die Kinder des Lehms

Früher wohnten wir in Häusern mit niedriger Decke. Trotzdem hatte jedes Haus einen Hängeboden für Dinge, die die Mütter nicht brauchten - sie warfen grundsätzlich nichts weg.

Beim Blinde-Kuh-Spielen versteckte ich mich einmal auf solch einem Boden. Ich wurde nicht gefunden und blieb dort. Später freundete ich mich mit meinem vernachlässigten Ich an.

Ich verbarg auf dem Hängeboden eines Ladens meine Laster, die so den Schatz meiner geheimen Erinnerungen bilden.

Viele Hängeböden habe ich kennengelernt. Hängeböden, auf denen man Steuerunterlagen und verdorbene – auch kostbare - Waren verschwinden ließ. Hängeböden, auf denen Kinder vergewaltigt wurden. Hängeböden für Sex. Hängeböden, auf denen Arbeiter ungestört beteten, mit ihrer Liebsten sprachen oder ihre Prügelstrafe empfingen. Hängeböden, die Schutz boten vor dem Streit der Eltern. Hängeböden in Häusern mit niedriger Decke zum Alleinsein.

Jetzt wohne ich in einem Haus mit hoher Decke und weiß nicht, was ich mit all der Leere anfangen soll. Weiß nicht, wohin mit meiner Angst, die ich nicht brauche und die ich - genau wie meine Mutter - nicht wegwerfen kann.

*****

Die Häuser hier sehen so aus wie die, die wir als Kinder malten. Schräges Dach, große Fenster, hauchdünne Vorhänge. Oben drauf bleibt kein Schnee liegen, drinnen staut sich nicht die Luft. Häuser, die die Sonne anlachen.

Aufgewachsen sind wir in Häusern mit Flachdach und kleinen Fenstern, außen vergittert und innen mit dicken Gardinen verhangen. Wir mochten keine Häuser, in denen die alten Geschichten schwelten und schlechte Luft zirkulierte. Deshalb malten wir die Häuser so, wie wir sie uns wünschten. Die Geschichte sollte uns nicht immerzu lasten auf dem Kopf. Dem Kopf, den unsere Mütter stets spürten.

Weshalb sonst rief meine Mutter jedes Mal, wenn ich mich ein wenig aus dem Fenster lehnte: „Du fällst noch raus. Dein Kopf ist viel schwerer als du.“

*****

Weil wir aus Erde bestehen,

sind wir die Mütter der Bäume.

Ohne Unterschied,

du bist die Mutter der Weinrebe,

ich die Mutter des Olivenbaums,

ohne Unterschied.

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Früher wusste ich nicht, was es heißt, in Häusern mit Holzfußboden zu wohnen. Sooft ich meine Schuhe ausziehe und barfuß gehe, falle ich hin.

Wir sind die Kinder des Lehms. Wir zogen für unsere Lieben Bäume auf statt Schmetterlinge und Vögel.

Boden aus Holz, Decke aus Holz. Ich werde zu meiner Liebsten sagen, dass ein Baum mich in seinem Inneren aufgenommen hat. Sie wird lachen und denken, ich wohne im Bauch eines Cellos.

Wir sind die Kinder der Erde, die Bäume müssten aus uns herauswachsen. Wir sind die Kinder des Asphalts. Tag für Tag begräbt er uns unter seinem Schutt, Liebste.

 

Dieser Text erschien zuerst auf weiterschreiben.jetzt.


Dieser Text wurde von Leila Chammaa übersetzt.