„Wie linke Identitätspolitik der Gesellschaft schadet“ titelte vor wenigen Tagen die FAZ. Übertriebene Gleichheitspolitik sorge nur für neue Ungerechtigkeiten, wird dort argumentiert.
Doch nicht nur in den konservativen Feuilletons ist linke Identitätspolitik schwer in der Kritik. Auch in linksliberalen Medien finden sich derzeit ähnliche Anklagen. Denn insbesondere seit der Wahlniederlage Hillary Clintons wird das Eintreten für identitätspolitische Kämpfe wie LGBTIQ-Rechte, Feminismus oder Antirassismus verantwortlich für den Niedergang linker Politik gemacht. Was früher der anti-emanzipatorischen Kampfbegriff „Politische Korrektheit“ war, ist heute der Begriff Identitätspolitik, der in gleicher Weise dazu dient, die politischen Forderungen von Minderheiten aggressiv zu diskreditieren.
Selbst das globale Erstarken autokratischer Rechtspopulisten gehe auf das Konto von Identitätspolitik, so die inzwischen leider weitverbreitete These. Denn während sich die Linke nur noch mit Transgendertoiletten und Sternchenschreibweisen beschäftigen würde, hätten sich rechte Parteien die soziale Frage als weit drängenderes Problem erfolgreich auf die Fahnen geschrieben. Die meisten linken Parteien, behauptet etwa der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, hätten sich nicht mehr um die wirtschaftlich Ausgebeuteten gekümmert, sondern sich auf immer kleinere Gruppen konzentriert, „die auf spezifische und individuelle Weise marginalisiert werden“. Von der Sozialdemokratie tief enttäuschte Wähler*innen wären in der Folge den rechtspopulistischen Demagogen auf den Leim gegangen. Das behaupten nicht nur einflussreiche Politologen wie Fukuyama oder Mark Lilla und Philosophen wie Slavoj Žižek, sondern solche Positionen finden ihren Niederschlag auch in politischen Bewegungen wie etwa der aufstehen-Initiative von Sahra Wagenknecht.
Doch diese Anklage gegen die Identitätspolitik ist schlichtweg falsch. Denn wenn bei der parlamentarischen Linken die soziale Frage vernachlässigt wurde, dann aufgrund des neoliberalen Paradigmenwechsel, der unter Gerhard Schröder, Bill Clinton und Tony Blair stattgefunden hat und seither nie glaubhaft revidiert wurde. Es war also definitiv eher Hartz IV und mitnichten das vielgescholtene Transgenderklo, das „die Arbeiter*innen“ vergällt hat, die überdies längst nicht mehr nur aus dem weißen Rust-Belt-Arbeiter bestehen, der immer noch so gerne ins Feld geführt wird. Zum Proletariat, das nun vermeintlich aus reiner Notwehr Trump, Bolsonaro oder die AfD wählt, gehört die afroamerikanische Servicekraft genauso wie die osteuropäische Pflegerin – und deren Wahlverhalten und Wahlmotive sind erwiesenermaßen andere, was bei dieser Fehlanalyse jedoch völlig unter den Tisch fällt. Ebenso wie strukturell tief verwurzelter Rassismus, Frauenhass und Homofeindlichkeit, die als eigenständige und ernstzunehmende Wahlmotive der rechtspopulistischen Kernwählerschaft unbedingt ernstgenommen und nicht als bloße Begleiterscheinungen abgetan werden sollten.
Identität ist kein Gegenbegriff zur Klasse
Wer Identitätspolitik gegen „Klassenkampf“ ausspielt, tut überdies so, als ginge es beim identitätspolitischen Aktivismus gegen Diskriminierung nicht auch um ernsthafte linke Anliegen wie Gleichberechtigung, Partizipation, Umverteilung und Befreiung. Doch die Forderung nach Anerkennung kultureller Differenz war mit dem Kampf für soziale Gleichheit stets aufs Engste verbunden. Soziale Bewegungen kämpften und kämpfen in den allermeisten Fällen nicht nur für rechtliche Gleichstellung, sondern zugleich auch für soziale Gerechtigkeit. So richtete sich die Black Liberation-Bewegung gegen Armut und gegen Rassismus. Und die Frauenbewegungen verknüpften häufig Anerkennungs- mit Umverteilungsforderungen miteinander. Entsprechend bildet die identitätspolitische Kritik von Minderheiten auch gerade die Stärke und eben nicht die Schwäche linker Bewegungen. Denn Identitätspolitik zielt darauf ab, Marginalisierungen zu überwinden und Minderheitenpositionen gleichzustellen, um so gemeinsam für größere Gerechtigkeit – auch soziale Gerechtigkeit – für immer mehr Menschen einzutreten.
Klassenpolitik und Identitätspolitik gegeneinander auszuspielen, ist aber noch aus einem anderen Grund falsch. Es übersieht nämlich, dass auch die Arbeiter*innenbewegung, also die wichtigste Akteurin im Kampf gegen soziale Ungleichheit, eine identitätspolitische Bewegung ist. Schließlich musste auch unter den Lohnabhängigen zunächst ein Klassenbewusstsein formiert und damit eine Form von Identitätspolitik betrieben werden. Die einzelnen sollten sich dabei kollektiv über ihre Arbeit und über ihre Klassenposition identifizierten.
Doch trotz all dieser Argumente reißt die Kritik an Identitätspolitik nicht ab. Eine zentrale Angriffsfläche bietet dabei wieder einmal – ganz besonders seit der #MeToo-Bewegung – der Feminismus. Und es sind eben nicht nur die üblichen rechtskonservativen Verdächtigen wie Jan Fleischhauer, die nun allen Ernstes ausgerechnet feministische Identitätspolitik für das Erstarken rechtsextremer Politik verantwortlich machen (Fleischhauer: „In der Brüderle-Affäre ... liegt die Geburtsstunde des Rechtsrucks“).
Wenig überraschend kommt die schärfste Kritik an Identitätspolitik von weißen Männern unterschiedlichster politischer Lager, die sich als mutige Rebellen gegen einen vermeintlichen feministischen Mainstream inszenieren, der ungeachtet aller realen Machtverhältnisse als dankbare Angriffsfläche dient.
Messianische Männlichkeitsphantasien
Von den linken Genossen wird in alter Hauptwiderspruch-Manier Geschlossenheit gegen die rechte Gefahr angemahnt. Selbst für Allianzen mit rechten Antifeministen ist man sich dabei nicht zu schade. Denn darauf, dass die Feministinnen den Bogen überspannen, kann man sich immer noch leicht einigen. Auch die messianischen Männlichkeitsphantasien von rechts und links unterscheiden sich dabei erschreckenderweise nur unwesentlich. Der politische Talkshowhost Bill Maher, ein profilierter Identitätspolitik-Kritiker, spricht sicherlich vielen Gleichgesinnten aus der Seele, wenn er fordert, dass linke Politik endlich wieder jemanden „mit Eiern“ braucht.
Doch wenn unsere durch einen „Rise of the Strongmen“ gebeutelte Welt eines definitiv nicht braucht, dann ist das ein weiterer starker Mann. Im Gegenteil, es ist diese autokratische Macho-Männlichkeit, wie sie sich jüngst im Ibiza-Skandal so unverhohlen offenbart hat, die linke Politik entschieden bekämpfen sollte. Auch in den eigenen Reihen. Und dafür braucht es feministische Identitätspolitik.