Kimberlé Crenshaws Einfluss auf mein gerechtigkeitsstrategisches Denken

Fangen wir nochmal bei der Critical Race Theory an.

Im Jahr 2009 habe ich Kimberlé Williams Crenshaw an der Humboldt-Universität-Berlin persönlich kennengelernt. Wie viele der anderen Anwesenden aus den Gender Studies, die im Publikum ihres Abendvortrags saßen, hatte ich mich eingehend mit ihren Texten befasst. An diesem Abend erfuhr ich dennoch von einem entscheidenden Teil ihres Ansatzes, mit dem ich kaum vertraut war. Ihre Theorie der Intersektionalität stellte sie als ein „Travelling Concept“ vor. Travelling Concept bezeichnet hier eine Konzeption, welche zwar in einem ganz spezifischen geopolitischen Kontext und zu einer ganz bestimmten Zeit entworfen wurde, eine Nützlichkeit aber weit über diesen Kontext und diese Zeit hinaus entfalten kann. Intersektionalität hat inzwischen eine prägnante Bedeutung für all diejenigen, die politisch wirksame Differenzen und die mit ihnen zusammenhängenden Machtrelationen vernetzt denken und wahrzunehmen versuchen. Beim Transfer des Konzepts wird allerdings häufig das eigentliche Fundament von Intersektionalität, die Critical Race Theory und die CRT-Bewegung Schwarzer Rechtswissenschaftler*innen, nahezu komplett ausgeblendet. Laut Kimberlé Crenshaw gleiche die reisende Intersektionalitätstheorie oder das, was von ihr übrigbleibt, der außerirdischen Kinderfilm-Figur ET. Diese versucht verzweifelt nach Hause zu telefonieren, kann aber keine Verbindung aufbauen, da entscheidende Bestandteile des eigentlichen Zusammenhangs fehlen.

Das Gerechtigkeitsverständnis der CRT-Bewegung

Die CRT Bewegung erhielt ihre Initialzündung in Netzwerken von BPoC (Schwarze und People-of-Color) Rechtswissenschaftler* innen im nordamerikanischen Raum. Prägend für die Entstehung dieses gerechtigkeitsorientierten Zusammenschlusses waren rassismuskritische Betrachtungen und feministisch-marxistische Kritiken an einer fehlenden Verteilungsungerechtigkeit innerhalb des Rechtssystems. Justice, hier als Rechtsgleichheit verstanden, galt als eine gesellschaftliche Ressource, die vor allem an den Lebens- und Arbeitsrealitäten von weißen Männern der bürgerlichen Gesellschaft orientiert war. Diese Orientierung wäre, wenn sie lediglich einen Bruchteil von pluralen Orientierungen ausmachen würde, nicht einmal sonderlich problematisch. Wenn sie allerdings zur Norm erhoben und daher zur eigentlichen Default-Position wird, müssen sie gerechtigkeitsstrategisch angefochten werden. Diese Normsetzung erleichtere es, so Crenshaw, weißen, bürgerlichen Männern, die für ihre Lebens- und Erfahrungswelten nötigen Rechtsmittel zu mobilisieren. Für ressourcenarme, rassistisch markierte Arbeitnehmer*innen hingegen, verursache diese Normsetzung erhebliche gesellschaftliche Barrieren bei der Mobilisierung von rechtlichen Lösungen. Die ohnehin sehr hohen Diskriminierungsrisiken, mit denen Schwarze Frauen konfrontiert sind, blieben dadurch ohne rechtliche Linderung. Ihre Diskriminierung bestehe insofern sowohl am Arbeitsplatz als auch in den Routinen des Justizsystems selbst.

Im Mittelpunkt der Intersektionalitätstheorie steht zu Anfang die Arbeitsmarktsituation Schwarzer Frauen. In dem Fall „DeGraffenreid vs. General Motors (1976)“ klagten fünf Schwarze Frauen in St. Louis (USA) gegen ihre ehemalige Arbeitgeberin (GM). Schwarze Frauen als marginalisierte Gruppe wurden in Relation zu anderen gesellschaftlichen Gruppen sehr spät bei GM eingestellt. Die Strategie der Firma „last hired, first fired“ traf Schwarze Frauen überproportional. Sie wurden Ziel von betrieblich bedingten Kündigungen. Ihre Klage wegen Diskriminierung wurde allerdings als gegenstandslos zurückgewiesen. Die Begründung des Gerichts lautete, eine Diskriminierung aufgrund rassistischer Markierung bestehe nicht, schließlich arbeiteten mehrere Schwarze Männer bei GM am Fließband. Eine Diskriminierung aufgrund sexistischer Markierung könne nicht festgestellt werden, da mehrere weiße Frauen bei GM im Bereich des Sekretariats arbeiteten. Schwarze Frauen galten als hinreichend in der Belegschaft von GM repräsentiert, wenn Frauen im Allgemeinen dort beschäftigt waren oder wenn Schwarze Männer dort beschäftigt blieben. Der Beweis der Diskriminierung wurde den Klägerinnen dadurch erschwert, dass sie durch mehr als eine politisch wirksame Differenz marginalisiert wurden. Die Klägerinnen waren weder ausschließlich als Frau diskriminiert worden noch ausschließlich als Schwarze Personen, sondern ganz spezifisch als rassistisch markierte, weibliche Subjekte. Die innovative Kraft, die politische Kraft, die von der Intersektionalitätstheorie ausgeht, besteht darin, komplexe Lagen der Marginalisierung in ihrer Verwobenheit wahrzunehmen und zu thematisieren. Es gilt hier, strukturelle Ähnlichkeiten zwischen sozial konstruierten Differenzen herauszuarbeiten und ihre Wechselwirkung und der damit zusammenhängenden Verletzungsmacht zu erfassen. Sowohl die Geschlechterordnung als auch die rassistisch geprägte Ordnung von GM 26 machte es Schwarzen Frauen unmöglich, lange im Betrieb zu bleiben oder gar darin aufzusteigen.

Politische Intersektionalität ist eine neue gerechtigkeitsstrategische Infrastruktur

Seit 2009 ist Kimberlé Crenshaw mindestens einmal im Jahr in Berlin. Ihr Bestreben, gemeinsam mit Gerechtigkeitsaktiven eine CRT Europe aufzubauen, zielt darauf ab, für den deutschsprachigen Raum Intersektionalität zurückzubinden an ihren Entstehungskontext, nämlich rechtliche Lösungen für mehrfachmarginalisierte Gruppen und Personen mit sehr hohen Diskriminierungsrisiken zu entwerfen und durchzusetzen. Für dieses Bestreben sind folgende Parameter bedeutend: Es gilt das „specific Race Projects“, die spezifische Weise, auf die rassistischen Strukturen im deutschsprachigen Raum soziohistorisch entstanden und verankert sind, nachzuvollziehen. Es gilt nachzuvollziehen, wie das Justizsystem verstrickt ist in der Re-/Produktion von rassistisch geprägten Verhältnissen. Es gilt, beispielhafte Urteile als Datenbasis, in denen rassistische Verhältnisse eine Rolle spielen, zusammenzutragen. Es gilt auf der Grundlage dieser Rechtsprechungen – ganz wie bei dem Schlüssel-Fall „Emma Degraffenried vs. General Motors“ – die intersektionalen Bedeutungen der Barrieren auf dem Weg zu einem gerechten Urteil zu begreifen, ganz spezifisch für den deutschsprachigen Raum. Politische Intersektionalität bedeute, so Crenshaw, dass rechtlich wirksame Maßnahmen nur daran gemessen werden, wie sie imstande sind, die Lebenslagen der am meisten marginalisierten Zugehörigen von dehumanisierten Gruppen sichtbar zu machen. Die Mobilisierung von Rechtsmitteln orientiert sich daran, für die Zugehörigen mit den höchsten Diskriminierungsrisiken Gerechtigkeit zu erreichen.