Eingetragene Partnerschaft, Antidiskriminierungskampagnen und bunte queers, die über die Bildschirme flimmern. Die Sichtbarkeit der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans* (LGBT) hat in Brasilien tagespolitisch sowie in den kommerziellen Unterhaltungsmedien sichtlich an Boden hinzugewonnen. Doch dieser erste Eindruck täuscht zu leicht über die anhaltenden Herausforderungen hinweg, vor welche die LGBT-Bewegungen gestellt sind. Angesichts der erschreckenden Anzahl registrierter trans- und homophober Hassmorde wird deutlich, dass der Kampf gegen Sexismus, Heteronormativität und Gewalt auch in Brasilien noch längst nicht gewonnen ist.
Ein Rundumblick auf soziale Bewegungen in Brasilien kann die LGBTs nicht länger außen vor lassen. Seit sie sich in nahezu allen Bundestaaten und größeren Städten behauptet haben, gehören sie nunmehr zu den vielleicht auffallendsten sozialen Dynamiken des Landes überhaupt. Die Einberufung der ersten nationalen Konferenz von Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Travestis und Transsexuellen im Jahre 2008 war dabei ein historischer Augenblick. Vor rund 10.000 Teilnehmer_innen hatte der damalige Präsident der Republik, Luiz Inácio Lula da Silva, einen politischen Raum eröffnet, der so kaum in anderen Ländern existiert. Daraus hervorgegangen sind Entwürfe und Rechtseinforderungen, die sich mittlerweile als signalwirkend erwiesen haben; egal, ob wir von der gesetzgebenden, richterlichen und sozialpolitischen Praxis oder den akademischen und unterhaltungsmedialen Wissensbetrieben sprechen.
Von der Homosexuellen-Bewegung der 70er und 80er zur selbstbewussten LGBT-Bewegung
Im Angesicht dieser noch jungen Prozesse lässt sich insofern die Wandlung einer Bewegung beobachten, die auf neue Durchsetzungsstrategien gestoßen ist. Von der damaligen Homosexuellenbewegung der 70er und 80er, die weitgehend als eine Gruppe von den ‚Rändern der Gesellschaft‘ wahrgenommen wurde, scheint nicht mehr viel nachzuklingen. Schließlich verkörpern die brasilianischen LGBT-Bewegungen ein neues Selbstbewusstsein, ja einen Re-Artikulationsprozess, der im Zusammenspiel von erhöhter Medienpräsenz und dem Wandel der Aktivist_innenrolle zustande kommt. Allerdings hat die Eingliederung in staatliche Organe in vielen Fällen auch dazu geführt, dass vormalige Störer_innen der öffentlichen Ordnung mittlerweile zu politischen Anwält_innen geworden sind.
Gesetzliche Neuerungen
Neben den alljährlich stattfindenden Paraden des LGBT-Stolzes, die in São Paulo nicht weniger als drei Millionen Menschen auf die Straßen bringen, bestimmten besonders die gesetzlichen Vorstöße die politische Debatte der vergangenen Monate. So hat der höchste Gerichtshof im Mai 2011 die eingetragene Partnerschaft (união estável) homosexueller Paare gebilligt und bald darauf die zivile Heirat eines lesbischen Paares im Bundestaat Rio Grande do Sul autorisiert. Im Gegensatz zur vormals gängigen juristischen Praxis verankert die união estável homoafetiva das Recht auf gemeinsame Angabe der Einkommenssteuer, auf gemeinsame Krankenversicherung sowie auf gegenseitiges Erbrecht, sofern dies in einer zusätzlichen Klausel vermerkt wird. Was die Frage der Adoption anbelangt, so ist es zwar möglich, den Nachnamen eine_r Partner_in auf das adoptierte Kind zu übertragen, juristisch bleibt die Adoption aber auf eine Person beschränkt. Faktisch bleibt sie so dem homosexuellen Paar verwehrt.
Allgemein verschiebt sich die juristische Benennung, und zwar namentlich, dass das homosexuelle Paar per Dekret als ‚Familieneinheit’ anerkannt wird. Dies erspart einerseits eine überholte Rechtspraxis, homosexuelle Paare als wirtschaftliche Handelspartner zu deklarieren, andererseits birgt die jüngste Umwertung auch problematische Ambiguitäten in sich. Denn die Erfindung der gleichgeschlechtlichen Familie erhält Beifall bis hin durch christlich konservative Kreise, da sie sich doch so ansehnlich mit der Idee der Familie als Basis der Gesellschaft vereinbaren lässt. Ironischerweise wird so die Institution união estável homoafetiva auch zum Legitimationsinstrument für jegliche moralische Diskurse über affektive Praktiken, die sich außerhalb der selig gesprochenen Partnerschaft abspielen. Im Spiegel dieser Neubewertung muss folglich das Kleingedruckte mitgelesen werden, solange die Frage, ob diese neue Gesetzgebung dominante Geschlechterverhältnisse zu transformieren im Stande ist, noch von politischer Bedeutung ist.
Eine ähnliche Diagnose lässt sich für die kulturindustrielle Maschinerie der causa gay stellen. In Brasilien hat die aktive Vermarktung lesbischwultrans*er Identitäten eine Dimension erreicht, die anderenorts wohl kaum zu übertreffen ist. So hat die Stadtverwaltung Rio de Janeiros vor Kürze ein eigenes außerordentliches Amt der sexuellen Diversität (Secretaria Especial da Diversidade Sexual) kreiert; ein Organ, das in Zusammenarbeit mit dem Tourismusunternehmen Riotur in erster Linie für die weltweit unübertreffliche gay-friendlyness der Stadt am Fuße des Zuckerhutes wirbt. Passenderweise zeigt dessen Werbeclip Come to Live the Rio Sensation Bilder eines bürgerlichen Erholungsparadieses, oder genauer, eines Flusses von muskulösen weißen Körpern, idyllischen Stränden und kühlen Caipirinhas aus der 5-Sterne-Hotelbar.
LGBTs in den brasilianischen Massenmedien: sichtbar, aber klischeebehaftet
Nun deckt sich diese einförmige Repräsentation von LGBT-Lebenswelten mit dem, was an vorderster Stelle durch die Telenovelas von TV Globo, dem brasilianischen Massenmedium schlechthin, vermittelt wird. Die tägliche Prime-Time-Sendung Insensato Coração (Unvernünftiges Herz) führte 2011 gleich mehrere Handlungsstränge ein, in welchen schwule und lesbische Hauptdarsteller_innen als fröhlich-quirlige Unterhalter_innen der Strandkioske Ipanemas auftreten. Bedenken wir die nationalen Einschaltquoten von 65%, die der TV Globo zu jener Sendezeit von nahezu 200 Millionen Brasilianer_innen erhält, so lässt sich kaum verhehlen, dass die medial vermittelte Visibilität von LGBTs weit höhere Dimensionen annimmt als dies etwa in europäischen Ländern der Fall ist. Allerdings haftet eben jener Sichtbarkeit nicht nur eine männlich-weiße, sondern vor allem eine Dominanz der brasilianischen Mittelklasse an, die in einem aktuellen nationalen Kontext steht: der Haltung, dass Konsum die erste Zutat für die Erlangung von Bürgerrechten sei.
Aber die brasilianische Telenovela hält stets noch mehr über das ‚echte Leben‘ bereit, als uns das auf den ersten Blick bewusst ist. Tatsächlich behandelt dieselbe auch das Thema Gewalt, bezogen auf Homophobie und Hassmorde. Bedauerlicherweise ist dieses Thema schon länger Teil der brasilianischen Realität, rückt aber erst seit kurzem stärker in die Öffentlichkeit. Wie die Erhebungen der GGB (Grupo Gay da Bahia) zeigen, weist Brasilien im internationalen Vergleich eine alarmierend hohe Anzahl von trans- und homophoben Übergriffen auf. Gemäß den Studien von Transgender Europe wurden im Zeitraum von Januar 2008 bis Dezember 2010 allein in Brasilien 227 Trans*-Menschen umgebracht. Diese schockierende Ziffer mag dabei nur andeuten, wie alltäglich sich die Verletzung der Menschenrechte an Trans*-Menschen derzeitig zuträgt. Neben dem dringend notwendigen Rechtsschutz vor solchen Gewaltübergriffen müssen zukünftig sowohl die inexistente medizinische Versorgungslage als auch die nachlässige polizeiliche Aufklärungspraxis der Morde an Trans*-Personen angegangen werden.
Gewalt gegen LGBTs in Worten und Taten
Gewalt bleibt in diesem Fall nicht auf Angriffe auf der Straße beschränkt. Sie wirkt ebenso gravierend durch Worte. In Brasilien umfassen diese in erster Linie die Polemiken der Fraktion der Evangelikalen und anderer konservativ-religiöser Gruppierungen. Wie groß das Gewicht dieses Lagers ist, kommt nicht zuletzt in Reden der Präsidentin Dilma Rousseff zum Vorschein. 2011 hatte sie das so genannte „Anti-Homophobie Kit“, ein Unterrichtsmaterial des Erziehungsministeriums (MEC) über Geschlechter- und sexuelle Diversität, suspendiert und dadurch dem vehementen evangelikalen Druck auf ihren damaligen Staatssekretär, Antonio Palocci, nachgegeben. Peinlicherweise hatte sie sich dabei in ihrem Fernsehinterview indirekt auf die Hetze der Evangelikalen bezogen, dieses Material würde „Homosexualität unter den Kindern verbreiten“. Am Ende verzeichnete die evangelikale Fraktion somit einen klaren Triumph, legitimiert doch das Einstellen der Sensibilisierungsarbeit die Diskriminierung lesbischwultrans*er Lebenswelten, wenn sie diese als nicht jugendfrei diffamiert.
Obwohl die Bewegungen bereits 2006 die Forderung nach Kriminalisierung von Homophobie (criminalização da homofobia, PLC 122/2006) im Parlament eingebracht haben, unterliegt diese bis heute zähem politischem Ringen. Die Gesetzesänderung sieht vor, die unmittelbare strafrechtliche Verfolgung von Diskriminierung qua sexueller Orientierung sowie Geschlechtsidentität auf eine Stufe mit der Diskriminierung durch ‚Rasse’, Hautfarbe, Ethnie, Religion, nationale Herkunft und Geschlecht zu stellen – ein Vorstoß, der von der evangelikalen Fraktion vehement bekämpft wird. Im Dezember des vergangenen Jahres hat die zuständige Senatorin Marta Suplicy (PT) lediglich einen teuren Kompromiss einhandeln können. In den Gesetzestext wurde ein Absatz eingefügt, der Pfarrer und evangelikale Priester von der strafrechtlichen Verfolgung befreit. Dies unter der Argumentation, dass es sich bei Gottesdiensten um die „friedliche Äußerung von Glaubensgedanken“ handle. Für Toni Reis, Präsident der ABGLT (Nationaler Dachverband von Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Travestis und Transsexuellen), ist klar, dass die politische Forderung so nicht umgesetzt werden kann. Die offen homophoben Diskurse des christlichen Bollwerks werden durch die Umformulierung des Textes sogar noch legalisiert.
Der Kampf dauert an
Kurzum: Die hier angerissene „Stunde der LGBTs in Brasilien“ deutet auf Prozesse hin, die sich in verschiedene, teils auch widersprüchliche Richtungen bewegen. Die hohe Sichtbarkeit, welche Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans* in medialen, politischen sowie bürgerrechtlichen Zusammenhängen derzeit erfahren, ist nicht zuletzt Ergebnis der Kämpfe einer Bewegung, die es geschafft hat, sich im Laufe der letzten Jahre im Einklang mit den allgemeinen sozialen und politischen Veränderungen Brasiliens zu verwandeln. Davon zeugt nicht nur die Wende im Heiratsrecht, sondern auch die zunehmende soziale Anerkennung von sexueller sowie geschlechtsidentitärer Diversität.
Andererseits darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Gewalt – besonders im Hinblick auf Geschlecht und Sexualität – nach wie vor ein großes strukturelles Problem darstellt: sowohl in Form religiöser Diskurse als auch physischer Übergriffe. In dieser Hinsicht bleiben die Herausforderungen für die brasilianischen LGBT-Bewegungen besonders groß. Gerade durch ihre institutionalisierte Einbindung muss es ihnen zukünftig gelingen, den maßlosen Sexismus im brasilianischen Justiz- und Politikgeschäft noch kompromissloser anzuprangern und auf zielgerichteten Antigewalt-Politiken zu bestehen. Diese müssen besonders die Ausweitung der Bildungsprogramme zu Geschlecht und Sexualität in Schulen und allgemein in Bildungseinrichtungen umfassen. Denn nur so können sich gesellschaftliche Normsetzungen sukzessive öffnen und kritisch debattiert werden. Dies wird schließlich nicht nur eine wirklichkeitsnähere Wahrnehmung und Akzeptanz der LGBTs ermöglichen, sondern auch Wege frei machen, die Gewalt gegen sie wirksam zu bekämpfen.
.....
Nicolas Wasser promoviert an der UFRJ über Körperlichkeit und soziale Ungleichheit in Brasilien und war von Dezember 2011 bis Februar 2012 Praktikant im Brasilienbüro der hbs.