„Mit dem Geld von Bolsa Família konnte ich eine große Matratze für meine Söhne kaufen, vorher haben wir auf dem Boden geschlafen“, berichtet Fátima Andréia Nascimento, alleinerziehende Mutter dreier Kinder in einem Außenbezirk der brasilianischen Metropole Rio de Janeiros von der brasilianischen NGO Ibase. Sie ist eine der circa 13 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer, die durch dieses Sozialprogramm zur Armutsbekämpfung unterstützt werden. Im vergangenen Jahrzehnt hat Brasilien nämlich nicht nur mit seinem starken wirtschaftlichen Wachstum von sich reden gemacht, sondern auch mit gezielter Armutsbekämpfung. Der Bevölkerungsanteil, der von einem Einkommen unterhalb der nationalen Armutsgrenze leben muss, ist nach den Daten der Weltbank in den letzten 20 Jahren von 43% (1993) auf 21% (2009) gesunken. Unter anderem wird dies auf die unter Präsident Lula eingeführten Sozialhilfeprogramme Fome Zero und dessen Nachfolger Bolsa Família zurückgeführt. Diese Programme sollen armen Familien wie der Fátimas die Grundversorgung sichern. Gleichzeitig sind die Zahlungen an Bedingungen gebunden. So muss Fátima dafür sorgen, dass ihre Kinder regelmäßig in die Schule gehen und bestimmte medizinische Grundbehandlungen, wie Impfungen, erhalten. Bolsa Família soll somit nicht nur die Armut selbst, sondern auch das Armutsrisiko brasilianischer Familien verringern. Dies spielt für eine nachhaltige Verbesserung des Lebensstandards eine große Rolle.
Denn wer mit dem ständigen Risiko lebt, morgen arm zu sein, passt sein Verhalten daran an. Das kann bedeuten, dass ein eventuell armutsverringernder Weg gemieden wird, weil er zu riskant erscheint. Ein gängiges Beispiel hierfür sind Kleinbauern, die häufig auf Selbstversorgungsebene wirtschaften und anderen kleinen Jobs nachgehen. Sie wagen nicht, in kommerzielle Landwirtschaft zu investieren, da ihnen das Witterungsrisiko in der Landwirtschaft zu hoch erscheint. Damit schützen sie sich kurzfristig vor dem Risiko zu verarmen, verpassen allerdings die Chance, ihren Lebensstandard langfristig zu verbessern.
Eine andere Quelle der Unsicherheit ist der Arbeitsmarkt in urbanen Gebieten. Insbesondere informell Beschäftigte müssen jederzeit einen Stellenverlust fürchten. Fátima hat kein besonders hohes Einkommen, ist jedoch von der Gemeinde angestellt und genießt daher formal den Status einer öffentlich Angestellten mit Garantie des brasilianischen Mindestlohns und gewissen Arbeits- und Versicherungsrechten. Informell Beschäftigte hingegen würden zwar nicht unbedingt als einkommensschwach gelten, wenn sie denn Arbeit haben, aber sie sind einem viel höheren Risiko ausgesetzt, in Armut zu fallen. Solche gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu identifizieren, um dieses Risiko zu reduzieren, ist für die Sozialpolitik von Interesse.
Geschlecht und Familienstruktur haben Einfluss auf das Armutsrisiko
Abgesehen vom informellen Arbeitsmarkt und den natürlichen Risiken in der Landwirtschaft liegt es nahe, dass auch das Geschlecht und die Familienstruktur eine Rolle für das Armutsrisiko spielen. In einer weiterhin stark patriarchalisch und machistisch geprägten Gesellschaft wie der brasilianischen herrscht auch eine klare Rollenverteilung für Männer und Frauen. Daraus resultieren unterschiedliche und verschieden starke Armutsrisiken. Dies geht besonders auf die weit verbreitete Rollenzuweisung der Frau als Fürsorgerin zurück. Die brasilianische Aktivistin und Anwältin Magnólia Azevedo Said sagt, dass unbezahlte Arbeit Frauen unsichtbar macht. Sie übernehmen die Rolle der Fürsorgerin dort, wo der Staat keine Dienste bereitstellt. Dies impliziert, dass die unbezahlte Arbeit von Frauen und damit ihre doppelte Belastung dort zunimmt, wo es Kürzungen in den Sozialausgaben und Privatisierungen von ursprünglich öffentlichen sozialen Dienstleistungen gibt. Frauen generieren nicht nur Einkommen für ihren Haushalt, sondern sind zusätzlich für die Erziehung und Betreuung der Kinder und oft auch für die Pflege von älteren im Haushalt lebenden Verwandten verantwortlich. Frauen arbeiten somit ‚doppelt‘, wobei nur eine ihrer Tätigkeiten eventuell finanziell entlohnt wird. Dies setzt besonders alleinerziehende Mütter oder Haushalte mit einer Mehrzahl weiblicher Mitglieder sowie mit mehr Fürsorgebedürftigen (Kindern und alten Menschen) einem größeren Armutsrisiko aus.
Anhand der Daten der jährlichen statistischen Erhebung brasilianischer Haushalte (PNAD – Pesquisa Nacional por Amostra de Domicílios) lässt sich ein Bild der Armuts- und Armutsgefährdungsprofile brasilianischer Familien zeichnen. 2009 besteht zunächst kein signifikanter Unterschied zwischen den Armutsraten von Männern (23,9%) und Frauen (23,2%) in Brasilien. Dieses Bild ändert sich jedoch, wenn die Haushalte nach dem Geschlecht des Familienvorstands unterschieden werden. Hier befindet sich ein größerer Anteil der weiblich geführten Haushalte (26,1%) in einer prekären Situation als der männlich geführten (23,3%). Ähnlich ist das Bild bei der Ernährungsunsicherheit: 20,6% der Haushalte mit weiblichem Entscheidungsträger berichtete 2009, Nahrungsmittelknappheit erfahren zu haben, während dies nur knapp 17% der männlich geführten Haushalte angeben. Dies ist ein Hinweis auf geschlechterbezogene Unterschiede im Armutsrisiko. Angaben aus solchen Umfragen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. Die niedrigeren Zahlen von männlich geführten Haushalten mit Ernährungsunsicherheit und geringem Einkommen können auch Ergebnis von falschen Angaben aufgrund von Stolz und sozialem Druck sein.
Die doppelte Belastung von Frauen durch die ihnen zugeschriebene Rolle im Haushalt stellt also bereits ein Armutsrisiko dar, aber diese Belastung im Haushalt scheint sich für brasilianische Frauen auch negativ im Arbeitsmarkt auszuwirken. Bei genauerer Analyse [1] weisen die Daten darauf hin, dass der brasilianische Arbeitsmarkt, besonders der informelle Sektor, und das Bildungssystem Gender-Unterschiede im Armutsrisiko zeigen. Ebenso bergen kinderreiche Haushalte und solche mit mehr weiblichen Angehörigen für brasilianische Frauen ein höheres Armutsrisiko als für Männer, was wiederum die zusätzliche Verantwortung für ihre Kinder widerspiegelt. So erzählt Fátima in ihrem Interview davon, wie sie nach der Trennung von ihrem Mann auch noch ohne Arbeit dastand und weder ihre Rechnungen bezahlen, noch für ihre Kinder Geld für etwas anderes außer Essen ausgeben konnte. Kinder sind daher im Kontext der geschlechterspezifischen Rollenzuweisungen unmittelbar von dem Armutsrisiko ihrer Mutter betroffen.
Diese Ergebnisse zeigen, dass die Berücksichtigung von Geschlechterunterschieden bei der Armutsbekämpfung von großer Bedeutung ist. Das Bolsa-Família-Programm in Brasilien greift dies auf, indem gezielt Frauen die Empfänger der Unterstützungsgelder sind. 2011 machten sie 93% aus. Die Motivation hierbei ist zweierlei. Zum einen gelten die Frauen als verantwortlicher als Männer im Umgang mit dem Geld, welches für die Familie, besonders die Kinder, gedacht ist. Zum anderen wird propagiert, dass die Frauen dadurch selber eine finanzielle Unabhängigkeit von ihrem Partner erhalten, und somit auch ihre gesellschaftliche Position stärken können.
Gehen die Zielsetzungen von bolsa familía auch aus Genderperspektive auf?
Aus einer Genderperspektive gehen beide Zielsetzungen jedoch so nicht auf. Es wird weiterhin die Rolle der Frau als Fürsorgerin unterstrichen und sie wird zusätzlich an diese Rolle gebunden. Dadurch entgeht den Empfängerinnen der Sozialleistungen die Möglichkeit, selber Zugang zu formalen Tätigkeiten zu finden. Die erste offizielle Auswertung des Programms durch das brasilianische Entwicklungsministerium [2] stellt eine Stärkung der Verhandlungsposition von Frauen im Haushalt fest. Aufgrund der Schwierigkeit, dies zu messen, bezog sich die Analyse auf die Entscheidungen über zu tätigende Einkäufe. Dabei haben die befragten Brasilianerinnen eine gewisse Unabhängigkeit erreicht. Weil die Zahlungen jedoch an Konditionen gebunden sind, welche die Fürsorge für weitere Familienmitglieder beinhalten, beziehen sich die Einkaufsentscheidungen auch immer auf eben diese Konditionen. Es kann also nicht von Emanzipation gesprochen werden, weil die betroffenen Frauen statt von ihrem Mann nun vom Staat abhängig sind. „Die Leute meinen, Bolsa Família sei nur für Nahrungsmittel gedacht. Aber wie heißt es in dem Lied: Wir wollen nicht nur Essen, wir wollen auch Trinken, Vergnügen und Musik. Die Regierung hätte auch andere Formen der Unterstützung bedenken sollen, nicht nur eine an Bedingungen gebundene Geldleistung“, kritisiert auch Fátima das Programm. Dies ist ein Beispiel für eine Politik, die Geschlechterunterschiede zu berücksichtigen sucht, aber die Folgen für den Gender-Kontext nicht im Blick hat.
Hinzu kommt, dass Frauen, welche Bolsa Família empfangen, oft glauben, dass sie durch eine formale Beschäftigung den Anspruch auf die Sozialhilfe verlieren würden. Dies ist nicht korrekt, aber die Informationspolitik der Regierung scheint die Familien hier nicht zu erreichen. Stattdessen gehen mehr Frauen, die Bolsa Família erhalten, informellen Beschäftigungen nach. Ebenso wägen viele Empfängerinnen die Sozialhilfe gegenüber dem Erhalt eines Mindestlohns in einer formalen Beschäftigung ab, häufig mit der Entscheidung gegen die Arbeit. „Einige Familien gewöhnen sich an die Zahlungen“, berichtet Fátima, „Sie sollten in Arbeitsvermittlungsmaßnahmen aufgenommen werden.“ Einige Regionen im Nordosten Brasiliens mit hohen Anteilen von Empfängern von Bolsa Família verzeichnen Arbeitskräftemangel, welcher eine schwächere Wirtschaftsentwicklung in der Region zur Folge hat und so die sozio-ökonomische Entwicklung der Bevölkerung beschränkt.
Besondere Armutsgefährdung für Frauen aus dem ländlichen Raum
Die 2010 unter der Regierung Dilma Roussefs eingeführte umfassende soziale Entwicklungsstrategie in Form des Programmes Brasil sem Miséria (Brasilien ohne Armut) greift einige dieser Probleme auf. Zum einen wird der Zugang zu der Sozialhilfe von Bolsa Família so erweitert, dass besonders kinderreiche Familien Anspruch erheben können. Das trägt der Tatsache Rechnung, dass Kinder den Großteil der armen Bevölkerung Brasiliens ausmachen. Außerdem soll der Zugang zum formalen Arbeitsmarkt durch Weiterbildungs- und Integrationsprogramme erleichtert werden, was durchaus eine Chance für Frauen darstellen kann. Ein großes Manko jedoch besteht in der Strategie für den ländlichen Raum, welche die Frage der Landverteilung vollkommen außer Acht lässt. Es wird ignoriert, dass die größte Armutsgefährdung für kleinbäuerliche Familien aus fehlendem Grundbesitz und daraus resultierender Unsicherheit, Abhängigkeit und fehlender Investitionsmöglichkeiten besteht und dass davon besonders Frauen betroffen sind. Denn gerade im armen ländlichen Raum sind Frauen diejenigen, die zurückbleiben, wenn sich Familienmitglieder in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen in die städtischen Regionen begeben. „Es gibt viel Forschung über diejenigen, die die ländlichen Gegenden verlassen, aber nur wenig über die, die bleiben: die Witwen von Überschwemmungen und Dürren, die Hüterinnen der Haushalte. Zuerst werden diese Frauen vernachlässigt und dann sollen sie die Armut bewältigen”, bemängelt Magnólia Azevedo Said [3]. Hier fehlt es an einer wirksamen Strategie zur Verringerung von Armut und Armutsrisiko.
Ungleichheit zwischen den Geschlechtern muss überwunden werden
Viele Policy-Experten sehen daher besonders in dem Programm Bolsa Família eine verpasste Chance Brasiliens. Anstatt die Kluft zwischen Arm und Reich zu überwinden, wird Armut nur in dem Maße gelindert, dass sich Familien gerade so über Wasser halten können. Die Weltbank hat 2012 in ihrem jährlichen Entwicklungsbericht Geschlechterungleichheit in den Mittelpunkt gestellt mit der Doktrin „gender equality is smart economics“. Brasilien hat in den letzten Jahren zwar die Einkommensarmut und -ungleichheiten reduziert, die sozialen Strukturen beruhen jedoch weiterhin auf Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Oder mit den Worten der Aktivistin Said: „Weit von einem Beitrag zur Überwindung von Ungleichheiten entfernt, lindert Bolsa Família – Vorzeigemodell für viele Entwicklungsländer – zwar die Armut, hält aber die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern aufrecht und trägt demnach nicht zur Entwicklung Brasiliens bei.” Für eine nachhaltige Verbesserung der sozialen Lage wäre es notwendig, dass diese strukturellen Ungleichheiten endlich als Problemursache anerkannt und überwunden werden.
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Eva-Maria Egger ist Praktikantin am Rio-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung.
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[1] Diese Analyse ist im Rahmen einer Masterarbeit entstanden und kann auf Anfrage bereitgestellt werden.
[2] Centro de Desenvolvimento e Planejamento Regional - Cedeplar/UFMG, Secretaria de Avaliação e Gestão da Informação, Ministério do Desenvolvimento Social e Combate à Fome: “Sumário Executivo - Avaliação de Impacto do Programa Bolsa Família”, Brasília Outubro de 2007.
[3] Den vollständigen Beitrag von Magnólia Azevedo Said und mehr zu alternativen Perspektiven auf Brasiliens Entwicklungsmodell finden Sie in der Publikation ‚Inside a Champion – An Analysis of the Brazilian Development Model‘ auf unserer Website http://www.boell.de/publications/publications-brazil-inside-a-champion-economy-ecology-14760.html oder auf http://www.br.boell.org (portugiesischsprachige Version)