Als ich Ende der Achtziger, feministisch ziemlich ahnungslos, nach Berlin zum studieren kam, herrschten unter den Studierenden am Otto Suhr-Institut für Politikwissenschaft die Frauen. Nein, sie herrschten natürlich nicht, aber sie waren laut und vernehmbar. In den Vorlesungen schleuderten sie den Professoren ausdauernd ein lautes "-Innen!" entgegen, wenn diese von Demokraten, Franzosen oder auch den Bauernaufständen sprachen. Als die linke Koryphäe Johannes Agnoli die Französische Revolution würdigte, wurde lautstark moniert, er unterschlage dabei die Rolle der Frauen. Das müsse er sich nicht sagen lassen, fand Agnoli, schließlich habe seine Frau 1968 den Frankfurter Weiberrat mitgegründet. Doch das verfehlte völlig seine Wirkung. Die Frauen lachten über diese Ausrede.
Später stellte sich heraus: Das war es auch, was auch Christina Thürmer-Rohr so nervte: Männer, die sich feministisch erhaben dünken, weil ihre Freundin schließlich Feministin sei. Thürmer Rohr war und ist immer vor allem eines geblieben: unbestechlich. Es hatte für sie einen Sinn, dass Frauen sich, von den linken Männern enttäuscht, in autonome Kreise zurückzogen - sie war die Theoretikerin dieser Frauen: eine autonome Denkerin. "Tina" Thürmer-Rohr nannten sie sie und kopierten ihren Existenzialistenlook: Dünn wie ein Streichholz, alles schön schwarz, eine Andy-Warhol-Frisur in schwarz und jede Menge Kajal um die Augen - und dann auch noch Kette rauchen: "Tina" hatte Glamour. Sie war keine trockene Akademikerin, nein, sie lebte Feminismus: sie hatte in Bands gespielt und gab nun mit ihrer Freundin Laura Gallati zusammen Konzerte für zwei Flügel - ein Role Model, würde man heute sagen.
Alle lasen die "Vagabundinnen", den Essayband. Ich also auch. Und war so fasziniert wie befremdet. Ja, der Weltuntergang in Form von Atomkrieg und Umweltzerstörung war auch Teil meiner Sozialisation gewesen, aber mit dem naiven Optimismus derjenigen, in deren konkretem Leben eigentlich noch wenig richtig Schlimmes passiert war, nahm ich den Weltuntergang nicht so sonderlich ernst. Christina Thürmer-Rohr schon. Sie ist im Zweiten Weltkrieg aufgewachsen, sie hat den Abwurf von Atombomben erlebt, sie traute den Menschen alles zu. "Das Bild vom Menschen als einem lernfähigen Wesen, das Konsequenzen aus Fehlern und selbstangestellten Katastrophen ziehen kann, wird zum Witzstoff. 'Der Mensch', obwohl er noch lebt, hat schon etwas Ruinenhaftes", das war der Ton. Unzweifelhaft waren es Männer, die uns in diese Lage geritten haben. Thürmer-Rohr glaubte, das patriarchales Denken gewalttätiges Denken ist, das das oder die Andere nicht achten kann. Und so war das Patriarchat das Vorgängige, dem Umweltzerstörung, Krieg und ökonomische Ausbeutung innewohnen. Es war wie bei Adorno, nur dass das menschliche Ich, dessen Existenzform bei ihm unweigerlich Gewalt nach sich zieht, bei Thürmer-Rohr das männliche Ich ist.
Zugleich, und das machte sie sperrig für einige Feministinnen, ist das Weibliche zwar ausgeschlossen - aber es zu entdecken heißt keinesfalls, eine bessere Welt zu entdecken. Schließlich ist Weiblichkeit an sich etwas, das im Patriarchat hergestellt wird, als "Putz- und Entseuchungsmittel", wie sie es mal genannt hat, als rosarote süßlich-organische Ergänzung der männlichen Brutalität, schließlich muss, was täglich zerstört wird, von irgendwem wieder zusammen geflickt werden. Das gesamte Hoffen auf Besserung sei etwas typisch weibliches, erklärt sie gnadenlos. "Um das hilfreiche Klima der guten Hoffnung herzustellen, bedarf es der Fähigkeit des Abschaltens, einer warmen Blindheit." Was geschähe, würden Frauen sich darauf zurückziehen? "Wir müssten zum weiblichen Infantilismus zurückkehren, zum guten dummen Willen, zur heillosen weiblichen Naivität. Damit brächen wir uns endgültig selbst das Genick."
Das ist die Generalabsage an Differenzfeminismus, an eine überlegene weibliche Moral, an die friedenstiftende Kraft der Frauen, an denen, ließe man sie nur ans Ruder, die Welt genesen würde.
Aber ihre Sprengkraft entfaltet Thürmer-Rohr, weil sie sich in dem ewigen Kampf zwischen Gleichheits- und Differenzfeminismus keineswegs auf die Seite der Gleichheit stellt: Sie kritisiert beide als Mittäterschaft mit dem patriarchalen System. Die einen ergänzen es, die anderen affirmieren es. Daher die von ihr bevorzugte Existenz- und Denkform: Das Vagabundieren. Das anwesend sein in der jetzigen, realen Welt. Das genaue Hinsehen und der Widerstand.
Und doch, dieser Widerspruch bleibt bestehen, fordert Thürmer-Rohr das unbedingte Anerkennen des Anderen, das Für-Sorgen, das sich anfreunden statt der Gewalt. Nur nennt sie das nicht weiblich. Es ist für sie vielmehr menschlich. In Hannah Ahrend findet sie eine Verbündete: Arendts Absage an den männlichen Machtbegriff, der immer schon Gewalt beinhaltet und ihre Definition von Macht als dem freiwilligen Zusammenwirken der Vielen, damit beschäftigt sich Thümer-Rohr viele Jahre lang. Die Angriffe des schwarzen Feminismus auf den weißen Mittelschichtsfeminismus, der Frauen befreien will, wo schwarze Frauen Kolonialismus und Ausbeutung sehen, führt bei ihr zum stärkeren Denken in Differenzen. Aber nicht in bipolaren Geschlechterdifferenzen, sondern in den unendlichen Differenzen zwischen Menschen in ihrer Vielfalt.
Mit Arendt fordert sie, sich nicht mehr zu einem "identitären Haufen" zusammenzuklumpen, Schwesternschaft zu behaupten, wo Unterschiede sind. Die Freundschaft ist ihr Konzept. Befreundet sein lässt Differenzen zu, Schwesternschaft verkleistert sie.
Mir ist die Thürmer-Rohr-Lektüre irgendwann entglitten. Ich war zu einem Mann desertiert, Michel Foucault, und dessen System der Mikromacht von Dispositiven, Denk- und Machtsystemen, die ihr Außerhalb immer schon selbst definiert haben. Durchaus war eines davon als patriarchales Dispositiv erkennbar, aber das Außerhalb, das Thürmer-Rohr den Frauen doch immer noch zugedenkt, das gab es für mich nicht mehr. Mittäterschaft war nicht dieses moralisch aufgeladene Modell, sie war schlicht eine Existenzform im patriarchalen Netz. Und wenn man sich in diesem universalen Netz auf eine andere Position stellt, dann hängt man in einem anderen Netz. Der Macht an sich entkommt man nicht. Daher auch mein Glaube, dass die Art des Netzes, in dem man sich bewegt, wichtig ist und einen Unterschied macht. Ich setze Hoffnung auf Gegenmächte, über die Thürmer-Rohr, so scheint es mir, nur lacht.
Ich denke etwa, dass Gender Mainstreaming eine Methode ist, mit der man ein neues Netz ziehen kann. Thürmer-Rohr dagegen würde niemals in den "Mainstream" wollen! Ich finde, dass Diversity ja quasi die Anwendung ihrer Pluralistäts-Theorie ist. Sie aber mokiert sich darüber, dass in Seminaren bunte Bälle verteilt werden, die unsere Unterschiede symbolisieren sollen. Als wäre plötzlich keine Gewalt mehr vorhanden in den Beziehungen. Kurz, sie misstraut allen Rezepten, die sich hier so geschmeidig in das kapitalistische System einfügen lassen. Sie denkt immer noch die Totalität - was ich schon lange aufgegeben habe. Ich will einfach nur irgendwo anfangen.
Das wirklich sympathische an Christina Thürmer-Rohr ist, dass sie das dann wieder schätzt: Gender Mainstreaming kann für sie ein Anfang sein, Diversity auch, aber alles nur "höchstens". Aber das Anfangen an sich, das Treten ins Offene, mal sehen, was da geschieht, das ist genau ihre Existenzform.
"anfangen" - Christina Thürmer-Rohr im Gespräch
Filmpremiere & Gespräch 14.10.2014 - 18:00 – 21:00, hbs Berlin
Trailer zum Film