Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann ist in Tunesien per Verfassung festgeschrieben. Doch wie steht es tatsächlich um die gleichberechtigte politische Teilhabe von Männern und Frauen? Die aktuellen Parlaments-und Präsidentschaftswahlen liefern erste Erkenntnisse.
Die politische Transition in Tunesien gilt als einziger Lichtblick im Arabischen Winter, der in den meisten Staaten direkt auf den gerade erwachten Frühling folgte. Mit den ersten freien Parlamentswahlen in seiner Geschichte am 26. Oktober 2014 konsolidiert das kleine Land das neue demokratische System und mit ihm die von der Verfassung festgeschriebene Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann.
Und sorgte einmal mehr für eine Überraschung: Die als säkular auftretende Partei Nidaa Tounes („Ruf Tunesiens“) ging als Siegerin aus der Wahl hervor und konnte so der stärksten Fraktion in der Verfassungsgebenden Versammlung, der konservativ-islamistischen Ennahdha („Wiedergeburt“), den Rang ablaufen. Nidaa Tounes hatte sich im Vorfeld der Wahlen als progressive Alternative präsentiert, die vor allem auch für Frauenrechte eintreten wollte. Die Frage ist nun, ob mit dem Erfolg von Nidaa Tounes die Gleichberechtigung tatsächlich durchgesetzt wird.
Politische Teilhabe oder politische Instrumentalisierung
Von Beginn an hatten die Frauen bei den Umbrüchen eine Schlüsselrolle gespielt, waren in der Öffentlichkeit genauso präsent wie ihre männlichen Mitstreiter und haben sich aktiv am Aufbau des demokratischen Staates beteiligt. Von Beginn an forderten sie politische Rechte für sich ein und setzten durch, dass die Prinzipien der Gleichberechtigung bei allen politischen Reformen zu berücksichtigen seien. Gruppen wie die Femmes Démocrates organisierten den Widerstand der Zivilgesellschaft, als die Ennahdha bei den Verhandlungen über den Verfassungstext das Geschlechterverhältnis als „komplementär“ (ar. mutakamil) statt „gleich“ (ar. mutasawi) kodifizieren wollte. Dass die Frauenfrage daher besonders in Zeiten des Wahlkampfes zur Instrumentalisierung einlädt, liegt nahe und ist in der Geschichte Tunesiens des Öfteren vorgekommen.
So zielte die Nidaa Tounes auf die Erwartungen potenzieller Wählerinnen, als sie Ende April 2014 in einer Presseerklärung bekannt gab, in den Wahlgesetzentwurf nicht nur „vertikale“ sondern auch „horizontale“ Geschlechterparität einbringen zu wollen: Demnach sollten nicht nur die Listenplätze paritätisch und alternierend mit Frauen und Männern besetzt werden, sondern auch deren jeweilige Spitzenpositionen in den einzelnen Wahlkreisen. Im kurz darauf verabschiedeten Wahlgesetz wurden mit Artikel 24 dann doch nur vertikale Parität und Alternanz verankert.
Trotz Quote: Die hohen Ämter sind fest in Männerhand
Hiervon jedoch hätte sich die Nidaa Tounes nicht beeindrucken lassen müssen, wäre es ihr mit der gleichberechtigten politischen Teilhabe von Frauen ernst gewesen – denn das Gesetz gibt ja nur eine Mindestanforderung vor. Doch bereits im August wollte die Partei von ihrem ursprünglichen Vorstoß nichts mehr wissen und besetzte zunächst genau eine Spitzenposition der 27 Wahllisten mit einer Frau. Dass dann doch eine zweite Spitzenkandidatin antreten konnte, verdankt sich der Tatsache, dass der Sohn des Gründers der Nidaa Tounes, Hafedh Caid Essebssi, „zugunsten einer Frau“ von seinem ersten Listenplatz zurückgetreten war, nachdem es heftige Kritik von Frauen- und Menschenrechtsaktivist/innen an der Aufstellung der Partei gegeben hatte. Immerhin ist die Nidaa Tounes mit dem höchsten Frauenanteil unter den bedeutenden Fraktionen im Parlament vertreten: Mit 41 Prozent liegt er bei der Wahlsiegerin auch im internationalen Vergleich relativ hoch – ebenso wie bei Ennahdha mit 39 Prozent. Dass trotz Parität und Alternanz keine nennenswerte Fraktion einen Frauenanteil von 50 Prozent erreicht, liegt an der angesprochenen Bevorzugung von Männern als Spitzenkandidaten in den einzelnen Wahlkreisen: Letztlich war es – eher als Maßnahmen der Parteiführung – vor allem die hohe Stimmenzahl landesweit, die viele weibliche Abgeordnete der Nidaa Tounes ins Parlament brachte.
„Nur eine Frau“: Staatsfeminismus in der Tradition Bourguibas
Die Nidaa Tounes stellt sich ganz explizit in die Tradition des Gründungsvaters und ersten Präsidenten der Tunesischen Republik Habib Bourguiba. Dieser hatte 1957 die radikalste Reform des Personenstandsrechts in der Arabischen Welt durchgesetzt, die unter anderem die Polygamie verbot, ein Mindestalter für Eheschließungen vorsah und die Vertretung von Frauen durch einen männlichen Vormund (ar. wali) abschaffte. Das Patriarchat wurde damit freilich mitnichten überwunden, sondern stattdessen ein reiner „Staatsfeminismus“ etabliert.
Der Verdacht drängt sich auf, dass zumindest einige Entscheidungsträger der Nidaa Tounes auch diesen Teil der Tradition übernommen haben. So verursachte der Gründer, Vorsitzende und Präsidentschaftskandidat der Partei, der fast 88-jährige Beji Caid Essebssi, der schon unter Bourguiba hohe politische Ämter bekleidet hatte, einen handfesten Skandal mit misogynen Äußerungen im Staatsfernsehen Wataniya 1. Er hatte die Erklärung einer Ennahdha Abgeordneten, Meherzia Labidi, mit den Worten abgetan: „Was soll ich sagen? Sie ist nur eine Frau“.
Aus der Mitte der Gesellschaft heraus lässt sich die Politik verändern
Für manche lässt sich die faktische Gleichstellung daher überhaupt nicht durch Parteien verwirklichen. So sieht etwa die in Italien lebende Historikerin Leila El Houssi im Gespräch die gegenwärtigen Parteien eher als Orte, an denen sich das Patriarchat besonders hartnäckig hält: „Was will man von männlich dominierten Parteien erwarten?“. Die Tochter des bekannten tunesischen Intellektuellen Majid El Houssi hat sich aus historischer Perspektive eingehender mit der Frauenfrage in Tunesien beschäftigt und setzt ihre Hoffnungen für die Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit in das Engagement der Zivilgesellschaft: „Ich glaube an die Frauen in Tunesien. Die Revolte von 2011 hat gezeigt, dass sie sich nicht mehr instrumentalisieren oder mit Krümeln abspeisen lassen, sondern zu selbstbestimmten Protagonistinnen geworden sind und durchaus in der Lage, ihre Stimme zu erheben. Sie werden die Gesellschaft von innen heraus verändern und früher oder später auch die Politik“.
Die weibliche Unterrepräsentation in politischen Spitzenämtern zeigt sich auch bei der Kandidatur um das Präsidentenamt, das am 23. November zur Wahl steht. Unter 23 Bewerbern gibt es nur eine einzige Kandidatin. Bezeichnender Weise tritt die Richterin Kalthum Kennu für keine Partei an, sie geht als unabhängige Anwärterin ins Rennen. Auf diese Weise kann sie ihre Sache direkt vertreten: die Sache der tunesischen Frauen.
Zuerst erschienen auf boell.de