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"Die kleinen Veränderungen sind die Mühe wert"

Lesedauer: 8 Minuten
Fotografin auf Demonstration in Mexiko Stadt
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Fotografin auf Demonstration in Mexiko Stadt

Die feministische Presseagentur Kommunikation und Information der Frau (CIMAC) setzt sich seit 1988 dafür ein, einen geschlechterdifferenzierten Journalismus zu stärken und die Lebenswirklichkeit von Frauen als Thema der Medien zu etablieren. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit ihrer Direktorin Lucía Lagunes über die spezifischen Risiken und Arbeitsbedingungen von Journalistinnen in Mexiko.

Mexiko ist eines der gefährlichsten Länder für Journalist/innen. Sind Frauen in journalistischen Berufen dort spezifischen Gefahren ausgesetzt?

Bei einer Risikoanalyse für Journalistinnen gibt es zwei grundlegende Themen: erstens die geringe Sichtbarkeit oder auch die geringe Bedeutung, die ihrer Arbeit gegeben wird. Zweitens die geringe Glaubwürdigkeit, die sie genießen. Es erhält sich das Vorurteil aufrecht, dass Frauen stark übertreiben, wenn sie eine Gefahr melden. Oder, dass sie sicherlich selbst etwas getan und damit die Gewalt provoziert haben. Die Gewalt wird dabei nicht unbedingt als Folge der journalistischen Arbeit gesehen. Deshalb denken Journalistinnen vor einer Anzeige mehrmals darüber nach, ob sie einer Gefahrensituation ausgesetzt sind. Und hier gibt es einen großen Unterschied im Vergleich zu männlichen Journalisten. Journalistinnen haben den Eindruck, dass sie durch eine Anzeige so angesehen werden wie die restlichen Frauen, dass sie beispielsweise wegen jeder Sache weinen oder nicht so mutig sind wie die männlichen Kollegen. Es gibt einen Drang, den Mut von Frauen zu zeigen – und zwar auf Kosten des eigenen Lebens.

Was genau meinen Sie mit geringer Sichtbarkeit?

Die Mehrheit der Journalistinnen, denen Gewalt zugefügt wird, sind Reporterinnen. Ihnen wird die Berichterstattung über die sogenannten weichen Themen zugewiesen: Bildung, Gesundheit, Justiz. Also nicht die Themen, die in der Nachrichtenwelt als stark angesehen werden, wie Politik und Wirtschaft. Ein Grund dafür, dass Gewalt gegen Journalisten und Journalistinnen in Mexiko zum Thema wurde, hatte mit der Abdeckung des Themas Organisierte Kriminalität zu tun. Wer darüber berichtet, wird bekannt. Medien beauftragen in der Tendenz immer mehr Männer damit. Das bedeutet natürlich auch ein Risiko für die Kollegen. Wenn man die ersten Daten zu Gewalt gegen Journalisten und Journalistinnen in Mexiko anschaut, sind dort vor allem Morde an oder Bedrohungen von männlichen Journalisten durch die Organisierte Kriminalität erfasst. Wir Frauen tauchten dort nicht auf. Das ist ein Aspekt der Sichtbarkeit. Wir haben weiterhin über die "weichen" Themen berichtet, aber auch damit begonnen, über Korruption zu berichten. Deshalb wurden und werden wir bedroht.

Welche Ansätze gibt es, um für die Situation von Journalistinnen zu sensibilisieren?

Reporter ohne Grenzen hat noch nie einen Bericht über die spezifische Situation von Journalistinnen veröffentlicht. Es ist nicht anerkannt, dass Gewalt gegen Journalistinnen mit ihrem Frausein zu tun hat. Ihre spezifischen Risiken in Gewaltkontexten werden nicht beachtet. Das macht sie verletzbarer.

Die Mehrheit der Empfehlungen zum Schutz von Journalistinnen in Kriegssituationen erwähnen kugelsichere Westen und Helme. Fälschlicherweise wird angenommen, dass das einzige Risiko für Frauen in einer Vergewaltigung besteht. Der Leitfaden einer internationalen Journalistenorganisation empfiehlt, eine Vergewaltigung dadurch zu verhindern, sich auf den Vergewaltiger zu übergeben oder zu behaupten, dass man HIV-positiv sei. Die Gender-Perspektive wird darauf reduziert, das Risiko einer Vergewaltigung zu erwähnen. Ungleichheit ist kein Thema. Auch verschiedene Gewaltformen, die neben der sexuellen Gewalt existieren, werden nicht erwähnt.

CIMAC hat kürzlich einen Ansatz entwickelt, um die Gewalt gegen Journalistinnen aus einer feministischen Perspektive zu erfassen. Dabei vereinen wir zwei grundlegende Rechte: das auf Meinungsfreiheit und das auf ein gewaltfreies Leben.

Im März wurde die bekannte Journalistin Carmen Aristegui entlassen. Was bedeutet dieser Fall, wenn man ihn aus einer geschlechterdifferenzierten Perspektive analysiert?

Die hohe Medienkonzentration in Mexiko lässt wenig Raum für Pluralität; auch im Radiosektor. Fünf Familien haben den gesamten Rundfunkbereich inne. Wenn man die Konzentration männlicher Stimmen im Radio dazu zählt, erzeugt das symbolisch eine noch größere Schwierigkeit, das Recht der Frauen zu unterstreichen Räume einzunehmen. In Mexiko moderieren Frauen nur 20 Prozent aller am Tag gesendeten Radio-Informationssendungen. Carmen Aristegui stellte die Hälfte davon. Sie war die einzige Frau, die allein eine Nachrichtensendung moderierte, ohne männlichen Kollegen. Es fehlt nicht nur die Präsenz einer weiblichen Stimme, sondern auch die gendersensible Sichtweise, die sie einbrachte. Ohne sie wären bestimmte Themen nicht in den öffentlichen Raum gelangt.

Zum Beispiel?

Der Fall Maude Versini, der Ex-Ehefrau von Arturo Montiel, der zwischen 1999 und 2005 Gouverneur des Bundesstaates Mexiko war. Versini klagte gegen ihren Ex-Mann, um wieder Zugang zu ihren Kindern zu bekommen (Anm. d. Red.: Montiel hatte die gemeinsamen Kinder nach deren Besuch in Mexiko 2012 nicht mehr zur Mutter nach Frankreich reisen lassen). Carmen Aristegui gab der Stimme Versinis Raum – im Unterschied zu anderen Medien, die ihr Anliegen als privat betrachteten. Die Berichterstattung über solche Themen führt dazu, dass mehr Frauen sich trauen, ihre Rechte einzuklagen. Ähnlich verhält es sich mit dem Fall von Góngora Pimentel, des ehemaligen Präsidenten des Obersten Gerichtshofes. Er ließ seine frühere Lebensgefährtin inhaftieren, nachdem sie den Unterhalt für sich und die gemeinsamen Kinder gefordert hatte. Er nutze seinen Einfluss, um die Zahlung zu vermeiden. Die genannten Fälle sind im Bereich Frauenrechte emblematisch geworden - und zwar in einem Maß, das zur Gründung einer Kampagne der "anderen Góngoras" führte, die von ihren Ex-Ehemännern Unterhalt einforderten.

Sie setzen sich seit vielen Jahren für einen geschlechterdifferenzierten Journalismus ein. Wenn Sie eine Zwischenbilanz ziehen müssten, wie sähe sie aus?

Wir haben noch einen sehr langen Weg vor uns. Vor kurzem wurde die Pekinger Aktionsplattform (Anm. d. Red.: Maßnahmenkatalog, der auf der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 beschlossen wurde) evaluiert. Im Kapitel J, das die Medien behandelt, lassen sich weltweit die wenigsten Fortschritte verzeichnen. Frauen kommen immer noch in nur 24 Prozent der Nachrichten weltweit vor. Außerdem stoßen wir auf enorme Einschränkungen, wenn es um den Zugang zu Informationsquellen geht. Im Bereich Wirtschaft sind Reporterinnen im Grunde inexistent. Im Bereich der politischen Beteiligung gibt es eine große Ungleichheit: Politikerinnen sind nur in 9 Prozent der gesamten politischen Nachrichten - sei es im Print- Radio- Fernseh- oder Onlinebereich - weltweit präsent. Davon ist die Demokratie grundlegend betroffen. 52 Prozent der Bevölkerung ist von der Wahrnehmung zweier Grundrechte ausgeschlossen: dem Recht auf Meinungsfreiheit und dem Recht auf Information.

Es gibt die falsche Vorstellung, dass ein gendersensibler Journalismus kein umfassender Journalismus ist - dass er nur spezifische "Frauenthemen" behandelt und das Journalistinnen mit einer Gender-Perspektive unvollständige Berichterstattung leisten. Wobei genau das Gegenteil der Fall ist: Wir beziehen die Pluralität ein, die die anderen nicht berücksichtigen.

Bei den Wahlen am 7. Juni gibt es das erste Mal eine 50-Prozent-Quote bei den Kandidaturen. Geht das mit Veränderungen in der Wahlkampfberichterstattung einher?

Wir haben den Diskurs hinter uns gelassen, in dem hinterfragt wurde, warum Frauen überhaupt Politik machen. Weil sie Frauen sind, mussten Politikerinnen in besonderer Weise ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen. Mittlerweile ist es gesetzliche Pflicht der Parteien, gleich viele Kandidatinnen aufzustellen. Aber es gibt keine ausreichende Abdeckung des Themas seitens der Politik. Es sickert immer noch das sexistische Stereotyp über "die Kandidatin" durch. Über Kandidatinnen wird nicht auf einmal stärker berichtet. Männliche Politiker vereinnahmen weiterhin die Berichterstattung - außer, wenn Kandidatinnen ermordet oder bedroht werden. Aber nach solchen Vorfällen ist wieder alles wie zuvor.

Wie berichten die Medien über die Kandidatinnen?

Vor drei Jahren führten wir eine Studie zur Berichterstattung über die politische Beteiligung von Frauen durch. Wir fanden heraus, dass nicht nur ein traditioneller Sexismus vorherrschte, in dessen Folge die traditionellen Rollen der Kandidatinnen als Mutter, Ehefrau oder Tochter dargestellt oder ihr physisches Erscheinungsbild beschrieben wurde. Darüber hinaus flossen zwei wichtige Elemente ein: Zweifel an der Führungsqualität von Frauen sowie an der Legitimität ihrer Führungsrolle. 2012 trat bei den Präsidentschaftswahlen die Kandidatin Josefina Vázquez Mota von der damaligen Regierungspartei PAN an. In den ersten drei Monaten des Wahlkampfes war sie in der politischen Berichterstattung sehr häufig vertreten, danach rutschte sie auf den dritten Platz ab. Sie war die erste Frau, die eine reale Chance hatte, Präsidentin zu werden. Aber die Verfasser von Leitartikeln begannen, ihre Führungsqualität anzuzweifeln. Ohne ihr explizit in Abrede zu stellen, dass sie dafür geeignet ist, ließen sie das in Kommentare und Karikaturen einfließen. Die politische Beteiligung von Frauen erstarkt derzeit. Das führt zu gewaltsamen Reaktionen, um ihren politischen Einfluss zu schmälern. Ich glaube nicht, dass es gerade große Veränderungen gibt, aber die kleinen Veränderungen sind die Mühe wert.

 

Weitere Informationen zum Thema:

Zur Person:

Lucía Lagunes ist Direktorin der feministischen Pressagentur Kommunikation und Information der Frau (CIMAC). Die Soziologin begann ihre journalistische Karriere bei der Tageszeitung La Jornada. Sie forscht über Arbeitsbedingungen von Journalistinnen und setzt sich für einen nicht-sexistischen Journalismus ein.

 

Gewalt gegen Journalistinnen in Mexiko:

Laut CIMAC gab es im Zeitraum 2002 bis 2013 184 Fälle, in denen Journalistinnen in Mexiko Gewalt erfahren haben, darunter 11 Feminizide. In allen mexikanischen Bundesstaaten waren Journalistinnen betroffen. In einigen Bundesstaaten konnten die Fälle nicht zur Anzeige gebracht werden, weil die Opfer Vergeltung befürchteten. Die meisten Angriffe ereigneten sich im Hauptstadtbezirk, Oaxaca und Veracruz. Die Angriffe gegen Journalistinnen stiegen in dem Zeitraum um mehr als 2.200 Prozent. Im Falle der männlichen Journalisten waren es 276 Prozent. Weitere Informationen zum Thema finden Sie auf der Nachrichtenseite Cimacnoticias.

 


CIMAC ist Partnerorganisation der Heinrich-Böll-Stiftung.

Das Interview entstand während Lucía Lagunes Teilnahme an der Veranstaltungsreihe „Lateinamerika gegen den Malestream? Geschlechterdemokratie unter der Lupe“ des Lateinamerikareferats der Heinrich-Böll-Stiftung. Es erschien zuerst in der Juni Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten (LN 492). Der Nachdruck von Artikeln aus den Lateinamerika Nachrichten ist erwünscht; unter Angabe der Quelle und nach vorheriger Rücksprache mit der Redaktion (redaktion@ln-berlin.de).