Am 15. Februar sprachen wir gemeinsam mit Mithu Sanyal, Emilia Roig, Katja Grieger und Christina Clemm über sexualisierte Gewalt als andauerndes Kernthema feministischer Kämpfe.
„2016 war das Jahr der sexualisierten Gewalt“, stellt die Autorin von ‚Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens‘, Mithu M. Sanyal gleich zu Beginn ihres Inputs fest. Die Silvesternacht in Köln, die Sexualstrafrechtsreform, der Fall Gina-Lisa Lohfink und schließlich der US-Wahlsieg von Donald Trump – sexualisierte Gewalt, so scheint es, ist spätestens im vergangenen Jahr als Thema in der Mitte der Gesellschaft angekommen, allseits diskutiert und ernsthaft problematisiert worden.
Doch 2016 war auch das Jahr, in dem „der Feminismus“ aufgrund vermeintlich verfehlter Identitätspolitik heftig angegangen wurde, in dem sich Antifeminismus und Antigenderismus als Kitt zwischen bürgerlicher Mitte und rechts außen weiter verfestigt haben und in dem zeitgleich mit der Reform des §177 die Abschiebung von Sexualstraftäter*innen erleichtert wurde.
Während auf der einen Seite die Gewalt gegen (bestimmte) Frauen als Problem anerkannt wurde, wurde (sexualisierte) Gewalt im gleichen Atemzug für rassistische Argumentationen instrumentalisiert und zum Importobjekt des kulturell „Anderen“ erklärt.
Worüber wird also gesprochen, wenn über sexualisierte Gewalt gesprochen wird? Was ist und wie funktioniert sexualisierte Gewalt hier in Deutschland? Und unter welchen Bedingungen ist Veränderung möglich? Diesen Fragen gingen Mithu Sanyal, Christina Clemm (Anwältin für Familien- und Strafrecht), Emilia Roig (Aktivistin und Intersektionalitätsforscherin) und Katja Grieger (Leiterin des Bundesverbands Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, bff) in einer Podiumsdiskussion nach. Ines Kappert, die Leiterin des Gunda-Werner-Instituts moderierte.
Warum der Kampf für vielfältige Identitäten ein Kampf gegen Gewalt ist
Im Zuge der sexualisierten Übergriffe in Köln wurde Feminist*innen, die sich gegen die rassistische Instrumentalisierung wehrten, Naivität und Vertuschung vorgeworfen. Doch der feministische Kampf gegen Gewalt, gegen sexualisierte Gewalt und deren Bagatellisierung als „normal“ impliziert auch einen Kampf für den Respekt gegenüber vielfältigen Identitäten, gegen Rassismus – und umgekehrt. Die Analyse von Gewaltverhältnissen führt zwangsläufig zu der Erkenntnis, dass das Subjekt des Feminismus nicht allein die weiße Frau sein darf, und dass der Kampf gegen Gewalt eines sicher nicht ist: ein Luxusproblem. Das stellte Ines Kappert mit Nachdruck fest.
Sprache ist kein Nebenwiderspruch
Gleich zu Beginn der Diskussion wurde klar: Entscheidend für die Bewertung aus feministischer Perspektive ist nicht nur, dass über sexualisierte Gewalt gesprochen wird, sondern auch wie über sexualisierte Gewalt gesprochen wird. „Sprache ist kein Nebenwiderspruch beim Sprechen über sexualisierte Gewalt“ (Sanyal). Um erfolgreiche Strategien gegen sexualisierte Gewalt zu entwickeln, darf die symbolische Ebene nicht vernachlässigt werden. Egal ob mit pussy hat oder Twitter-Kampagnen – es müssen Zeichen gesetzt werden.
Mythen, die für alle gefährlich sind
Bei keinem Thema sind – gerade geschlechterbezogene – Mythen so unangefochten, wie beim Denken und Sprechen über sexualisierte Gewalt, kaum ein Thema ist derart fest in den Händen von Essenzialismen. Konsequent dekonstruiert Sanyal diese Vergewaltigungsmythen – in ihrem Buch und auf dem Podium: Nein, nicht alle Männer sind potenziell Vergewaltiger und nicht alle Frauen sind potenziell Opfer, auch führt nicht jede Vergewaltigungserfahrung zwangsläufig ins „ewige Leid“ und nein, schon gar nicht ist immer der „schwarze Mann“ der Aggressor. „Scheinbar muss man das ja immer wieder sagen…“ ist ein Satz, der mehrfach fällt an diesem Abend.
Was uns die Zahlen sagen können
Viel weniger als Mythen, gibt es verlässliche Zahlen zu sexualisierter Gewalt: Katja Grieger zitiert eine Studie aus dem Jahr 2004, derzufolge jede siebte Frau einen nach dem alten Strafrecht relevanten Übergriff erlebt hat. Von diesen Straftaten wurden gerade einmal 10% angezeigt und wiederum nur 10% der daraufhin angestrengten Prozesse führten zu einer Verurteilung. Sexualisierte Gewalt gegen Männer wird bis heute nicht einmal erfasst – und hier verbinden sich Mythen und Zahlen, denn wenn das männliche Geschlecht das vergewaltigende ist, warum sollte der Mann als Opfer überhaupt statistisch erfasst werden? Bestimmte Konstellationen scheinen ebenso undenk- wie unsagbar.
Nicht nur sexualisierte Gewalt gegen Männer gehört zu diesem Feld des Unsagbaren, sondern auch Übergriffe gegen Trans*Menschen und gegen rassifizierte oder geflüchtete Frauen. Es sind die Bilder von einer potenten, aggressiven Männlichkeit, die Männer zu potenziellen Gewalttätern machen, ebenso wie die rassistischen Bildern der verfügbaren, willigen Frau, die dazu führen, dass bestimmte Frauen nicht als schutzbedürftig gelten. Und deshalb auch keinen Schutz erhalten. Die symbolische Ebene hat direkte Auswirkung auf die materielle Realität. Sexualisierte Gewalt zu bekämpfen heißt deshalb auch essenzialisierende, sexistische und rassistische Diskurse zu bekämpfen. „Je ‚fremder‘ der Täter, desto höher die Strafe“, stellt Christina Clemm in einem desillusionierten Statement zu Alltagssituationen im Gericht fest und gibt damit ein eindrückliches Beispiel dafür, wie Narrative als Diskriminierung Wirkmächtigkeit entfalten. Clemm‘s Fazit: „Rassismus ist im Gerichtssaal wieder aussprechbar geworden.“
Barrieren beim Zugang zum Recht
Doch nicht erst die Entscheidungen im Gerichtssaal, sondern bereits der Zugang zum Recht sind keinesfalls neutral und für alle Menschen gleich: Neben dem „richtigen“ – und damit dem weiblichen – Geschlecht sind die Übereinstimmung mit Weiblichkeitsvorstellungen zentral für die Möglichkeit zur Strafverfolgung sexualisierter Gewalt. Frauen, die nicht den vorherrschenden Schönheitsnormen entsprechen sowie Frauen mit Behinderung und nicht weiße deutsche Frauen werden beim Versuch der Anzeige oft dadurch erneut zum Opfer, dass das an ihnen begangene Verbrechen nicht als Tatbestand geglaubt bzw. als Verbrechen anerkannt wird.
Unter welchen Bedingungen Veränderung möglich ist
Was also können wir tun, um die vorhandenen Instrumente gegen sexualisierte Gewalt effektiver zu nutzen und neue zu entwickeln? Alle Beteiligten sind sich einig, dass auf der diskursiven Ebene gegen all jene diskriminierenden Argumentationsmuster vorgegangen werden muss, die bestimmte Gruppen zu Tätern, andere zu Opfern und wieder andere zu unmöglichen Opfern stilisieren. Anti-sexistische und anti-rassistische Diskurse dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Auf der praktischen Ebene, sagt Katja Grieger, „einfach weiter das tun, was wir tun“, – heißt: Empörung und Solidarität organisieren und in die Öffentlichkeit tragen. Es geht um die Frage, womit sich unsere Gesellschaft bereit sei abzufinden. Dazu dürfe Gewalt gegen Frauen nicht zählen. Sie müsse zu einem Thema der öffentlichen und inneren Sicherheit werden, denn es stelle sich immer wieder die Frage: An wessen Sicherheit denken wir, wenn wir über innere Sicherheit in diesem Land nachdenken?
Mithy Sanyal und Christina Clemm fordern darüber hinaus Konsens-Trainings, denn um im alltäglichen Leben nicht bei Nein-heißt-Nein hängenzubleiben, müssten wir nicht nur wissen, was wir in sexueller Hinsicht nicht wollen, sondern vor allem was wir wollen. Auch direkte Interventionen, wie die des Fräulein read on, die geflüchteten und nicht geflüchteten Männern Sexualaufklärung anbietet, werden lobend hervorgehoben.
Heraus auf die Straße, heraus zum 8. März
Mit dem Stichwort women’s march in den USA kommt schließlich noch die Frage nach der Sichtbarkeit auf der Straße auf. Wie wichtig ist sie für feministische Kämpfe gegen Gewalt? Zu dieser letzten Frage gibt es unterschiedliche Positionen auf dem Podium: während Christina Clemm sich als Demoliebhaberin und Befürworterin einer großen Mobilisierung ausspricht, nimmt Katja Grieger eine zwar befürwortende, zugleich aber auch skeptisch Position ob der Möglichkeit einer großen Mobilisierung ein. Emilia Roig hingegen entscheidet sich für ein „Mobilisierung, ja, aber Botschaften sind wichtiger“. Die große Mobilisierung des women’s march sei zwar ein Gänsehautmoment gewesen, doch worum gehe es ihm eigentlich? Mobilisierung dürfe nicht zu einem Verlust an politischem Inhalt führen und sie müsse aktiv inklusiv sein, so dass alle einen Platz finden.
Verhindern, dass die Geschichte sich wiederholt
Denn schließlich wollen wir nicht, dass die Geschichte sich wiederholt. Mithu Sanyal weist darauf hin, dass die erste Frauenbewegung ursprünglich auch abolitionistische Positionen vertrat. Erst durch die gezielte Propaganda, schwarze Männer würden massenhafte weiße Frauen vergewaltigen, spalteten sich die Bewegungen. Eine Welle von Gewalt, bekannt als der rape-lynching-complex, war die Folge.
Mitschnitt der Veranstaltung vom 15.2.2017