Wafa Mustafa: Wer steckt hinter diesem Namen?

Im Interview entfaltet sich das bewegende Narrativ einer jungen Frau, die von Kämpfen, Depressionen und Widerstandskraft erzählt. Wafa blickt zurück auf die Proteste in Syrien und ihre eigene Geschichte.

Wafa wurde im Jahr 2011 verhaftet. Die Proteste gegen das Assad-Regime hatten begonnen, und wurden zahlreicher und heftiger. Unruhen brachen regelmäßig in verschiedenen syrischen Städten aus. Die syrischen Behörden griffen landesweit hart gegen die Protestanten durch, um den wachsenden Widerstand gegen die Regierung zu unterdrücken. Dabei verhafteten sie viele Zivilisten. Darunter waren auch Studierende, die für ihren Aktivismus ins Gefängnis gesteckt wurden. Wafa Moustafa, jetzt eine BA1-Studentin im HAST-Programm am Bard College Berlin, war eine dieser Student*innen. „Es war schwierig“, berichtet sie mir. „Zu dem Zeitpunkt haben sie nicht so oft Mädchen verhaftet, also hatten sie keine Ahnung, wie sie uns behandeln sollten.“ Nachdem sie mehrere Male für ihre Ungehorsamkeit mit Schlägen bestraft wurde, entschied sie sich, in einen Hungerstreik einzutreten. Das stellte sich aber, neben schwerem Asthma und einem nicht diagnostizierten Magenproblem, als unerträglich für sie heraus. „Sie riefen einen Arzt an, der mich mit Spritzen zwangsernährte. Ärzt*innen hier helfen dir nicht, sie arbeiten alle für das Regime.”

Im Jahr 2011 bekam die Welt sehr wenig von der Situation in Syrien mit. Trotz Warnungen der Vereinten Nationen, dass der Konflikt dort sich immer mehr zu einem regelrechten Bürgerkrieg entwickeln würde, verschloss die internationale Gemeinschaft die Augen. Im politischen Chaos verankert, begannen die Menschen in Syrien ein anderes Leben zu führen. Wafa erinnert sich, dass sie nach einer Weile nicht einmal ihr Heimatdorf besuchen konnte, weil Anhänger*innen des Regimes es übernommen hatten. „Anfangs bin ich jede Woche nach Hause gegangen, aber plötzlich waren meine Besuche eingeschränkt. Sie unterdrückten jeden, der gegen das Regime war, mit allen möglichen Mitteln. Manche töteten sie, Verhaftungen und Schikanen waren alltäglich.“

Die Verhaftungen eskalierten, als die Regierung ihre Behörden mit voller Wucht gegen die Demonstrant*innen einsetzte. Nachdem ihr Vater verhaftet wurde, musste Wafa nach Aleppo fliehen. „Ich konnte niemandem etwas erzählen. Als ich mit meiner Mutter über Skype telefonierte konnte ich ihr nicht sagen wo genau ich war, denn falls sie es wüsste, konnten die Behörden sie foltern bis sie es ihnen verriet.“ Die Situation verschlechterte sich zusehends. Schulen begannen damit, Schüler*innen auf Grund ihrer politischen Zugehörigkeit abzulehnen.

„Ich konnte nicht zur Universität zurückkehren. Dort wussten sie, dass ich als Teilnehmerin an den Protesten verhaftet worden war. Mein Name war öffentlich auf einer schwarzen Liste, also musste ich meine Ausbildung vorübergehend abbrechen. Wohin du auch gingst, versuchte jemand, dir eine Falle zu stellen. Es war, als wären wir von Spionen umgeben.“ Sie protestierte weiterhin mit voller Energie und begann in verschiedene syrische Städte zu reisen, um dort an den Protesten teilzunehmen. Lokale Demonstrationen bildeten sich häufig, waren dann aber oft auch schnell vorbei. So verging die Zeit. „2012 war ziemlich ruhig“, erinnert sich Wafa. „Aber meine Freunde und Familie begannen langsam zu verschwinden. Mal wurde einer getötet, und mal wurde einer verhaftet. Leute, die ich liebte, starben einer nach dem anderen.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte Wafa schwere gesundheitliche Probleme. Was sie ursprünglich als Magenerkrankung wahrgenommen hatte, erwies sich als chronische Angststörung und Depression. Erschüttert von dem Schock dieser Diagnose, und um diesen Schock zu bewältigen, protestierte sie noch mehr als zuvor. Aber im Jahr 2013 änderte sich alles. Sie fand heraus, dass ihr bester Freund gestorben war. Wafa hatte viel Zeit mit ihm verbracht und sie waren sich sehr nah, erinnert sie sich.

„Ich hielt mich selbst immer für sehr stark, vor allem während viele meiner Freunde und Familienmitglieder starben, aber dann konnte ich einfach nicht mehr.“ Dann kam die Spirale in den Abgrund. „Ich habe das Haus drei Monate lang nicht verlassen“, sagt sie mit einem Seufzer. Sie verbrachte ihre Zeit nur noch in ihrem Zimmer und verließ es nur noch, um ins Bad zu gehen. Selbst das konnte sie nur mit der körperlichen Unterstützung ihres Vaters, den die Behörden freigelassen hatten. „Ich konnte nicht mehr gehen. Ich hatte acht Kilogramm abgenommen und wog nur noch 47 Kilogramm. Ich war sehr schwach, und ich dachte, dass dies das Schlimmste war, was mir passieren könnte … aber dann haben sie wieder meinen Vater ins Visier genommen“.

„Am Ende war es mein Vater, der mich zum Arzt brachte. Er und ich hatten immer eine sehr enge Beziehung und er wusste, dass es mit mir nicht so weitergehen konnte. Meine Familie war damals in Damaskus und er versprach mir, dass ich sie besuchen konnte, wenn ich wieder gesund war. Aber am 2. Juli holten sie ihn von unserem Haus ab. Er wurde in ein Gefängnis gebracht. Ich weiß nicht, wo er ist, und ich habe seit drei Jahren nichts von ihm gehört.“

Wafa wusste, dass ihr Vater ihr einmal gesagt hatte, wenn er verhaftet würde, müsste sie sofort fliehen. „Also sind wir gegangen. Wir flohen in die Türkei und nahmen nichts mit. Keine Pässe, keine Telefone, keine Kleider, falls wir am Kontrollpunkt angehalten wurden. Mit der Hilfe von Verbindungen fanden wir eine Unterkunft. Wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich, dass dies der schlimmste Punkt meines Lebens war.”

Immer mehr Leute überquerten die Grenze, um aus Syrien in die Türkei zu kommen. Die Menschen suchten nicht nur Schutz und Sicherheit, sondern auch Arbeit. Viele Leute suchten Arbeit, aber es gab nicht unbedingt mehr Arbeitsplätze in der Türkei. „Ich hatte keine Erfahrung, also konnte ich nicht einfach einen Job bekommen. Meine Migräne-Anfälle wurden schlimmer, ich konnte nicht essen, ich konnte nicht schlafen, ich war in einer schlimmen Depression, und konnte es niemandem sagen. Es hat einfach nicht aufgehört, weißt du?

Der Umzug in ein anderes Land ist hart genug, und deutlich schwieriger, wenn frau* und mann* nichts als den nackten Überlebenswillen mehr hat. Frau* und Mann* ist gezwungen, ein Leben zu führen, das frau* und mann* sich nicht ausgesucht hat. Weiterzuarbeiten kostete Wafa unermesslich viel Kraft, aber sie wusste dass sie jetzt nicht aufgeben konnte. So arbeitete sie drei Jahre lang, manchmal zwei oder drei Jobs auf einmal, während sie mit ihrer schweren Depression kämpfte. Nach einem zweimonatigen Training bekam sie einen Job bei einem Radiosender, der die syrische Revolution unterstützte. Sie arbeitete pausenlos und wurde schließlich zur Leiterin der Nachrichtenabteilung befördert. Sie arbeitete sogar für ein arabisches Mitteilungsblatt und schrieb täglich Feldberichte über die Situation in Syrien. „Immer wenn ich eine Pause machte und nicht arbeitete, wurde ich fast verrückt. Ich habe täglich 17 bis 18 Stunden gearbeitet; Ich ging selten nach Hause und habe manchmal meine Familie zwei Tage lang nicht gesehen. Es war so schlimm, dass ich überlegt habe, mich umzubringen. Ich habe viel darüber nachgedacht. Und dann wusste ich, dass es Zeit für mich war, zum Arzt zu gehen.“

Es brauchte Zeit, aber Schritt für Schritt wurde es besser. „Ich habe angefangen, an einer Kampagne gegen den IS zu arbeiten. Er dauerte aber nicht lange, bis ein Mitglied der Kampagne in seiner eigenen Wohnung ermordet aufgefunden wurde.” Das war dann der Zeitpunkt, als ihr die deutsche Bundesregierung politisches Asyl anbot.

Wafa kam Ende März 2016 nach Deutschland. Ihrer älteren Schwester wurde am Bard College in Annandale ein Studienplatz angeboten, also beschloss Wafa sich beim Bard College Berlin zu bewerben. „Ich hatte enorme Angst. Ich wollte meine Mutter und meine jüngere Schwester nicht alleinlassen, aber ich konnte wegen den Schwierigkeiten mit dem IS nicht zurückkehren.“ Geradezu gezwungen die Türkei zu verlassen, beschloss Wafa, sich auf ihre Ausbildung zu konzentrieren. Es war keineswegs ein leichter Start. Nachdem sie aktiv an einer Revolution teilgenommen hatte und viel Zeit ihres Lebens damit verbracht hatte, entweder zu fliehen oder zu protestieren, war sie plötzlich gezwungen, sich an einem Ort niederzulassen. Das war nicht einfach. „Ich habe sechs Jahre lang nicht studiert und war viel älter als alle anderen. Ich fühlte mich wie ein Pokémon!“, lacht sie. Ihr Lachen verschwindet und sie fügt ernst hinzu: „Aber es war sehr schwierig. Einige meiner Kommiliton*innen haben über mich gelacht, weil ich manche Wörter anders aussprach.“ Sie beißt sich auf die Lippe und ist sichtbar verlegen. „Ich weinte jeden Tag stundenlang in meinem Zimmer. Ich wollte in Syrien kämpfen, aber stattdessen war ich in Deutschland. Ich fühlte mich völlig entwurzelt. Ich brauchte jeden Morgen dreißig Minuten, um aus dem Bett zu kommen. Ich musste mich täglich selbst überzeugen, dass ich es schaffen würde durch den Tag zu kommen.“.

„Das Studium hier ist ein Luxus im Vergleich zu dem, was in Syrien passiert“, flüstert sie. „Alle, die ich kenne, ist entweder tot oder verhaftet worden, und ich müsste eigentlich bei ihnen sein und dort mit ihnen kämpfen. Aber ich kann nicht mehr. Ich müsste kämpfen, aber ich kann es nicht. Momentan scheint alles nutzlos zu sein.“ Ihre Körperhaltung ist schlaff geworden und sie spielt abwesend mit einer Serviette.

Plötzlich, als ob sie an etwas ganz Neues denkt, richtet sie sich auf und sieht mir in die Augen. „Ich bin stolz darauf, was aus mir geworden ist“, verkündet Wafa. „Mir geht es gut. Ich belege interessante Kurse und ich habe enge Freunde, mit denen ich gerne Zeit verbringe.“ Wafas Noten sind ausgezeichnet und sie findet, dass sie sich allmählich ans Leben in Berlin gewöhnt. „Ich werde immer mehr so wie ich in Syrien war, und das finde ich toll“, lächelt sie. „Die Wafa in Syrien war unglaublich. Sie war stark und aktiv und nichts konnte sie aufhalten. Ich bin auf meinen Zustand in der Türkei nicht stolz, aber ich bin stolz darauf, wie ich diese Phase überwunden habe.“

Das Syrien, das wir heute kennen, ist in Trümmern, und viele haben sehr um das Land gekämpft. Noch heute wünscht sich Wafa, dass sie wieder in ihr Land zurückkehren kann und um es kämpfen kann, aber sie weiß, dass sie jetzt woanders sein muss. „Kann ich dir etwas verraten, Tanya?“ Sie kommt näher. „Die Revolution hat nicht einfach mein Leben verändert. Sie hat mein Leben wiedererschaffen. Ich habe meine Freunde, meine Familie, mein Leben und mein Land verloren. Aber ich habe mich selbst gewonnen.“ Und genau so eroberte Wafa Mustafa die Welt.

 

Dieser Artikel erschien zuerst beim Aktionsbündnis "Wir machen das". Der Originalbeitrag hier.


Dieser Text wurde in englischer Fassung zuerst auf dem Blog des Bard College Berlin “Die Bärliner” veröffentlicht.

Die Übersetzung stammt von Emma Jacoby, die auch am Bard College studiert.

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