Ein Gedicht über Einsamkeit und eindringliche Erinnerungen - im Rahmen von Weiter Schreiben - ein literarisches Portal für Autor*innen aus Krisengebieten.
1
Ich sitze jetzt einsam
am runden Tisch
ich sitze rund
um mich selbst herum
gleiche jetzt einem Tisch, an dem niemand sitzt
sitze jetzt
irgendwie
rieche nach Tabak
und Verlust.
Mein Herz ist ein Schrank voll mit Kleiderbügeln
und Beziehungen wie Andenken
mein Kopf ist eine rostige Sardinenbüchse
wenn der Wind ihn bewegt
höre ich das Miauen eines verirrten Katers
wenn Kinder mit Steinen nach mir werfen
rollt er zur Mülltonne
wenn ich nach der Zeit frage
werde ich dem Nichts geöffnet
wenn ich frage
werde ich leicht wie nichts.
Rechts von mir Wind
links von mir Wind
Wind holt mich ab
Wind setzt mich ab.
Je höher ich dem Boden des Gedankens entschwebe
desto mehr sehne ich mich nach dem Fall
auf die scharfe Wirklichkeit.
Ich bin ein Stein, der ans Fliegen denkt
sitze wie ein alter Gott auf der Schwelle meiner Trübsal
und denke nach
überlege, ein neues Gedicht zu schreiben
über eine Frau, die ich nicht kenne
überlege, ein Bild zu malen
von einer Frau, die nicht kommt
überlege, wie ich sie zu einer Tasse Tee einlade
ich denke an den langen Weg, der zur Tür meines Hauses führt
denke an den langen Weg, der zu meinem Haus führt
denke an den langen Weg zu meinem Haus
denke an den Weg zu meinem Haus
denke an mein Haus
dann denke ich darüber nach
einen Griff für die Tür zu kaufen
und eine Tür für die Wand
und eine Wand für uns
aber jetzt habe ich Hunger
und will das alles beenden
dann will ich alleine weinen
und schlafen.
2
Ein Lastwagen, beladen mit Leichen
kreist immerzu in meinem Kopf
überrollt auf der Fahrt die Geister derer
die ich einmal geliebt habe
und reißt ihre Überreste mit.
Schwarz und feucht dampft es hinten heraus
ohne Ende
ohne Namen, ohne Gedanken
ohne Stimme, nur ein chronischer Lärm
und der Geruch von verendeten Erinnerungen.
Schließe ich die Augen, dann schrumpft sein Dasein
auf eine Träne zusammen.
Er fährt los, geht in die Kneipe
betrinkt sich
schüttelt jedem die Hand
küsst alle
beschimpft sie
und kommt zurück
bevor ich aufwache.
Ein Lastwagen, betrunken
und traurig
schlingert durch die Dunkelheit in meinem Schädel
kriecht vorwärts ohne Räder
ohne echten Körper
sucht auf schmalen, rutschigen Wegen
nach dem Ende
oder nach einem flüchtigen Gedanken.
Ein Lastwagen, betrunken
und wütend
zum Bersten voll mit Leichen
kreist
und kreist
seit der Zeit vor den Göttern
seit der Zeit vor der Zeit
für nichts
für niemanden
einfach nur,
weil er ein Lastwagen ist
weil es einen Kopf gibt
weil er etwas tun muss.
3
Ein abgetrennter Kopf in meinem Kühlschrank.
Ich weiß nicht, was er an so einem kalten Ort macht.
Das heißt, jemand hatte gestern
im Schlaf keine Albträume.
Ich kann mit dem Ding auf der Schulter
durch die Straßen gehen
und mit allen sprechen
ohne dass jemand etwas bemerkt.
Bemerkt, dass die Wörter nicht an der richtigen Stelle herauskommen.
Ich kann das Ganze doch einfach ignorieren
und in mein Leben zurückkehren
heiraten
und Kinder in die Welt setzen
alt werden
dann sterben.
Meine Kinder erben den Kühlschrank
eines nach dem anderen macht ihn auf
nimmt das Ding
geht durch die Straßen
spricht mit allen
ohne dass uns jemand bemerkt.
4
Ich wache auf
ein Baum liegt neben mir.
Es ist wohl der Durst
der uns hierher verschlagen hat, denke ich.
Ich gehe in die Küche
ein Bär sitzt am Tisch.
Ich muss wohl viele Türen
offen gelassen haben
in meinem Leben.
Ich ignoriere ihn einfach ein paar Jahre, sage ich mir
dann verschwindet er schon
oder
er wird zu Luft.
Ich drehe den Wasserhahn auf
heraus kommt ein Fisch
ein zweiter
ein dritter
vielleicht ist ein tollwütiger Jäger
hinter ihnen her
ich überlege
wenn ich ihnen eine Heimat gebe,
leben sie vielleicht einen Tag länger.
Ich stöpsele den Abfluss zu
und trinke zusammen mit
den Fischen
dem Bären
dem Baum
dann gehe ich hinaus ins Freie
und heule.
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