Das Herz eines Wolfs kochen

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Tinte auf Papier, 25 x 25 cm (2017)

Übersetzung: Suleman Taufiq

 

Auszug aus einem Roman.

Wölfe werden hier immer nur mit Männern in Verbindung gebracht: Männer essen ihre Herzen und die Wölfe essen ihre. Wölfe werden Männer und verwandeln Männer in Wölfe.
Frauen hingegen werden mit Schlangen, Skorpionen, Eulen, Mäusen, Katzen oder Kaninchen assoziiert. Mit Wölfen nicht.
Wie soll ich nur von mir erzählen?

1
Meine Großmutter riss den Kopf der Puppe heraus und ließ mich ihr langes Kleid mit den Puffärmeln anziehen. Sie setzte mich auf ihren Schoß und ich erstarrte zu einem Totem.

Ich bin Mala, fünf Jahre alt. Wie ein Traum: Das Gruppenbild vor einer alten Kamera bei der endlosen Trauerfeier für meinen Vater. Meine Großmutter glaubte, es sei von einem namenlosen Fotografen aufgenommen worden, der uns gebeten hatte zu lächeln. Doch dann lächelte nur er und verschwand und wir setzten unser Schweigen fort: „Du und deine Mutter, ihr seid zwei geröstete Weizenkörner“, flüsterte sie mir ins Ohr meines Traums, während ich reglos auf ihrem Schoß saß, ohne zu atmen oder zu blinzeln. Großmutter mag keinen gerösteten Weizen und sie mag auch keine schwarzen Menschen und Frauen auch nicht.

Meine Großmutter Oum Fadi Al Akkasch und ich sitzen mitten in der ersten Reihe. Rechts von uns thront meine älteste Tante, Madi Al Sabouni, die Zwillingsschwester meines verstorbenen Vaters, blond und groß wie Sonnenstrahlen. Sie hatte das typische Gesicht der Al-Sabouni-Familie, quadratisch, Mandelaugen und runde Lippen. Links von uns sitzt mein mittlerer Onkel Schadi Al Sabouni. Ihre Namen reimen sich: „Madi und Schadi“. Mein Vater, der älteste Sohn, hieß Fadi. Schadi ist – wie alle Männer der Familie Al Sabouni – ein kleiner Riese mit einem stinkend scharfen Geruch an sich, der sich über mich ergoss, wenn sein Körper meinen berührte, und er schnaufte wie ein Maultier. In der hinteren Reihe steht meine jüngste Tante Maryam, mit dem Schädel und der Blondheit der Al-Sabouni-Familie, dem kleinen Körperwuchs, den blauen kleinen Augen und den zarten Lippen der Alakkasch-Familie. Sie sah aus wie ein unschuldiges, glückliches Kind aus der Fernsehwerbung für Babypuder. Neben ihr steht eine kleine, hagere, graue Gestalt, die versteinert in die Leere schaut. Es ist meine Mutter, wie ich sie zum letzten Mal auf dem Leichenwaschtisch sah.

Meine Großmutter hat meinen Vater gegessen und ihn dann als goldene Bestie aus ihrem großen Hintern wieder ausgeschieden, so hörte ich. Ich glaube, ich habe eines Abends gelauscht, als sie es meiner Mutter erzählte. Mein Vater hat mehrmals vor und nach meiner Geburt versucht, meine Mutter zu essen. Als er daran scheiterte, starb er.

Ich bin Mala mit einem Puppenkopf und einem zerrissenen langen Kleid. Meine Großmutter brüllte, ich hätte das Kleid in der letzten Nacht zerrissen. Ich hätte versucht, die Puppe zu essen, und sie habe sie vor meinen Zähnen gerettet. Meine Mutter hat mich nicht gerettet!

Ich verließ die Trauerfeier und hinkte davon im Körper der kurzbeinigen Puppe, die einen geschwollenen Bauch hatte. Ich ging zu den Granatapfelbäumen, die mit einem Stacheldrahtzaun die Grenze hinten im Garten bildeten. Sie wurden manchmal von schwarzen Vögeln besucht, die auf dem Weg zur nächsten Stadt waren, wo die Menschen fröhlicher lebten.
„Verjagt sie aus diesem Rattennest!“, brüllte meine Großmutter und der Ton schwebte in der Leere über der Erde. Ein großer, furchterregender Vogel, ein Vogel aus Gebrüll. Ich floh mit den schwarzen Vögeln und den Ratten. Wir versteckten uns in goldenen Weizenfeldern, zwischen Ähren mit gerösteten Körnern. Ich stolperte in meinem zerrissenen Kleid.

Ich heiße Mala und bin fünf Jahre alt. Ich habe keine Angst vor schwarzen Vögeln oder Ratten, aber Geschrei verwirrt mich.
Ich betrat den separaten Raum. Dort war das Außenbad, das selten benutzt wurde. Das Badezimmer war eine Art Lager für eine manuelle Waschmaschine mit zwei Wannen, eine für die Wäschebank, die andere für die Mühle und den Weizenmörser. Mein Onkel Schadi nahm mich mit in dieses Badezimmer. Er schlich dort immer herum, wenn sich ihm die Gelegenheit bot. Ich ließ die schwarzen Vögel und die Scharen von Ratten, die gegen die Stimme meiner Großmutter ankämpften, hinter mir und ging in dieses Badezimmer. Dort gab es überall schwarze Federn und getrocknetes Blut.
„Ich fürchte, es ist mein Wolf.“
Der Wolf hatte mich bereits in einem früheren Traum besucht. Ich weiß von diesem Traum nur, dass ich einen Wolf besaß, dass er mich bereits im Traum besucht hatte und dass meine Großmutter davon nichts erfahren durfte.
„Mein Wolf“, dachte ich und mein Herz rutschte nach unten und wurde von der Angst verschluckt.
Aber die schwarzen Federn gehörten einem Vogel. Wölfe haben keine Federn. Meine Großmutter hatte gerade einen schwarzen Vogel geschlachtet und wollte ihn im Dorf zum Verzehr beim Opferfest abgeben.
„Wilde, fleischfressende oder schwarze Kreaturen dürfen nicht als Opfergabe dargeboten werden.“
Ich versuchte, das meiner Großmutter zu erklären, um die Heiligkeit ihres Festes zu retten. Vielleicht gewann ich ja ihre Sympathie, dann würde sie mich nicht essen.
„Die Götter interessieren sich nur für Blut“, antwortete meine Großmutter, als würde sie mit sich selbst sprechen, während sie das große Holzschneidebrett, das einem Sargdeckel glich, sorgfältig reinigte. „Hauptsache, es ist kein Männerblut, denn Männer sind gesegnet, und hoffentlich auch nicht das Menstruationsblut einer unreinen Frau! Ansonsten machen die Götter keinen Unterschied bei Blut.“

2
Eigentlich bin ich Suzanne, nur im Schein der Träume bin ich Mala, ich bin elf Winter alt.
Der Krieg zwang die Menschen in den ausgedehnten, öden Landschaften, ihre großräumigen Häuser und die sonnigen Vororte zu verlassen und sich in die Städte zurückzuziehen. Sie füllten die alten Gassen und errichteten eilig Lager, die von kleinen Soldaten bewacht wurden. Die Menschen ließen die Felder zurück, um die Höfe und Gärten für die übrig gebliebenen weißen Kaninchen und Hauskatzen zu bewachen. Der wilde Löwenzahn gedieh und blühte, wie er wollte. So auch viele syrische Katzen, die darin geübt sind, den kleinen Menschen zu entkommen, die sie töten, bis sie ihre erste sexuelle Erfahrung machen, dann beruhigen sie sich.
Die Menschen hockten zusammen im Krieg, bildeten enge Kolonien voller Lärm, Bewegung und Unruhe. Die städtischen Gebiete schrumpften und die Wildnis weitete sich aus.

Mein Onkel Schadi und meine Tante Maryam schlossen sich dem Rest des Volkes an und zogen in das Herz der Stadt, in ein Haus, das einem alten Freund meines Vaters gehörte, einem Partner bei seinen Verlustgeschäften. Meine Tante Madi bestand darauf zu bleiben. Sie sagte zu meiner Großmutter: „In der Wildnis ist man sicherer als bei den Menschen.“ Großmutter betonte: „Natürlich, die Angst kommt immer von den Menschen, wenn sie wüssten, dass du allein bist, würden sie dich überfallen.“ Madi bestand darauf zu bleiben. Also beschloss auch meine Großmutter, Oum Fadi, zu bleiben, um ihre goldene Tochter zu beschützen. Und ich, Suzanne, die Doppelwaise, gehe immer dorthin, wo meine Großmutter hingeht.
Aber ihre Entscheidung war nicht so endgültig, wie sie glaubte. Sie verließ jeden Tag um die Mittagszeit das Haus und ging zu dem Ort, wo Schadi und Maryam wohnten, und am nächsten Morgen kam sie niedergeschlagen und nervös wieder. Am Anfang kehrte sie morgens zurück, aber dann begann sie, später zu kommen und ihr Stöhnen wurde wegen Madis Dickköpfigkeit immer stärker. Sie begegnete ihr stumm und wütend und danach ging sie und ignorierte mich.
Madi betrat ihr Zimmer, das nach Weihrauch duftete und mit vielen Bildern, Amuletten und Steinen mit Talismanen geschmückt war: Augen, Sterne, Pfeile und Kreise. Sie erinnerte sich erst an mich, wenn sie Hunger bekam. Dann erschien sie hinter der Küchentür:
„Möchtest du essen, Suzanne?“
„Ich habe gegessen.“
„Was hast du gegessen?“
„Essen.“
„Gut, gut, dann ist ja gut!“
Sie verschwand wieder und hinterließ mir ein Stück Land für das kommende Alter.

Ich bin Suzanne, und mein Alter ist elf Planeten. Ich fand heraus, dass Skorpione naiv sind: Wenn man sich nicht beeilt, sie mit Gnade zu töten – indem man sie mit dem Schuh zerdrückt –, stechen sie sich selbst und sterben qualvoll. Ich beobachtete die syrischen wilden Eulen, klein und schüchtern, getüpfelt mit Erde, Schnee und goldener Farbe. Ich nahm an einem Festmahl für Hunde teil, bei dem sie ein riesiges Kaninchen von der Größe eines Fuchses fraßen.
Ich sah Männerleichen, die ich nicht kannte. Sie liefen herum und suchten nach Häusern, an die sie sich nicht erinnern konnten. Ich hatte mich den Karawanen zahnloser Frauen angeschlossen. Sie waren schwarz gekleidet und zerrten eine oder zwei magere Ziegen hinter sich her. Dazwischen liefen Kinder mit staubigen Gesichtern und weit aufgerissenen Augen. Einige von ihnen hatten Backenzähne, aber man konnte nicht erkennen, ob sie Mädchen und Jungen waren.

Eines späten Nachmittags befand ich mich in einem ummauerten Garten mit einem Stacheldrahtzaun und einer langen Reihe von Granatapfelbäumen, da hörte ich hinter mir ein Heulen wie aus einer anderen Welt. Wie kann man eine Stimme beschreiben?
Ich schaute auf die östliche Wand des Hauses, dahinter ein Hügel, da stand der Wolf. Seine Augen fixierten meine. Das Universum weitete sich. Der Wolf reckte seine Schnauze vor und berührte meine. Ich verwandelte mich in einen Wolfswelpen mit einer kleinen Schnauze. Die Klauen waren noch nicht hart wie Eisen, das dicke Fell sah aus wie verbrannter Zucker mit zwei Wolfsaugen, die sich an meine goldenen Augäpfel hefteten. Wenn er blinzelte, blinzelte ich auch.
Aber wir hatten gar keine Augenlider und kein Maul zum Schreien. Er heulte, ich auch.
Sein Geheul kam aus den Tiefen meiner Gehirnwindungen, aus einer alten vertrauten Angst.
Und ich? Das tiefe Heulen der Wölfin in meiner Brust stieg nicht bis in meine zivilisierte, menschliche Kehle hoch.

Meine Großmutter, Oum Fadi, wurde wahnsinnig, als sie uns nach ein paar Tagen besuchte und das ganze Haus und mich in einem unerträglichen Gestank nach wilden Hunden vorfand. Es gelang ihr nicht, das Schwarze unter meinen Nägeln zu entfernen.

3
Ich bin Suzanne, mein Alter ist fünfzehn Skorpione.
Ich komme benommen von einer allerersten Liebesbegegnung etwas zu spät zurück, so wie sonst auch. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob die Haustür offen stand oder ob ich an der Tür geklingelt habe. Ich war außer mir vor Liebe und von dem Duft des Kusses, als ich schon die erste Ohrfeige bekam. Das war nicht die erste Gewalterfahrung. Es waren gar nicht die schlimmsten Schläge und nicht der schwere Körper von Oum Fadi Al Akkasch, denn ich war woanders, als ich geschlagen wurde. Der schnelle Übergang überraschte mich. Das war das Erschreckende.

Im Moment der Gewalt steigt die Seele aus dem Körper, um die Szene von oben zu betrachten, als ob sie von einem Balkon in der Decke alles sieht: Mein Körper lag unter dem von Oum Fadi. Meine Hände schlugen alles, was sie erreichten, und meine Füße traten wütend nach allen Seiten aus. Von oben sah ich meine Tante Maryam, wie sie versuchte, mich festzuhalten, sie schaffte es aber nicht und schlug mich überall. Sie lächelte dabei wie die unschuldigen Kinder in der Werbung für Babypuder. Ich hörte meine Großmutter, die am Boden lag und schrie, ich sei eine Hure. Ich hätte den Krieg dazu genutzt, herumzuhuren. Es sei höchste Zeit, dass ich wieder zur Vernunft käme. Oben, neben mir, stand ein Wolf und beobachtete mit mir zusammen das Geschehen. Als sie mit mir fertig waren, kam ich wieder zu mir, aber nicht ganz, denn zwischen mir und mir war eine Leere. In dieser Leere gab es einen Wolf.
Am Anfang – ich muss es gestehen – war ich einige Tage unausgeglichen: Ich schaute ihnen verwirrt ins Gesicht, glotzäugig, die Mundwinkel weit aufgerissen, und dachte: Was habe ich ihnen zu erzählen?
Ja, was sollte ich erzählen?
Wie sollte ich erklären, dass zwischen mir und mir eine Leere entstanden war? In dieser Leere saß anstelle meines Herzens ein Wolf, in meiner Mitte ein Wolf.
Meine Großmutter spürte das und geriet zum ersten Mal in eine verzwickte Lage. Sie hatte Angst, dass ich verrückt werden würde, dass sie mich verlieren würde. Meine Tante Maryam wiederum hatte Angst, ich würde sie verraten, als ob sie mit ihrem Lächeln immer die Absicht gehabt hätte, mich verrückt zu machen, damit ich verloren ging.
Auch mein Onkel spürte das, war wütend und schrie. Er versuchte sich mir zu nähern, um meinen Körper zu berühren, aber ich war mit meinem Wolf beschäftigt: mit meinem neuen Herzen. Erst als ich mich beruhigte, konnte ich auf ihn hören. Er sprach besser als der Gott, von dem sie sagen, er wohne über dem Himmel und liebe nur die starken Männer und die Anwesenheit von schamlosen und menstruierenden Frauen beleidige ihn.

Mein Herz ist ein Wolf: In seiner Brust trägt er eine Kugel, wenn sie sich bewegt, schmerzt sie ihn, und je mehr er leidet, desto eher wird er ein menschliches Herz verzehren, um sich zu entspannen – oder die Köpfe von drei Elfen.
Das mit der Kugel ist eine andere Geschichte.
Aber, was mich betrifft: Mein Herz ist ein Wolf.

 

Dieser Text erschien zuerst auf weiterschreiben.jetzt