Drag King Workshops in Theorie und Praxis

Frauen eignen sich Männerrollen seit Jahrhunderten an, unter anderem um ein autonomes und ökonomisch abgesichertes Leben führen zu können. Wie Drag King Workshops empowernd für Frauen wirken, beschreibt Stephanie Weber unter Mitarbeit von Verena Wetzel.

Zeichung/Aquarell: Einer Person werden die brüste abgebunden

Oft sind Drag Queens die erste Assoziation, wenn der Begriff „Drag“ fällt. Sie sind durch Bühnen- und Medienauftritte oder ihre Teilnahme auf queeren Partys bekannt. Nicht immer ist ihre Intention politisch, oft wollen sie mit ihrer Weiblichkeitsperformance auf seichte, manchmal auch aus feministischer Perspektive fragwürdige Weise, unterhalten. Drag Kings stellen das männliche Pendant zu ihnen dar. Kings sind dabei schon eher eine politische Persiflage der Männlichkeit, die mit einem Augenzwinkern Klischees und Stereotype thematisieren. Vielleicht auch deshalb finden die Performanceshows der Queens und Kings oft nicht auf gleichen Bühnen statt: So sind Bei RuPauls Drag Race, obwohl der Name es vermuten lassen würde, keine Kings zu sehen. Auch die meisten „Drag Partys“ oder „Drag Shows“ sind eher mit Queens besetzt. Dass mit dem Begriff Drag auch Kings gemeint sind, muss deshalb häufig zusätzlich erwähnt werden – obwohl Frauen in Männerrollen keineswegs erst eine Erscheinung der letzten Jahre sind.

Dass sich Frauen Männerrollen aneignen, ist kein neues Phänomen

Geschichtlich und in Kunst und Literatur haben Frauen immer wieder männliche Identitäten und Rollen für sich beansprucht und geheim oder offen das Leben von Männern geführt. In den Niederlanden lebten über Jahrhunderte hinweg viele Frauen als Matrosen und sicherten so ihr Einkommen. Sie waren in ihrer Darstellung von Männlichkeit dermaßen überzeugend, dass ihr biologisches Geschlecht erst mit ihrem Tod bekannt wurde. Auch Johanna von Orleans, Nationalheldin Frankreichs, trug Männerkleidung. Unter anderem dafür wurde sie hingerichtet: Dass sie sich nicht ihrem Geschlecht gemäß kleidete und sich durch männlich konnotierte Kleidung mehr Bewegungsfreiheit und Anonymität verschaffte, erregte den Zorn von Kirche und Gesellschaft. Motive für das Leben als Mann waren dabei vielfältig: Sicherheit, lesbische Sexualität oder die Identifizierung als Mann könnten Erklärungen sein. Oftmals konnten Frauen so Berufe ergreifen, die ihnen sonst verwehrt waren und hatten deshalb die Möglichkeit, ein ökonomisch abgesichertes und autonomes Leben zu führen. So war das Leben in einer Männerrolle häufig einfacher und mit mehr Privilegien verbunden als das Leben als Frau.

Auch die Charaktere von Shakespeares Komödien sind vielfach Frauen, die sich den größten Teil der Handlung über als Männer verkleiden und verhalten. Dies erleichtert ihnen nicht nur die Annäherung an romantisch begehrte Männer, sondern auch Sicherheit auf der Flucht vor etwaigen Verfolgern. Da zu Shakespeares Zeit ausschließlich Männer Schauspieler sein durften, lassen sich die Frauenfiguren als doppelte Drag-Perfomer verstehen: Junge männliche Schauspieler, die Frauen spielen, die sich als Männer verkleiden. Der Effekt für das Publikum war möglicherweise ein ähnlicher, wie ihn heute Dragworkshops haben: Zu erkennen, wie einfach sich der Eindruck des anderen Geschlechts durch Verhalten und visuelle Marker erzeugen lässt. Vielleicht haben diese Komödien damals schon gezeigt, wie stark das binäre Geschlechtersystem auf die Individuen einwirkt und sie in ihren Handlungsspielräumen eingeschränkt.

Beschränkungen geschlechtlichen Selbstausdrucks gelten bis heute – wenn auch auf andere Weise und ggf. weniger drastisch. Sexismus, Abwertung von Frauen und Weiblichkeit und die Beschränkung der Freiheit von Mädchen und jungen Frauen sind nach wie vor aktuelle Probleme. In diese Zustände intervenieren Drag Workshops. Als Drag King gelingt der „Griff nach Oben“; er macht deutlich, welche Privilegien Frauen immer noch nicht haben – Männer hingegen schon. Im Unterschied zu den historischen Beispielen ist damit aber keine lebenslange Verpflichtung verbunden: Drag Kinging bietet eine einfache, unverbindliche Möglichkeit zum Ausprobieren. Und diese sind zahlreich: Schon seit Jahrzehnten gibt es eine weltweite Drag Kinging Szene, Workshops werden längst an Universitäten und Stiftungen angeboten und es gibt viele namhafte Performer*innen im Bühnenkontext.

Drag King Workshops als Empowerment

Eine von ihnen war Diane Torr (1948-2017), deren Kinging-Workshops 2012 durch den Dokumentarfilm „Man for a Day“ [1] weltbekannt wurden. Ein wichtiges Anliegen Torrs war das Empowerment von Frauen. Empowern bedeutet übersetzt befähigen oder ermächtigen und das ist, was in Workshops passiert. Dies entspricht, wie Torr beschreibt, den Motiven der Teilnehmenden: Die eigene Maskulinität zu entdecken, sich für eine Rolle auf der Bühne vorzubereiten oder in eine alltägliche Männerrolle zu schlüpfen, um sich in einer Situation, vor der sie Angst haben, zu stärken. [2] All diese Motive verbindet die Idee, dass die Selbsterfahrung als King und das veränderte Verhalten der Umwelt neue Perspektiven und Möglichkeiten für das eigene Leben ergeben. Auch haben die Frauen durch das angeleitete Hinein- und Herausschlüpfen die Möglichkeit, ihre eigene Weiblichkeit zu hinterfragen. Es wird möglich, sich auch langfristig neue Verhaltensweisen anzueignen, die vorher nur Männern zugeschrieben waren.

Zu erfahren, wie es sich anfühlt, ein Mann zu sein heißt in Torrs Workshops auch: Privilegien von der Umwelt zuerkannt zu bekommen, ohne sich diese erkämpfen zu müssen. Das wiederum öffnet den Blick für Diskriminierungserfahrungen als Frau, von denen manche erst im direkten Vergleich sichtbar werden. Diese Kritik am Geschlechterverhältnis ermöglicht, sich praktisch und in empowernder Weise mit dessen Dekonstruktion zu beschäftigen. Torrs Kinging Workshops sind damit keine bloßen Schauspielübungen für die Bühne. Vielmehr diskutiert die Gruppe über die Herstellung von Geschlecht und schafft einen Schutzraum, um über Diskriminierungserfahrungen aufgrund der eigenen Geschlechtszugehörigkeit zu sprechen. Dabei werden die Mädchen und Frauen als Expertinnen für ihr Geschlecht adressiert: Sie bekommen einen Raum, in dem sie sich über ihre Erfahrungen mit Diskriminierung und Abwertung aufgrund ihres Geschlechts austauschen können. Dies ist auch der feministische Aspekt dieser Workshops: Es geht darum, Bewusstsein zu schaffen und Handlungsalternativen aufzuzeigen.

Aber nicht nur Teilnehmerinnen profitieren: Auch das Umfeld bemerkt, dass eine Frau so gekonnt einen Mann darstellen kann, dass sie männliche Privilegien wie Raum und Macht zugestanden bekommt. Dadurch steigert Kinging auch ein feministisches Bewusstsein: Es befähigt zum kritisches Hinterfragen der Verhältnisse und zu Solidarität untereinander.

Aneignung von für Frauen tabuisiertem Verhalten in Drag King Workshops

Ein klassischer Drag King Workshop arbeitet mit fünf bis zehn Teilnehmenden. In der kleinen Gruppe kann an wirkmächtigen Details gearbeitet werden, die das Auftreten einer Person männlich oder weiblich erscheinen lassen. Dadurch können Gendernormen sowie die Erwartung an das Auftreten, die an das jeweilige Geschlecht geknüpft sind, bewusst gemacht werden. Ernst schauen, breitbeinig sitzen, laut rülpsen, aggressiv sein: Das diese Auflistung sofort den Eindruck von Männlichkeit erweckt zeigt, dass sie (ebenso wie Weiblichkeit) zu einem großen Teil erst durch Handlungen hergestellt wird. Frauen betreten als Drag King für sie tabuisiertes Terrain, sie eignen sich öffentliche Räume an und bedienen sich Verhaltensweisen, die ihnen sonst verwehrt sind. Das zeigt auch ohne Worte, dass Drag für sie politisch wirkt.

Ein Beispiel dafür ist das „resting bitch face“ – dieser negativ bewertende und saloppe Ausdruck wird fast ausschließlich auf Frauen angewandt, deren Mimik im entspannten Zustand nicht explizit freundlich ist. Männer mit ernsten Gesichtern erregen nicht die gleiche Art von Aufmerksamkeit – bei ihnen gilt das unfreundliche Gesicht als normal. Frauen hingegen unterliegen der Erwartung andere immer freundlich anzuschauen. Eine Technik in Kinging Workshops ist es deshalb, mit den Teilnehmerinnen zu erarbeiten, inwiefern sie als Frauen meist unbewusst ständig lächeln. Im Unterschied dazu kann es ein Aspekt des Kinging sein für eine gelingende Männlichkeitsperformance eher ernst schauen. Das ist für viele nach einigem Herumprobieren viel entspannter, als immer ein nach außen gewandtes, fröhliches Gesicht aufzusetzen. Es erlaubt zugleich einen stärkeren Fokus auf die eigenen Gefühle und Bedürfnisse. Dieses Beispiel zeigt, dass Gendernormen ziemlich starr, ziemlich absurd und ziemlich unfair sind – und das Drag hier intervenieren kann.

Männlich, weiblich, alles

drag it! Geschlecht umreißen – Ordnungen durchkreuzen – Drag erleben. Unter diesen Perspektiven fragt das Dossier ‚drag it!‘ danach was Performance-Praxis gegenwärtig bedeutet.
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Erfahrungen von Teilnehmenden eines Drag King Workshops

Seit vielen Jahren führt auch Autorin Stephanie Weber Drag King Workshops unter dem Titel „She’s the man“ durch. In den Rückmeldungen nach dem Workshop gaben die Teilnehmerinnen an, von den Erfahrungen zu profitieren und sich neue Verhaltensweisen im Alltag angeeignet zu haben. [3] In anschließenden Interviews machen die befragten Frauen zudem deutlich, eine bessere Vorstellung von den Prozessen der Konstruktion von Geschlecht erlangt zu haben. Geschlechterrollen und Geschlechterklischees konnten sie als solche erkennen und entlarven. Zudem haben sie ein Bewusstsein für die Nachteile erlangt, die starre Geschlechterrollen mit sich bringen. Und sie haben Strategien entwickelt, damit umzugehen. Ignacia [4] berichtet:

Also, was mir am meisten im Kopf geblieben ist, ist so diese körperliche Präsenz, die man hat, wenn man durch die Stadt geht! Dieses Aneignen von Räumen. Dass ich jetzt mich aufbaue, breitere Schultern hab und einfach mir mehr Raum nehmen kann (..) und mir die Menschen aus dem Weg gehen, weil das einfach das Gegenteil ist von meinem sonstigen Alltag.

Die Teilnehmerin hat durch ihr eigenes verändertes Körpergefühl beim Kinging verstanden, wie Männlichkeits- und Weiblichkeitsperformances unterschiedlich auf die Umwelt wirken. Sie hat das eigene Verhalten so verändern können, dass sie sich wohler fühlt. In der Rückschau wurden dadurch für Sie auch Verhaltensweisen der Vergangenheit reflektierbar:

Ich bin eine ziemlich kleine Person und dann nimmt man sich auch automatisch weniger Raum, obwohl ich das ja auch eigentlich nicht nötig habe. Und das hat so ein bisschen so eine Tür geöffnet, dass ich jetzt merke, dass [...] ich [...] mich nicht immer so klein mache, oder mir einfach mehr Raum nehmen kann, auch als Frau.

Im Workshop wurde für Ignacia deutlich, dass sie sich vorher nicht einfach nur keinen Raum genommen, sondern sich selbst klein gemacht hat. Dazu passend berichtet Kay:

Und, eh, wie selbstsicher Männer einfach gehen. Also, die gucken nach vorne, sehen da kommt jemand, aber die beharren einfach darauf, dass die da weiterlaufen können. Und das finde ich richtig gut, weil ich die Erfahrung machen konnte, weil jetzt kann ich auch selber mal sagen: Ich habe hier meinen Standpunkt und ihr müsst auch mal aus dem Weg gehen und nicht nur ich.

Physischer Raum und das eigene Selbstbild sind dabei aneinandergekoppelt: Mehr Platz einnehmen heißt für Kay auch, mehr Selbstbewusstsein zu haben.

Ein feministisches Herz für Drag Kings

Drag King Workshops befinden sich jedoch immer auch in einem Dilemma: Geschlechterdifferenzen müssen explizit benannt werden und stereotypes Verhalten erfährt dadurch möglicherweise eine Reproduktion. Ohne die Kategorien Mann und Frau kommen die Workshops aber nicht aus. Sie zeigen, dass Männlichkeit und Weiblichkeit in einem binären Geschlechtersystem verbunden sind und dass ersteres auf- und zweitgenanntes abwertet. Die Workshops verdeutlichen dies den Teilnehmenden und ihrer Umgebung nicht nur als trockene Theorie, sondern als sinnlich und emotional erfahrbare Realität. Am eigenen Körper zu spüren, dass man(n) im Auftreten als Drag King mehr Bewegungsfreiheit und Sicherheit hat ist eindrücklich. Der Gruppenkontext hilft dabei den Effekt an Anderen zu beobachten und gemeinsam zu reflektieren. Um ihn zu erzielen braucht es eine Anleitung, die nicht nur sensibel für geschlechterstereotypes Verhalten, sondern auch für Machtverhältnisse ist. Sie besteht einerseits darin, mit der Konstruktion von Männlichkeit den gleichzeitigen Schwenk in die Dekonstruktion von Geschlecht zu schaffen. Andererseits ist es wichtig die Notwendigkeit stereotyper Zuschreibungen zu betonen und stereotype Verhaltensweisen auch am eigenen Körper zu erproben – und immer wieder auf das Dilemma hinzuweisen, dass damit auch Klischees reproduziert werden. Das Ziel ist dabei aber stets, diese aufzubrechen.


[1] Peters, Katarina (Reg.) (2012): Man for a Day [Mit Diane Torr] [DVD].

[2] Torr, Diane/ Bottoms, Stephen J. (2010): Sex, Drag, and Male Roles: Investigating Gender as Performance. Michigan, S. 144ff.

[3] Das folgende Interviewmaterial stammt aus Weber, Stephanie (2016): Master Thesis: Gender als Performance – Drag King Workshops als Methode zur Dekonstruktion von Geschlecht in der Sozialen Arbeit und der handlungsorientierten Medienpädagogik. Krems.

[4] Die nachfolgenden Namen der Teilnehmerinnen wurden geändert.