Wie Drag es vermag, Geschlechterordnungen zu durchkreuzen, schildern Erfahrungsberichte jenseits der Grenzen der Zweigeschlechtlichkeit.
Nicht immer ist ein Vertauschen von Geschlechterdarstellungen im Vergleich zur Alltagspraxis oder ein ‚Passing‘ das Ziel bzw. die Praxis von und in Drag – also das eindeutige Durchgehen als Mann oder als Frau. Drag geht auch darüber hinaus und sprengt den binären Rahmen der Zweigeschlechtlichkeit. Dominante Geschlechterordnungen werden durchkreuzt und gebrochen und schließlich durch vermeintlich unpassende Kombinationen aus Kleidung und Make-Up, Styling und Verhalten ins Absurde geführt. Die Entgegensetzungen von männlich-weiblich, stark-schwach und Produktion-Reproduktion werden verdreht und umgearbeitet. Ergebnisse sind zum einen parodistisch, machen Normen lächerlich und kritisieren sie zugleich. Zum anderen entstehen – teilweise zeitgleich – ernsthafte andere Formen, in denen Existenz geschlechtlich realisierbar wird.
Zum Themenfeld ‚Ordnungen durchkreuzen‘ sind folgende Beiträge entstanden:
- Welches Geschlecht hast du ‚wirklich‘? (Anonym)
- Binaritäten zerschlagen (Emil*ie Ehrlich)
- Drag und Begehren – Eine Suche nach persönlichen Fragen (Caro)
- Unbehagen – Unsicherheit – Zögern: Drag Kinging zwischen An_Eignung und Ent_Politisierung (Lilian Hümmler)
- Drag und Ökologie – Eine Konsumkritik (Moritz Zeising)
Welches Geschlecht hast du ‚wirklich‘?
von Anonym
Ich zähle mich zu jenen gender-sensibilisierten Menschen. Ich gebe mir Mühe, gerecht zu sprechen. Ich weiß um die Privilegien, die Männer genießen. Ich weiß um die Benachteiligungen, denen Angehörige anderer Geschlechter als des männlichen ausgesetzt sind. Ich weiß, dass nicht alle Menschen sich ‚Mann‘ oder ‚Frau‘ nennen wollen. Ich weiß ebenso, dass das Geschlecht, was ich einer Person ablese, nicht dem Geschlecht entsprechen muss, dem die Person sich selbst zuordnet.
Nun bin ich also auf einem Drag-Workshop, überall wird sich ‚aufgedragt‘. Bärte werden angeklebt, Augen geschminkt. Brüste abgebunden, Socken in Push-Ups gestopft. Kurz: Geschlechter veruneindeutigt. Die Zuordnung eines Menschen zu einem Geschlecht klappt für mich nicht mehr auf den ersten Blick. Später gehen wir zu einer Drag-Show. Dort gehört es dann zum Prinzip der Veranstaltung, dass viele der Besucher*innen ihre äußere Erscheinung so verändern, dass ich nicht sehe, welche Geschlechtsmerkmale ihre ‚ursprünglich eigenen‘ sind, und welche ‚bewusst verändert‘. Aber immer wieder erwische ich mich genau dabei: Hinzugucken, nach Geschlechtsmerkmalen zu suchen. Herauszufinden, ob Bart und Haare echt sind; ob da Brüste erkennbar sind oder nicht. Herauszufinden, welches Geschlecht diese Person ‚wirklich‘ hat. Wenn ich dann die Stimme der Person höre, bin ich erleichtert, damit eine für mich eindeutige Zuordnung treffen zu können.
Ich frage mich, warum ich es überhaupt brauche, einer Person ein Geschlecht zuzuordnen. Warum ich es nicht einfach sein lassen kann. Warum ich es immer versuche, ein Geschlecht heraus zu lesen. Und ich frage mich, was dieses ‚wirkliche‘ Geschlecht ist, das ich suche. Ich finde keine zufriedenstellende Antwort. Ich kann es mir nur so erklären: Aufgewachsen bin ich, wie so viele, in einer bipolaren Welt. Viele um mich herum bezweifeln gar, dass es Trans- und Intersexualität gibt. In der Welt, aus der ich komme, sind an Frauen und Männern jeweils andere Erwartungen gestellt. Wer nicht in ein bipolares Schema hineinpassen will, passt in diese bipolare Welt nicht hinein.
In so einer Welt will ich nicht leben. Ich will Menschen, unabhängig ihres Geschlechts, zuerst als Menschen wahrnehmen. Daran will ich arbeiten. Mich immer wieder selbst ermahnen. Nicht zu genau hinschauen. Das Geschlecht anerkennen, dem sich Menschen selbst zuordnen.
Binaritäten zerschlagen
von Emil*ie Ehrlich
Ein Wochenende, ein Drag Workshop. Oder sind es zwei? Wir reden gemeinsam darüber was Drag eigentlich ist und woher es kommt. Gucken Videos, frühstücken und reflektieren gemeinsam. Dann trennen wir uns. Tunten hier und Drag Kings dort. Eine weitere Binarität wird geschaffen, anstatt sich gemeinsam zu helfen und miteinander auszuprobieren. Ich wusste vorher, dass das passieren würde, aber was tue ich jetzt? Die Tunten, aufgeschlossen und heiter, wollen sich mit uns auffummeln und die eigene Tunte hervorholen. Der Drag King, ernster, will uns verschiedene Techniken beibringen, wie wir überzeugend Männlichkeit darstellen und eine eigene Drag Persönlichkeit entwickeln.
Was will ich? Was ist Drag eigentlich für mich? Für eine Person, die sich selbst weder mit Weiblichkeit noch mit Männlichkeit wirklich identifiziert? Ich bin weder King noch Tunte. Das weiß ich irgendwie. Ich will es auch nicht sein. Ich finde Tunten toll. Der positive Ansatz, diese Kraft in Fummel, Trash und Glamour, gefällt mir. Aber durch meine Erfahrungen mit Weiblichkeit kann ich das selbst nicht so positiv erleben. Ich kann das Aufgesetzte daran nicht genießen. Zumindest nicht bei mir selbst. Und Kleider und Glitzer trage ich auch manchmal einfach so.
Kings sollte es viel mehr geben. Und viel mehr Möglichkeiten, was eigentlich ein Drag King sein kann. Aber irgendwie ist es mir zu nah an mir selbst, als dass es wirklich Drag für mich wäre. Bart, Binder und Jackett tragen, das kommt auch in meinem Alltag manchmal vor. Auch das gehört zu mir dazu. Aber laufen, reden, ‚sein‘ wie ein Mann, das scheint mir zu viel zu sein. Ich möchte diese Stereotype überhaupt nicht reproduzieren. Sie sind mir zu negativ, zu dominant im Alltag.
Was ist dann eigentlich noch Drag, wenn ich all das nicht möchte? Vielleicht ist Drag für mich einfach nur die Möglichkeit mich spielerisch auszuprobieren. Kombinationen zu wählen, die ich im Alltag eher nicht tragen würde und sei es nur, weil sie zu viel Aufmerksamkeit erregen. In Drag versuche ich nicht, von meiner geschlechtlichen Identität wegzukommen. Ich will sie damit mehr nach außen tragen, die scheinbaren Widersprüche dieser Identität aufdecken und die Binaritäten im Auge der Betrachter*innen zerschlagen. Das ist im Alltag schwieriger, weil die erste Kategorie, nach der Menschen eingeordnet werden, fast immer das Geschlecht ist und eine Binarität fraglos vorausgesetzt wird. Wenn ich also nicht ganz bewusst darauf hinweise, dass diese Norm nicht auf mich zutrifft, dann werde ich in eine der binären Kategorien eingeordnet, ob ich will oder nicht. Das passiert sowohl über mein Verhalten als auch meine Kleidung. Wenn ich das nicht möchte, dann muss ich das ganz bewusst verändern. Eigentlich würde ich aber gerne Kleidung tragen so wie sie ist – geschlechtslos. Drag eröffnet mir den Raum, in dem ich das versuchen kann und mich selbst dabei gleichzeitig feiere und betrauere.
Ich feiere mich ohne die Einschränkung von sozialem Geschlecht und gleichzeitig trauere ich um alles, was mir im Alltag dadurch verloren geht. Und darum, dass ich diese Ausdrucksform brauche, um mich dem entziehen zu können, sei es auch nur für einen Abend. Ich in Drag, das ist keine andere Persönlichkeit – das bin einfach ich: selbstbewusster, stärker und schillernd.
Drag und Begehren – Eine Suche nach persönlichen Fragen
von Caro
Warum ist das Andere als Drag anziehend? Ist die Anziehung (in einem vorwiegend heterosexuellen Selbstverständnis!) in der Aneignung oder Verschleierung begehrlicher Hetero-Stereotype begründet? Indem Drag mit Heteronormativität spielt und diese ad absurdum führt, fördert es die Bedingungen für mein sexuelles Begehren zutage. Bedingungen, über deren vermeintliche Trivialität ich ins Staunen gerate – ist also ein angeklebter Stoppelbart Auslöser für mein Begehren?
Sicher ist Drag mehr als die bloße Veränderung äußerer, sexuell aufgeladener Merkmale. Drag kann eine Einstellung sein, eine Identität geben. Drag bietet eine Spiegelfläche, um die eigene Gender-Performance und die anderer in ihrer Konstruiertheit zu entlarven und zu überdenken. Indem ich mich in Drag begebe, kann ich in eine andere Rolle, eine andere Identität schlüpfen. Oder einfach ich selbst bleiben, eine andere Seite an mir entdecken.
Doch mehr als meine eigene Gender-Performance entlarvt Drag mein sexuelles Begehren. Begehre ich dich wegen deiner äußerlichen Attribute, seien sie vermeintlich substantiell oder angeeignet? Attribute, die zu begehren ich in einem langen sexuell-identitären Prozess eingeübt habe? Offenbart sich im auf Dragkings und Dragqueens gerichteten Begehren die schiere Trivialität dieser anziehenden Attribute? Oder beruht die erste Anziehung von Menschen in Drag auf deren Gesten der Solidarisierung, etwa wenn eine Dragqueen, unvollkommen und überzeichnet, mit Erwartungen an Weiblichkeit bricht oder sie überflügelt?
Worin materialisiert sich die Entscheidung, zu begehren oder nicht zu begehren? Etwa – in dem vorwiegend heterosexuellen Verständnis einer Cis-Frau! – in heterosexuellen Markern wie Bart, breitschultrigem Gang, selbstsicherem, kühlen Blick? Oder in dem Durchscheinen verschleierter Cis-Merkmale, etwa bei einem Dragking, der einen besonders lieblichen, anmutigen Mann performt? Begehre ich bei einer Dragqueen das dahinter befindliche Gender – einen attraktiven Mann*, dessen Wespentaille und langen Beine ihn zweifellos zu einer begehrenswerten Frau machen?
Drag vermag es, vermeintlich originäre Attribute zu überlagern oder zu veruneindeutigen. Es trägt gewiss zu einer Diversifizierung und Relativierung von Gender-Performances bei, die die Frage nach dem originären Gender der Person irrelevant werden lassen. Gleichsam ertappe ich mich in der Frage des Begehrens dabei, eine vermeintliche Gender-Substantialität hinter Drag zu vermuten, zumindest danach zu suchen. In diesem Sinne käme Drag einer Verkehrung äußerer stereotyper Attribute gleich, während die Begehrlichkeit bleibt, ja sich durch Überlagerung anderer Attribute geradezu potenziert. Ebenso kann ich dich begehren, die*der du Unentscheidbarkeit performst in der Aneignung und im Brechen von heteronormativen Merkmalen.
Vielleicht führt mir Drag gerade die Konstrukthaftigkeit, das Provisorium hetero- und homosexuellem Selbst- und Fremdverständnisses vor Augen, deren Bedingungen zu begehren eingeübt und codiert sind, um inmitten heteronormativer Denkstrukturen Orientierung zu finden.
Unbehagen – Unsicherheit – Zögern
Drag Kinging zwischen An_Eignung und Ent_Politisierung
von Lilian Hümmler
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Erlebnisse als Schatz und Kapital begreifen – ein Produkt erstellen
Selbsterfahrung nicht nur der Selbsterfahrung willen
Unbehagen
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Eigene Empfindungen, Perspektiven öffentlich machen
Damit eng verbundene Verletzungen thematisieren
Unsicherheit
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Der berühmte Bartkleber, Gesichter kantig schminken, breitbeinig Raum einnehmen
Alles schon erzählt, alles schon nachzulesen – warum noch mal
Zögern
An_Eignung
Von Heten und Weißen nachgemacht
Aus subkulturellen Kontexten gerissen in exklusive Stipendiat*innen-Räume
Unbehagen
An_Eignung
Kämpfe und Kontexte sichtbar machen
Weg von essentialistischen Identitätspolitiken hin zu widerständischen Praxen
Unsicherheit
An_Eignung
Mein – Dein – Jain
Symboliken und Praktiken im Wandel begreifen
Zögern
Ent_Politisierung
Puder, Packing, Binding und wow, krass, exciting
Drag voller Erlebnis, Theater und Fun-Fun-Fun
Unbehagen
Ent_Politisierung
Einmal spüren, was es heißt begehrendes Subjekt statt begehrtes Objekt zu sein
Heterosexismus erlebbar machen, (aber) nur für eine Nacht
Unsicherheit
Ent_Politisierung
Selbstoptimierung mittels Drag, jetzt auch für den Umgang mit Unterdrückung
Vereinzelt oder eben doch nur gemeinsam möglich
Zögern
Einen Text schreiben, An_Eignung, Ent_Politisierung
Unbehagen, Unsicherheit, Zögern
Irgendwo dazwischen in der Widersprüchlichkeit
und nun doch geteilt
doch gelesen?
Drag und Ökologie – Eine Konsumkritik
von Moritz Zeising
Für Drag geht es darum, mit neuem, mir sonst ungewohnten Material ein Aussehen neu zusammenzubauen. Doch was kann dieses Material sein und wo kommt es her? Um mich als erstes Mal als Tunte aufzufummeln schaute ich in meinen Kleiderschrank und stellte fest: An glitzernden Dingen, ausgeschnittenen Oberteilen, Röcken, Kleidern oder Strumpfhosen war nicht allzu viel vorhanden. In meinem Freund*innenkreis war ein glamouröser Kleidungsstil auch nicht verbreitet. Erste Anlaufstelle war also der Umsonstladen der Stadt, um dort ein paar ausgefallene Stücke zu finden. Meine Suche war allerdings nicht überaus erfolgreich und so befanden sich in meinem Gepäck nur eine Hotpants, zwei breite Gürtel und ein schwarzer Schal.
Auf dem Workshop gab es dann aber eine große Kleidersammlung – viele Menschen hatten etwas in ihrem Umfeld zusammengesucht und mitgebracht. Ein Glück, dass auch Stöckelschuhe in Größe 42 zu finden waren, ein Abendkleid mit Pailletten sowie eine schwarze, glänzende Leggins zum Unterziehen. Soweit stellte mich die Bereitschaft Anderer, Kleidungsstücke zu teilen, zufrieden. Doch im nächsten Schritt ging es an die Schminke: viele Verbrauchsprodukte sammelten sich auf meiner Haut an und später brauchte ich zum Abschminken nochmal jede Menge Creme und Tücher.
Flugs ging es weiter zur trashigen Show, dort pries die Moderation verschiedene große Modemarken als absolut begehrenswert an. Ein Kleid für drei Euro, das müsse jede Tunte haben. Welch schillernde Abendgarderobe, die gäbe es da und dort billig zu erwerben. Schließlich fiel ein abwertender Kommentar zu Secondhandläden: „Du warst doch nicht etwa dort einkaufen?“. Spätestens hier wurde mir klar: In meinem Kopf prallten zwei Welten aufeinander.
Der bewusste Umgang mit Konsum und Geld bestimmen meinen Alltag, doch als Tunte war mein Aussehen ein wichtiger Teil der Performance, zu dem ich meinen Besitz an Fummel erweitern sollte. Darunter fielen Perücken, Kleider, Accessoires, Schuhe und Make-up. Bei der Show schienen die Herkunft, Produktionsbedingungen und Umweltauswirkungen der Konsumgüter nebensächlich. Auch mich beschäftigte zunächst die Beschaffung neuen Materials für mein erstes Mal in Drag. Nachdem die Situation etwas gewohnter wurde, fiel mir dafür umso stärker auf, was ich konsumiert hatte. Das Bedürfnis, mich das nächste Mal unabhängig und spontan auffummeln zu können, führte zum Wunsch nach einem Materialkoffer.
Doch halt: Ein kritischer Umgang mit Konsumgütern und ein umweltbewusstes Konsumverhalten ist für mich genauso wichtig wie ein Wohlgefühl als Tunte. Es beschäftigt mich, was in Kosmetikprodukten steckt und ob sie mit Tierversuchen entwickelt wurden. Gerade diesen Gegensatz von kosumverliebten Glamour und geringem Ressourceneinsatz kann ich als Tunte leichter auflösen, als als Drag Queen. Trash, Kitsch, Müll ist das Motto: Darauf aufbauen, was mir zugänglich ist und mein Aussehen aus dem Trash der Gesellschaft zusammenzustellen vereint ein ökologisch und sozial kritisches Verhalten.
Ich wünsche mir, dass in der nächsten Show auf den Umsonstladen oder nachbar*innenschaftliche Beziehungen als Quelle für ein bewusst trashiges Outfit verwiesen wird. Trash kommt nicht von der Kleiderstange, sondern liegt überall herum und wartet darauf, in den Müllhalden unseres Alltags gezogen zu werden. Aus PET Flaschen werden neue Regenjacken, wieso dann nicht aus dem Polyesterhaufen im Kleiderschrank meiner*s Nachbar*in mein nächstes Outfit? Die trashige Tunte sehe ich als Chance für eine nachhaltige Gesellschaft.
Moritz Zeising beschäftigt sich mit Hochschulpolitik, Marinen Umweltwissenschaften und Jugendbildung. Er organisiert grüne und queere Projekte in Oldenburg und darüber hinaus.