Drag hinterfragt heterosexistische Machtverhältnisse. Allerdings sind auch Dragräume nicht frei von Machtstrukturen. Diese Verflechtungen untersucht Francis Seeck.
Wie Zweigeschlechtlichkeitsnormen unseren Alltag bestimmen
Schon vor der Geburt eines Menschen fragen Verwandte, Kolleg*innen und Freund*innen: Was wird es denn nun? Und spätestens nach der Entbindung heißt es dann zumeist, es sei ein Mädchen oder ein Junge. Mit dieser Geschlechtszuweisung und ihrer beständigen Wiederholung sind Erwartungen in Bezug auf Kleiderwahl und Haarschnitte, Emotionen und Gestik, Arbeitsverhältnisse und Beziehungsformen verbunden. Pink oder blau? Fußball oder Tanzen? Rational oder emotional? Wer arbeitet Vollzeit, wer übernimmt die Sorgearbeit und wer arbeitet im Pflegebereich? Wer darf einen Bart tragen und wer Lippenstift? Wer Kleider und wer eine Fliege?
Geschlechterforscher*innen und Queertheoretiker*innen zeigen, dass alle Menschen Geschlecht täglich herstellen und leben, dass sie dies gelernt haben und es von ihnen erwartet wird. [1] Diese Ausdrucksformen der Struktur der Heteronormativität sanktionieren andere geschlechtliche Seinsweisen, werten nicht-heterosexuelles Begehren ab und verschließen Räume, in denen sich solche entwickeln könnten.
Diskriminierung und Gewalt entstehen und richten sich vor allem auf Personen, die den Normen der Zweigeschlechtlichkeit nicht entsprechen, z.B. trans* [2], inter* [3] und gender-nicht-konforme Menschen. In vielen Ländern, darunter Deutschland, ist diese Gewalt auch institutionalisiert, etwa wird die psychiatrische Diagnose der ›Geschlechtsidentitätsstörung‹ (DSM IV, ICD 10), oder „Gender Dysphoria“ (DSM V) vergeben und sogar vorausgesetzt, um trans*spezifische Gesundheitsversorgung und eine legale Anerkennung von Namen und Geschlechtsidentität zu erhalten. Viele trans* positionierte Menschen erleben darüber hinaus Diskriminierung und Anfeindungen im Bildungssystem, Gesundheitssystem, in sozialer Sicherung und auf dem Arbeitsmarkt [4]. Insbesondere nicht-binäre Menschen, die sich jenseits von weiblich und männlich verorten, sind in der Gesellschaft von Abwertungen und Ausgrenzungen betroffen, die ihre Geschlechtsidentität als unnatürlich oder nicht-existent ansehen.
Diese Normen führen auch dazu, dass die Geschlechtsidentitäten von cis-Menschen, also Menschen, die in dem Geschlecht leben, welches ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, als natürlich und authentisch wahrgenommen und in der Regel nicht in Frage gestellt werden. Cis-Personen müssen ihre Geschlechtsidentität nicht in einem langen Verfahren beweisen und vor Gutachter*innen keine intimen Fragen beantworten. Genau in diesem Machtverhältnis bewegen sich Dragperformances. Sie spielen mit Geschlecht und vermögen es sowohl, Geschlechternormen und Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit zu untergraben und auseinander zu nehmen als auch neu zusammenzusetzen.
Warum Drag? Alternative geschlechtliche Verortungen (er-)lebbar machen
Andere geschlechtliche Horizonte und Wirklichkeiten kann Drag dabei auf verschiedene Weisen aufzeigen. So stellen einige Performances Geschlecht praktisch in Frage. Sie machen normative Männlichkeits- und Weiblichkeitscodes zum Thema, heben sie aus der Selbstverständlichkeit und parodieren sie. Vorstellungen davon, wie ein „richtiger Mann“ oder eine „richtige Frau“ zu sein haben, werden humoristisch überinszeniert oder verworfen und ignoriert. Die binäre Grenzziehung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit wird überschritten, verwischt und lässt sich für einen Moment aufheben.
Performer*in Dani Boi versteht sich beispielsweise als genderfluid dragtivist und kombiniert in den eigenen Performances knallblauen Lippenstift, Bartschatten und Binder mit glitzernden Anzügen und rassismuskritischen und queeren Performances. Dabei geschieht eine Irritation und Infragestellung der gewohnten vergeschlechtlichten binären Alltagspraxis. Damit betritt auch eine andere Weise Geschlecht zu leben die Bühne.
Auch für die Performer*innen selbst, zeigt Uta Schirmer in „Geschlecht anders gestalten“ [5] (2010), können beim Drag Kinging geschlechtliche Verortungen jenseits von binären Vorstellungen entwickelt und (er-)lebbar werden. Dragperformances können einen Raum schaffen, um Geschlechtervielfalt quer zu Zweigeschlechtlichkeitsnormen auszuprobieren, zu verkörpern und zu leben. Sie bieten die Möglichkeit, einen Bart und ein Kleid zur gleichen Zeit zu tragen, Pronomen zu verändern und neue Namen zu führen, die nicht eindeutig als männlich oder weiblich einzuordnen sind. Hierbei kann es auch ein Anliegen der Performer_innen sein, sich selbst in und durch die Irritation zu entwickeln und zu erkunden, sich zu veruneindeutigen und Geschlechternormen und Binaritäten im eigenen Erleben zu überarbeiten und sich anders zu erleben.
Insbesondere Dragperformances, die über die Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit und klischeehaften Bildern von Männlichkeit und Weiblichkeit hinausgehen, haben außerdem das Potential nicht-binäre Identitäten sichtbar zu machen und einen anderen transformativen Raum zu öffnen. So betont der Drag King Sammy Silver in dem Lied „The Non-Binary Song“:
People say I ain't that masculine. Therefore can't be a drag king. I express my gender in many forms. And I am just trynna break right out of those norms! So male or female. And you can't tell. No need to worry. No need to dwell. You can't judge them. Being androgynous; it's about whether they‘re fabulous. [6]
Hier beschreibt Sammy Silver, die normativen Anforderungen die auch an Drag Kings gestellt werden, beispielsweise sehr maskulin zu performen. Sammy Silver versucht sich diesen Anforderungen zu entziehen und betont, dass Gender auf viele verschiedene Arten ausgedrückt werden kann und es nicht möglich ist, die eigene Performance eindeutig einzuordnen. Gerade nicht-binäre Verortungen, die gesellschaftlich oft nicht anerkannt werden und ansonsten unlesbar bleiben, können in Dragräumen Ausdruck finden.
Brechungen des Blickes – Eindeutigkeit wiederherstellen und verteidigen
Zugleich zeigt Sammy Silber, dass auch Drag nicht frei von Erwartungen ist und Binaritäten auch reproduzieren kann. Auch in Dragräumen wird häufig Zweigeschlechtlichkeit aufrecht erhalten und reproduziert, z.B. über Blickregime die nach dem zugewiesenen Geschlecht der Performer_innen suchen. Ein Publikum, das sich wenig mit den eigenen normativen Blickweisen auseinandergesetzt hat, wird immer wieder versuchen die Performer*innen den Kategorien männlich oder weiblich zuzuordnen. Zugleich kann diese Irritation des Publikums auch produktiv sein, wenn damit die Ansicht darüber, dass es nur zwei Geschlechter gäbe, ins Schwanken gerät und neue Identifikations- und Verkörperungsmöglichkeiten sichtbar und lebbar werden.
Die Normen der Zweigeschlechtlichkeit in Dragräumen verschränken sich außerdem häufig mit klassistischen und rassistischen Klischees – es sind so oftmals ganz bestimmte Geschlechtlichkeiten, die dargestellt werden und scheinbar für Aufführungen attraktiv erscheinen. So wird auf stereotype Bilder von Männlichkeit oder Weiblichkeit zurückgegriffen, z.B. indem bei Drag King Shows weiße Performer*innen aus der Mittelklasse häufig das Bild „des Bauarbeiters“ oder „Person of Color Machos“ inszenieren. [7] Diese verstärken zugunsten ihrer eigenen Inszenierung wiederum abwertende und gewaltvolle Bilder und Stereotype und tragen zu deren Absicherung bei.
Cis-Normativität und Gatekeeping in kommerzialisierten Dragräumen
Immer wieder kommt es zudem insbesondere in kommerzialisierten cis und schwul dominierten Drag Kontexten zu trans*feindlichen Ausschlüssen. Ein Beispiel hierfür ist die bekannte US-Reality-Show „RuPaul's Drag Race“. RuPaul betonte kürzlich in einem Interview, dass trans*Frauen, die geschlechtsangleichenden Maßnahmen vornehmen, nicht an der Show teilnehmen dürfen und führte aus: “Drag loses its sense of danger and its sense of irony once it’s not men doing it.” [8]
Damit wird Drag als eine kulturelle Praxis von cis Männern definiert. RuPaul übernimmt dadurch eine Gatekeeping-Funktion und schließt trans* Personen und cis-Frauen aus Dragräumen aus. Zudem werden mit dieser normativen Idee von Drag die vielfältigen Geschichten von Drag Praxen in lesbischen, queeren und non-binären Räumen unsichtbar gemacht. Drag wurde schon immer auch von trans* und cis-weiblichen Performer*innen ausgeübt. Die Aussage von RuPaul ist damit ein gewaltvolle cis-normative Nichtanerkennung von vielfältigen und verwobenen Geschichten und Praxen. Zudem geht durch diese Aneigung einer subkulturellen Praxis auch der Anspruch verloren, kritisch in Geschlechterverhältnisse zu intervenieren. Schon in dem berühmten Zitat “You’re born naked, the rest is drag” scheint RuPaul zu vergessen, dass Geschlecht nicht frei wählbar und wechselbar ist, sondern stark reguliert und kontrolliert wird. Im Gegensatz zu trans* und inter* Personen, erleben viele cis-geschlechtliche Drag-Performer*innen in ihrem Alltag nicht die institutionelle Gewalt, wie z.B. bei Gutachtenverfahren, Zwangstherapien oder andere Formen institutioneller Trans*-Feindlichkeit.
In dieser kommerzialisierten Aneignung im Neoliberalismus wird Drag zu einer Bühne für Geschlecht als einem Markt der Möglichkeiten und vergisst damit seine eigene Geschichte. Die gesellschaftlichen Regulationsweisen und die Verhältnisse unter denen trans*, inter* und gender-nicht-konforme Menschen leben müssen, werden abgesondert – die Chance auch diese in die Öffentlichkeit zu tragen, bleibt ungenutzt. Wenn über Gate Keeping trans* Personen und cis Frauen ausgeschlossen werden oder Drag als ein frei verfügbares Spiel der geschlechtlichen Möglichkeiten verstanden wird, scheitern letztlich die normkritischen und transformativen Ansprüche von Drag. Damit Drag auch bei einer zunehmenden Kommerzialisierung und Sichtbarkeit weiterhin kritisch in Gendernormen und gesellschaftliche Regulationsweisen hineinwirken kann, bedarf es Performer*innen und Kollektiven, Räumen und Zuschauer_innen, die das Potential von Drag eben nicht nur in der Aneignung und Parodie von Zweigeschlechtlichkeit begreifen, sondern auch das subversive Spiel im Darüberhinaus.
[1] Zum Konzept der heterosexuellen Matrix siehe: Butler, Judith (1990): Gender trouble: Feminism and the subversion of identity. New York: Routledge.
[2] Der Sammelbegriff trans* verweist auf eine Vielzahl von Identitäten, Lebensweisen und Praktiken von Menschen, deren gelebtes Geschlecht von dem bei der Geburt zugewiesenen abweicht oder die sich geschlechtlich nicht verorten (lassen) möchten.Siehe: Franzen, Jannik; Sauer, Arn (2010): Benachteiligung von Trans*Personen, insbesondere im Arbeitsleben. Berlin URL: http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publik… [15.10.2017]
[3] Die Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen definitiert betont: „Inter* umschreibt die gelebte Erfahrung mit einem Körper geboren zu sein, der den normativen Vorstellungen von männlich/Mann und weiblich/Frau nicht entspricht. Dies führt noch heute zu Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen, wie z.B. uneingewilligte geschlechtsverändernde Eingriffe.“ https://oiigermany.org/
[4] Spade, Dean (2011): Normal Life: Administrative Violence, Critical Trans Politics, and the Limits of Law. Brooklyn. NY: South End Press.
[5] Schirmer, Uta (2010): Geschlecht anders gestalten. Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten. Bielefeld: transcript.
[6] King Sammy Silver. Serving sass, sex & surrealness. The Non Binary Song (26.11.2015). URL: https://www.youtube.com/kingsammysilver [20.11.2017]
[7] Mehr zu den medizinische Pathologisierungs- und Zurichtungspraktiken von Inter*geschlechtlichkeit: