„Als Frau habe ich kein Land. Als Frau habe ich keine Heimat. Als Frau ist die ganze Welt meine Heimat.“ Auf diese Aussage der britischen Autorin Virginia Woolf stieß ich während meiner Recherche für diesen Artikel. Feminismus macht es möglich, Frauen unabhängig ihrer Herkunft zusammenzubringen. Doch dürfen wir nicht vergessen, dass Feministinnen je nach Tradition, Politik und Religion ihres Landes unterschiedliche Kämpfe ausfechten.
Ein verbreiteter Vorwurf an arabische Feministinnen ist, dass der Feminismus ein westliches Konzept sei und seinen Ursprung nicht in unseren Gesellschaften habe. Arabische Feministinnen seien ein Produkt westlicher höherer Bildung, zu der arabische Regierungen Frauen erst unter dem Einfluss westlicher Regierungen oder kurz nach der Kolonialzeit Zugang verschafften. Dieser Vorwurf ist nicht neu, wirft aber eine wichtige Frage auf: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Bildung und Feminismus?
Bildung lehrt uns, unsere Überzeugungen zu hinterfragen
Verleiht Bildung im Allgemeinen den Menschen die Fähigkeit, Unrecht zu erkennen? Doch wer hat die Menschenrechte auf den Westen beschränkt? Haben arabische Frauen keine Menschenrechte wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Würde verdient? Sind diese Rechte ein Geheimnis, das die Gesellschaft vor uns versteckt hält? Bildung und vor allem die Geisteswissenschaften lehren uns, zu kritisieren und unsere Überzeugungen oder die unserer Gesellschaft zu hinterfragen. Sie erlauben uns, Überzeugungen anzufechten und auszusieben. Der Feminismus im Nahen Osten ist spezifisch für unsere Kultur, weil er Prinzipien und kulturelle Normen herausfordert, denen wir als Frauen in den Gesellschaften des Nahen Ostens ausgesetzt sind. Er ist also kein „westliches Konzept“, wie schon Walaa Kharmanda in ihrem Beitrag zu dieser Debattenreihe argumentiert hat.
Es gibt viele Beispiele für die Probleme, mit denen sich Feministinnen im Nahen Osten derzeit auseinandersetzen, z.B. der Kampf um das Recht, die Staatsbürgerschaft an die eigenen Kinder zu vererben, wie kürzlich im Libanon geschehen; der Protest gegen sexuelle Belästigung in Ägypten; die Forderung nach politischem Mitspracherecht für Frauen in Syrien; oder der Kampf gegen Ehrenmorde, die nicht nur die muslimischen Gesellschaftsteile betreffen, wie es oft dargestellt wird, sondern tagtäglich bei religiösen Minderheiten, wie z.B. Christen und anderen, vorkommen.
Wer als Frau im Nahen und Mittleren Osten geboren wurde, wird ewig angeklagt und muss immerzu seine Jungfräulichkeit und Unschuld beweisen, um auch nur ansatzweise als Mensch angesehen und behandelt zu werden.
Feministinnen im Nahen und Mittleren Osten leben jeden Tag in ihren verschiedenen Dörfern, Städten und Ländern mit diesen Problemen und kämpfen gegen sie an. Da sehe ich keinen Einfluss „des Westens“, sondern nur den Einfluss von Menschlichkeit – wie bei jeder anderen Menschenrechtsdebatte auch.
An dieser Stelle möchte ich einen anderen Kritikpunkt ins Gedächtnis rufen, mit dem die feministische Bewegung oft konfrontiert wird: Warum soll man den Feminismus unterstützen, wenn man auch einfach für Menschenrechte sein kann? Wir konzentrieren uns auf die Lage von Frauen, weil gegen sie spezifische Ungerechtigkeiten verübt werden. Wer als Frau im Nahen und Mittleren Osten geboren wurde, wird ewig angeklagt und muss immerzu seine Jungfräulichkeit und Unschuld beweisen, um auch nur ansatzweise als Mensch angesehen und behandelt zu werden. Dazu kommt, dass unsere Regierungen ihre Bürger grundsätzlich nicht als Menschen betrachten. Wie soll es dann erst um Bürgerinnen stehen?
Das Assad-System wälzt seine Bürger nieder
Die systematische Unterdrückung in Syrien trifft Frauen mit aller Härte. Das Assad-System walzt seine Bürger verbal, psychisch und wirtschaftlich nieder. Diese wiederum walzen die Bürgerinnen nieder und die bringen dann „niedergewalzte“ Kinder hervor. Diese Hierarchie erklärt, warum die Revolution so zerrissen ist. Sie ist ein Ergebnis vieler verzögerter Kriege an mehreren Fronten: gegen das faschistische System, die institutionalisierte Religion und die patriarchale Gesellschaft. Sie treiben ziellos auf einem Meer dringender existentieller Fragen, die ich hier nur anschneiden möchte: Fragen über die Bedeutung des Landes, das wir Syrien nennen, über Zugehörigkeit, Grenzen und Sprache.
Zu den Besonderheiten des Feminismus im Nahen und Mittleren Osten gehört ein ererbtes Gefühl von Ungleichbehandlung früherer Generationen, die diese aushalten mussten. Der Unterschied zwischen der neuen Generation von Feministinnen und der vorherigen ist, dass wir in der Lage sind zu protestieren, Kritik zu äußern und etwas zu verändern. Wir dürfen das vererbte Trauma nicht ignorieren. Denn auch wenn viele unserer Mütter dem Feminismus westliche Einflüsse vorwerfen, vergessen sie dabei all die Male, an denen wir Zeuginnen der Ungerechtigkeit gegen sie als Frauen wurden, und all die Male, an denen sie selbst sich über Erb-, Scheidungs- oder Sorgerecht beschwerten. All das sind Beispiele mitten aus unserer Gesellschaft, die nichts mit dem Westen zu tun haben.
Den Nationalstaat haben wir vom Westen übernommen und trotzdem findet man keinen, der ihn auf politischer oder religiöser Ebene angreift, weil er nicht zu unserer Gesellschaft gehört.
Dass der Feminismus länderspezifische Besonderheiten aufweist, bedeutet nicht, dass sich feministische Bewegungen in verschiedenen Ländern nicht gegenseitig inspirieren und beeinflussen könnten. Darin sehe ich kein Problem. Es gibt einen Austausch von Ideen zwischen West und Ost. Mal ist er gut, mal schlecht. Den Nationalstaat haben wir zum Beispiel vom Westen übernommen und trotzdem findet man keinen, der ihn auf politischer oder religiöser Ebene angreift, weil er nicht zu unserer Gesellschaft gehört – nicht einmal nach der Flüchtlingskrise an den vom Westen gezogenen Grenzen! Die feministische Wissenschaftlerin Uma Narayan schreibt in ihrem Buch „Dislocating Cultures“ (1997), dass das Problem in unserem falschen Verständnis von „nationaler Identität“ und „kultureller Authentizität“ liege, das von Politikern gegen jeden Versuch von Erneuerung und Fortschritt in Anschlag gebracht werde.
Als syrische Feministin habe ich vom System höherer Bildung an ausländischen Universitäten insofern profitiert, als ich meine eigenen Erfahrungen endlich benennen konnte. Oder anders gesagt: Ich war Feministin in Syrien, bevor ich den Begriff überhaupt kannte. Mich interessiert die Praxis mehr als der Begriff. Meiner Meinung nach ist die Grundforderung des Feminismus, Frauen als Menschen zu betrachten. Also ist automatisch jeder Mensch – unabhängig seines Geschlechts – ein Feminist, der Frauen mit reiner Menschlichkeit zuerst als Menschen behandelt – und dann erst als Frauen.
Ich habe ein Recht darauf, Wut zu empfinden
Was ich durch meine wissenschaftliche Forschung über Feminismus und durch meine Auseinandersetzung mit anderen feministischen Bewegungen dieser Welt gelernt habe, ist, dass ich ein Recht darauf habe, Wut zu empfinden und diese der Welt zu verständlich zu machen. Wut entsteht, wenn wir Unrecht sehen. Sie ist ein Gefühl, das Trauer auf ein Ziel ausrichtet. Wut ist eine Art von Trauer, die uns dazu befähigt, etwas zu verändern. So wie unsere Wut als syrisches Volk zu einer Revolution gegen das Regime von Baschar al-Assad geführt hat, so ist auch unsere feministische Wut – mit ihrem universellen Anspruch und ihren regionalen Eigenheiten – berechtigt. Sie verbessert nichts, sondern ist nur ein erster Schritt, dem strategisches Handeln folgen muss, um die jeweilige Situation zu verändern.
Ich unterscheide hier zwischen Wut und Hass. Wut ohne strategisches Handeln ist dem Hass sehr nahe. Das versuche ich als Feministin zu vermeiden. Die Oszillieren zwischen Wut und Hass macht den Feminismus, ebenso wie die syrische Revolution, zu einer ewig offenen Frage. Sie verlangt von der internationalen Gemeinschaft, dass sie ihre Ursache und Beschaffenheit genau betrachtet und Sympathie sowohl für die Sache als auch für ihre Verfechter empfindet. Sympathie benötigt die feministische Bewegung dringend, wann immer eine Frau Ungerechtigkeit erlebt und in ihr das Feuer der Wut entflammt.
Übersetzung: Hannah El-Hitami
Dieser Artikel wurde im Rahmen der deutsch-arabischen Debattenreihe von FANN Magazin erstveröffentlicht. Diese deutsch-arabische Debattenreihe wird von dem Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie gefördert. Den arabischen Originaltext von Sarah Hunaidi könnt ihr hier lesen. Im vorherigen Beitrag zu dieser Debattenreihe beschreibt Meriam Bousselmi, warum es wichtig ist, in feministischen Debatten die richtige Sprache zu verwenden.