Von heute auf morgen in die Kategorie „behindert“ zu fallen, wie es bei mir der Fall war, ist eine ganz besonders befremdliche Erfahrung. Ohne Erfahrung mit dieser neuen Identität, mit der man sich ganz plötzlich auseinandersetzen muss, hat man als Referenzrahmen nur den Begriff der Behindertenfeindlichkeit (Validismus), um irgendwie zu erfassen, was passiert ist. Eine Behinderung wird als eine Tragödie begriffen, die zwangsläufig ein unglückliches Leben nach sich zieht. Der Körper wird als in seinem Wert gemindert angesehen. Dennoch bemächtigen sich einige Menschen, wieder ihres Körpers in einer liebevollen Weise; ich zähle mich zu ihnen. Wir verändern die vorherrschende Sicht auf Behinderungen und nehmen vor allem diese als diskriminierend, ausgrenzend und unterdrückend wahr.
Obwohl ich mir der systemimmanenten Diskriminierung und Unterdrückung sowie der Tatsache, dass andere Minderheiten ähnliche Erfahrungen machen, bewusst bin, habe ich lange gebraucht, um zu begreifen, dass es eine Bezeichnung für das von mir Erlebte gibt. „Validismus“ – dieser Begriff hat es mir ermöglicht, einen Bezugsrahmen zu schaffen, der einerseits die Ablehnung des behinderten Körpers erklärt und andererseits die verschiedenen Erscheinungsformen der Gewalt, die man ihm antut. Ich stieß auf ihn beim Lesen von Texten angelsächsischer Aktivist* innen. Hier begegnete ich auch zum ersten Mal dem Konzept der Intersektionalität von Kimberlé Crenshaw. Es erlaubte mir zu analysieren, was es bedeutet, eine behinderte Frau* zu sein, und zwar ohne die Perspektive auf die Behindertenfeindlichkeit zu beschränken.
Momentan engagiere ich mich für den CLHEE (Collectif Lutte et Handicaps pour l’Egalité et l’Emancipation), einen Zusammenschluss von jungen Männern und Frauen* mit Behinderung. In Frankreich sind die wichtigsten Vereinigungen für behinderte Menschen nicht unbedingt strikt gegen den Validismus eingestellt. Ihre Haupttätigkeit besteht in der Verwaltung von Behinderteneinrichtungen. Doch erinnern wir uns daran, dass die UN eine Institutionalisierung durch das Übereinkommen zu Rechten von Menschen mit Behinderungen (BRK) verurteilt hat.
Feministische Bewegungen in Frankreich wiederum befassen sich sehr selten mit Frauen* mit Behinderungen. Wenn es doch geschieht, dann eher in Form von Anekdoten und mit einer fast vollständigen Verkennung der Lebenswirklichkeit dieser Frauen* – sie werden erwähnt, jedoch nicht sichtbar gemacht. Manchmal wird sogar mit einer ganz klar behindertenfeindlichen Sicht auf sie Bezug genommen. Es existiert nur eine einzige Vereinigung, die sich für Frauen* mit Behinderungen einsetzt. Doch obwohl sie sich der doppelten Diskriminierung, die diese Frauen* erleiden müssen, bewusst ist, beruft auch sie sich nicht auf den intersektionellen Feminismus.
Entsprechend ist die Perspektive vom CLHEE in ihrer antivalidistischen und intersektionalen Dimension so selten wie innovativ. Beschäftigt man sich allerdings mit zwei der jüngst von der derzeitigen Regierung getroffenen Maßnahmen, fällt auf, in wieweit die Plastizität des Konzepts von Kimberlé Crenshaw es möglich macht, die Konsequenzen der uns betreffenden Politik einer genauen und notwendigen Analyse zu unterziehen.
Die Führung der von Emanuel Macron gegründeten Partei „La République en Marche“ hat vor kurzem ein Gesetz namens „ÉLAN“ verabschiedet. Es nimmt Bezug auf die Verpflichtung aus dem Gesetz „2005“. Dieses sieht vor, alle Neubauwohnungen, die sich im Erdgeschoss befinden oder mit einem Aufzug zu erreichen sind, barrierefrei zu gestalten. Damit werden aber nur 20 Prozent der neu gebauten Wohnungen barrierefrei sein. Die durch dieses Gesetz zum Ausdruck kommende Diskriminierung wurde von einigen Behindertenverbänden kritisiert. Das Problem, eine barrierefreie Wohnung zu bekommen, wird viele behinderte Menschen zu einem Leben in einer Einrichtung zwingen. Bisher wurden jedoch nur unzureichend die Folgen der Wechselwirkung von Klasse, Geschlecht und Behinderung aufgezeigt. Den ärmsten Männern und Frauen*, jenen, die eine Barrierefreiheit in Neubauten nicht finanzieren können oder schon gar nicht die Mittel haben, ein eigenes Grundstück zu erwerben, um dort ein Eigenheim zu errichten, bleibt oftmals nur die „Wahl“ einer Einrichtung. Diese Einrichtungen, von einigen zwar als Schutzraum bezeichnet, fördern im Gegenteil aufgrund ihres geschlossenen Charakters und aufgrund eines schwachen Kontrollsystem von außen Missbrauch. Das schließt auch den sexuellen Missbrauch ein, der regelmäßig durch die Medien aufgedeckt wird und vor allem Frauen* betrifft.
Abgesehen von der Loi ÉLAN wurde zudem ein Beschluss gefasst, der weiterhin die Einbeziehung des Einkommens des Ehepartners vorsieht, so dass die finanzielle Unterstützung für erwachsene Menschen mit Behinderung gemindert oder sogar gestrichen werden kann. Die finanzielle Abhängigkeit vom Ehepartner, die oft mit einer physischen Abhängigkeit einhergeht, wird in Zukunft nicht mehr alle Menschen mit Behinderung in gleichem Maße betreffen. Es werden die abhängigsten von ihnen betroffen sein – insbesondere Frauen*, und das obwohl sie fast doppelt so häufig wie Frauen* ohne Behinderung Opfer physischer und sexualisierter Gewalt durch ihre Partner werden. Hinzu kommt, dass diese Opfer von Gewalt aus Gründen der fehlenden Barrierefreiheit von entsprechenden Betreuungseinrichtungen schlechter versorgt werden.
Schon diese nur oberflächlich geschilderten Beispiele veranschaulichen, wie wichtig ein intersektioneller Ansatz ist, um die mannigfaltigen Folgen einer einzigen Maßnahme in unserem Gemeinwesen sichtbar zu machen (Diskriminierung in der Diskriminierung). Sie zeigen auch, wie die Politik die Vulnerabilität von Frauen* mit Behinderung verursacht, während sie im Allgemeinen als etwas dargestellt wird, das automatisch mit der Situation dieser Frauen* verknüpft wäre.
Das Konzept der Intersektionalität scheint mir somit ein Interpretationsrahmen zu sein, der die Besonderheiten, die aus parallel stattfindenden unterschiedlichen Diskriminierungssituationen erwachsen, präzise erfasst und gleichzeitig Möglichkeiten aufzeigt, diesen entgegenzuwirken. In meinen Augen ist es aufgrund seiner Offenheit jedoch vor allem ein wertvolles Werkzeug, um Barrieren abzubauen, Kämpfe für mehr Empathie gemeinsam auszufechten und unsere Kämpfe zu unser aller Nutzen zusammenzuführen.