Kritiker*innen der "Identitätspolitik" und Intersektionalität empören sich über eine Spaltung durch die Benennung hierarchisierter Unterschiede. Wir müssen wachsam bleiben vor Instrumentalisierung von Vielfalt und oberflächlichem Multikulturalismus. Intersektionale Theorie und Praxis muss Privilegien und Unterschiede anerkennen und nutzen.
Intersektionalität ist für mich die mit Abstand wichtigste Form praktischer Theorie und theoriebildender Praxis. Sie ist deskriptiv, weil sie meine eigenen Lebenserfahrungen für mich deutbar macht, und sie ist präskriptiv, indem sie mir Richtschnüre an die Hand gibt für wissenschaftliche Arbeit, Aktivismus und persönliche Beziehungen. In allen drei Bereichen geht es letztendlich darum, Unterschiede als Quelle von Möglichkeiten und nicht von Angst zu begreifen. Bündnisse als laufende Arbeit zu sehen, als Beziehungen, die wunderbar und sogar transformativ sein können, aber nicht für immer dauern müssen.
Intersektionalität verweist für mich auch auf die tief greifende und notwendige Verbindung zwischen Bewegungen und Theoretiker*innen. Intersektionalität ist ein Stichwort, ein von Kimberlé Crenshaw eigens entwickelter und ausgearbeiteter Begriff, zugleich aber auch der Höhepunkt von Jahrzehnten der Selbstorganisation Schwarzer Frauen gegen die eigene Marginalisierung und für allgemeine Befreiung, von Anna Julia Cooper über Frances Beal, das Combahee River Collective und Audre Lorde bis zur National Welfare Rights Organization.
Intersektionalität ist eine brillante politische Theorie, die unzählige Reaktionen und Ergänzungen inspiriert, neue Forschungsfelder wie die Queer of Color Critique angeregt und ganze Wissenschaftsfächer umgekrempelt hat. Auch von der neoliberalen akademischen Welt wurde sie vereinnahmt, vom oberflächlichen Multikulturalismus, der an die Stelle einer ernsthaften Befassung mit Unterschiedlichkeit und dem von ihr erzeugten Machtungleichgewicht nur oberflächliche Lippenbekenntnisse zu „Diversität“ setzt.
Manche sind der Meinung, Intersektionalität habe sich mittlerweile totgelaufen, dreißig Jahre nach dem Erscheinen von „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex“. Andere, wie ich, sind überzeugt, dass wir die Erkenntnisse daraus noch dringend brauchen. Gerade jetzt, angesichts der erfolgreichen Allianz von Neonationalismus und Neoliberalismus, wieder einmal mit der altbewährten Strategie von Teilen und Herrschen durch Dämonisierung von Unterschieden. Gemeinsamer Widerstand gegen diese globale Bedrohung ist unabdingbar, wird aber oft gehemmt durch den Anspruch, Unterschiede zu negieren und sich hinter einem einzigen, gemeinsamen Ziel zu versammeln – jede Kritik daran wird als schädliche, egoistische „Identitätspolitik“ abgestempelt –, was wieder die gleichen Teilungen und Ausgrenzungen ergibt, die den intersektionalen Aktivismus Schwarzer Frauen ursprünglich entstehen ließen. Wie Audre Lorde 1982 beobachtete:
„There is no such thing as a single-issue struggle because we do not live single-issue lives.“ (Es gibt nicht den Kampf um das eine Thema, denn unsere Leben drehen sich nicht nur um ein Thema.) Sie sagte das in einer Rede mit dem Titel „Learning from the 60s“ (Von den 60ern lernen), und ich würde sagen, der Lernprozess dauert bis heute an.
Der Widerstand gegen „Identitätspolitik“ und Intersektionalität reicht bis in weite Teile der (weißen) Linken, die nach wie vor die Benennung hierarchisierter Unterschiede und deren Folgen als Akt der Spaltung abstempelt, als Ausspielen der „Rassen“-Karte, Opferhaltung, Negierung, dass auch weiße Männer unterdrückt sein können… Wenn ich mich als Schwarze, lesbische Migrant*in begreife, tue ich nichts davon – ich beanspruche lediglich meine Positionalität in einer Welt, in der „Rasse“, Gender, Sexualität und Staatsangehörigkeit herangezogen werden, um Hierarchien der Zugehörigkeit zu schaffen. Insbesondere lesbische und Trans*Schwarze Menschen müssen nicht nur mit dem strukturellen Rassismus, Sexismus, Queer- und Transphobie in der allgemeinen Gesellschaft fertig werden, sondern sehen sich dem auch in Aktivist*innenkreisen gegenüber. Sie können es sich nicht leisten, davon auszugehen, dass ihre Stimme gehört und ihre Interessen berücksichtigt werden, und die von ihnen erwartete Solidarität gegenüber feministischen, LGBT, Schwarzen und muslimischen Gemeinschaften bekommen sie oft nicht zurück, weil sie sogar in diesen Kreisen immer noch als abweichend gelten. Nichtsdestotrotz sind lesbische und Trans*Schwarze Menschen entscheidend für antirassistische, feministische und queere Bewegungen; sie machen oft die am wenigsten wertgeschätzte Arbeit und sehen sich dabei ständig Ignoranz und Aggressionen gegenüber. Das ist kein Zufall, ebenso wenig wie der Ursprung von Intersektionalität im Aktivismus Schwarzer Frauen, die ihre Befreiung selbst in die Hände nehmen mussten.
Intersektionalität bedeutet aber auch die Notwendigkeit, wachsam zu bleiben für neue Konstellationen, Verschiebungen in vernetzten Machtgefügen und der eigenen Positionalität gegenüber Verbündeten und Gegner*innen. Sie verlangt ehrliche Einschätzungen verschiedener Erfahrungen (wie Crenshaw in Mapping the Margins schrieb: „Das Problem bei der Identitätspolitik ist nicht, dass sie Unterschiede nicht überwindet, … sondern vielmehr das Gegenteil – dass sie dazu neigt, Unterschiede innerhalb von Gruppen zu verschmelzen oder zu ignorieren … das Ignorieren von Unterschieden in Gruppen führt zu Spannungen …“), nicht aber selbstgerechte Opfermentalität. Zu den wichtigsten gewonnenen Erkenntnissen der Intersektionalität zählt die Notwendigkeit, wachsam zu bleiben hinsichtlich unserer eigenen vielschichtigen Positionalitäten in den verschiedenen Netzen, in denen wir uns bewegen; uns nicht nur klar zu machen, wann wir privilegiert sind, sondern das auch zu nutzen, um das intersektionale System des rassistischen Kapitalismus endgültig abzubauen.