Die Inderin Dr. Prasanna Gettu ist Mitbegründerin der International Foundation for Crime Prevention & Victim Care in Chennai. Hier werden Überlebende von Brand- und Säureattacken versorgt und beraten. Die Journalistin Pragati K. B. hat Gettu in ihrem Zentrum getroffen und mit ihr über häusliche Gewalt und ihren langjährigen Kampf gesprochen.
„Ich verpflichte mich, Gewalt gegen Frauen allzeit anzuprangern und mit allen Opfern von Gewalt solidarisch zu sein.“ So steht es auf einem Plakat im Büro der International Foundation for Crime Prevention & Victim Care (PCVC) in Chennai im indischen Bundesstaat Tamil Nadu. Neben diesem Plakat hängen gerahmte Kunstwerke, geschaffen von Opfern häuslicher Gewalt und von Brandattacken. Diese farbenfrohen und doch auch düsteren Kunstwerke schmücken sämtliche Räume des luftigen Büros. Die Pflanzen draußen auf dem Balkon wirken einladend, und drinnen strahlen die hellen, bequemen Sofas und Sessel Ruhe aus. Die klimatisierten Büroräume sind behindertenfreundlich über eine Rollstuhlrampe zu erreichen, sie sind zweckmäßig möbliert, und an den Wänden stehen Regale voller Bücher. Dem Personal bieten sie so angenehme Arbeitsplätze, und die betreuten Gewaltopfer fühlen sich hier freundlich empfangen und sicher.
Dr. Prasanna Gettu ist Mitbegründerin von PCVC, einer Organisation, welche seit dem Jahr 2001 Opfer zwischenmenschlicher Gewalt umfassend unterstützt. Dr. Gettu, von Haus aus Viktimologin, erklärt, nur weil jemand Opfer von Gewalt wurde, bedeute das nicht, die Betroffenen müssten fortan im Elend leben. „Man hat mich gefragt‟, sagt sie, „weshalb unser Büro und unsere Schutzräume klimatisiert sind. Darauf sage ich nur: ‚Warum nicht?‘“ Von dem Klischee, Nichtregierungsorganisationen (NROs) müssten stets in primitiven Verhältnissen arbeiten, hält sie nichts.
Dr. Gettu betont, die Annahme, häusliche Gewalt komme nur in armen und ungebildeten Familien vor, sei eine Fabel: „Menschen gleich welcher Rasse, Klasse, welchen Geschlechts, welcher Kaste, sexuellen Ausrichtung, Religion oder welchen Alters können Opfer sein oder auch Täter.‟ Und sie ergänzt: „Je höher die gesellschaftliche Stellung, desto mehr werden die Menschen versuchen, Gewalt zu verschleiern.‟ Ist keine annehmbare Bleibe zu finden, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Betroffene aus einer von Gewalt bestimmten Beziehung fliehen. Dr. Gettu erkannte dies, als sie bemerkte, dass Gewaltopfer aus der Mittel- und Oberschicht lieber nach Hause zurückkehrten, als in offenen Hilfseinrichtungen der Regierung zu bleiben. Als erste Organisation richtete PCVC deswegen anonyme Schutzhäuser ein.
Kinder sollen lernen, dass gewaltfreie Beziehungen wertvoll sind
Wie das Büro von PCVC ist auch das Schutzhaus, in welchem Opfer häuslicher Gewalt aus allen Schichten und Klassen zusammenleben, ein sehr lebendiger Raum. Frauen und Mädchen und Jungen im Alter von bis zu 16 Jahren finden hier Zuflucht. Auf unserem Weg durch die Räume kommen wir an einem Feuerlöscher vorbei, einer Schaukel und vielen Topfpflanzen. Wir sehen eine junge Frau, die im Aufenthaltsraum ein Buch liest, eine Mutter, die versucht, ihr etwas ungeschicktes Kind aus einer Schüssel zu füttern, eine weitere Frau sitzt am Esstisch und schaut auf ihr Telefon. Aktuell leben sieben Gewaltopfer in der Einrichtung.
Der neue Aufenthaltsort, sagt Dr. Gettu, stelle den Beginn der Rehabilitation dar, nicht ihren Abschluss. Damit der Übergang nicht zu schwerfällt, werden die Gewaltopfer juristisch, medizinisch und psychologisch betreut. Anschließend müssen sie selbst entscheiden, was sie wollen, und PCVC unterstützt sie auf ihrem Weg. Dr. Gettu erklärt: „Wir können nicht einfach zu allen Gewaltopfern sagen, ‚Näht Taschen – und verdient euch damit euren Lebensunterhalt‛. Manche Frauen wollen studieren, ihren Führerschein machen oder lernen zu backen. Ganz gleich, was sie tun wollen, wir helfen ihnen dabei.“
Die meisten Gewaltopfer kommen in Begleitung ihrer Kinder. Dr. Gettu erklärt dies so: „Die Frauen bauen darauf, dass das Kind ihre Aussagen untermauert, dass es den Missbrauch bestätigt. Für uns war es wichtig, dies zu begreifen, denn Jungs aus solchen Familien werden oft ihrerseits zu Tätern, während Mädchen später dazu neigen, selbst dominante und gewalttätige Partner zu wählen.‟ Um diese Kinder zu unterstützen, hat PCVC ein Programm namens „Smiles‟, durch das Kinder emotionale Hilfe erhalten und dazu erzogen werden, gute und gewaltfreie Beziehungen wertzuschätzen. Die Leiterin fügt hinzu: „Allerdings liegt uns daran, dass die Mütter nach und nach selbst die Verantwortung für das Kind übernehmen, das heißt, „Smiles‟ ist da für die Zeit des Übergangs.‟
Viele Kämpfe ums Überleben von Brandattacken-Opfern
Für die Opfer von Brandattacken hat PCVC eine weitere Schutzeinrichtung. Dr. Gettu verdeutlicht die Bedeutung dieses Programms mit dem Namen „Vidiyal‟ (tamilisch für Morgenröte), indem sie erläutert, die staatliche Universitätsklinik Kilpauk in Chennai, eine anerkannte Einrichtung für Intensivmedizin, habe im Oktober 2019 52 weibliche Brandopfer aufgenommen, wovon 14 ihre Verletzungen überlebt hätten. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sei die Hälfte davon jedoch anschließend zuhause verstorben. Dabei, das müsse man sich bewusstmachen, handele es sich nur um ein einzelnes Krankenhaus in einer Stadt, und die meisten Frauen, die Opfer solcher Angriffe werden, würden nie in ein Krankenhaus eingeliefert.
Um besser zu verstehen, welche Rolle häusliche Gewalt bei der hohen Zahl von Brandverletzungen spielt, und um die Zahl der Todesfälle zu reduzieren, sind zwei Mitarbeiterinnen von PCVC stets vor Ort in der Universitätsklinik Kilpauk, und zwar eine sozialmedizinische Betreuerin sowie eine Sozialarbeiterin. Beide Mitarbeiter kümmern sich darum, dass die Opfer proteinreich ernährt werden und Einweghemden sowie -betttücher erhalten. Darüber hinaus bieten sie den Betroffenen psychologische Unterstützung an.
Bei unserem Besuch liegen auf der Station für Brandopfer neun Patientinnen in unterschiedlichen Stadien der Heilung. Der Mitarbeiter von PCVC tritt an das Bett einer Patientin, der kürzlich Haut transplantiert wurde und deren Körper und Gesicht ganz von Verbänden bedeckt ist. In drei weiteren Betten liegen Patientinnen mit Ganzkörperverband, der die meisten Bewegungen unmöglich macht. Die Patientin wird gefragt, ob sie etwas benötige, und sie zeigt auf Bauch und Mund – dort scheint sie Schmerzen zu haben. Man erklärt ihr, der Grund könne eine Magen-Darm-Entzündung sein, und dass man dies dem behandelnden Arzt gegenüber ansprechen werde. Die Sozialarbeiterin befragt so auch weitere Patientinnen, und sie spricht mit den Angehörigen und jenen, welche die Opfer betreuen. Sie sagt: „Ich bin zwar kein Arzt, habe aber eine medizinische Ausbildung durchlaufen, und ich versuche, die Patientinnen während der Behandlung zu unterstützen.‟
Betroffene Frauen sind ihren Familien ausgeliefert
Dr. Gettu zufolge handelt es sich bei den meisten Fällen um Opfer häuslicher Gewalt – auch wenn die Betroffenen meist von „Unfällen‟ sprechen. „Nach und nach‟, sagt sie, „beginnen die Opfer und ihre Betreuer uns zu vertrauen, und dann erfahren wir die ganze Geschichte. Sollte das Opfer seine Aussage ändern und Anzeige erstatten wollen, unterstützen wir sie dabei und verweisen sie an kompetente Anwälte.‟ Darüber hinaus stellt PCVC Betreuer für jene Opfer, die im Krankenhaus nicht durch Angehörige unterstützt werden.
Auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus bleibt es von entscheidender Bedeutung, dass die Wunden hygienisch versorgt werden. Die Betreuer der Opfer werden dafür entsprechend ausgebildet, und Sozialarbeiter suchen das Opfer wiederholt auf, um sicherzustellen, dass eine sachgemäße Betreuung stattfindet. Dr. Gettu sagt: „Gelegentlich können meine Kollegen das Haus des Opfers schon anhand des Gestanks der Wundfäule identifizieren.‟ Viele der Opfer lässt man anschließend sterben, da die Familien nicht in der Lage oder nicht willens sind, ihnen zu helfen. In diesen Fällen versucht PCVC, die Betroffenen in speziellen Schutzeinrichtungen unterzubringen.
Betreut werden in diesen Einrichtungen jene, deren Zustand sich wegen mangelnder Pflege nicht bessert sowie Betroffene, deren Heilungsprozess fast abgeschlossen ist. Ihnen hilft PCVC bei der Wiedereingliederung und zwar durch Physiotherapie, Beratungsangebote, Kunst- und Gruppentherapie sowie durch Jobangebote und Berufsbildung. Im physiotherapeutischen Zentrum können die Patientinnen Übungen machen mit dem Schulterrad, auf dem Laufband, mit Sprossenleitern, Gymnastikbällen sowie weiteren Geräten. Ein Assistenzarzt entwirft für jede Patientin einen an ihre Bedürfnisse angepassten Reha-Plan. Täglich kommen die Patientinnen aus der Schutzeinrichtung in das physiotherapeutische Zentrum, wo sie für einen festen Zeitraum ihre Übungen absolvieren, damit sich ihre Bewegungsabläufe verbessern und keine Kontrakturen auftreten. Das Zentrum verfügt über eine Station zur Wundbehandlung, eine Sterilisationsanlage für Verbandsmaterial und einen Luftreiniger. Hier können die Betroffenen, von denen manche Gesichtsmasken tragen, in Ruhe regelmäßig an den Geräten trainieren. Fortschritte bei Beweglichkeit und Heilung werden genau dokumentiert und mit den Patientinnen besprochen. „Das‟, sagte Dr. Gettu, „motiviert sie, und so lassen sie sich nicht unterkriegen.‟
Viele Opfer von Brandattacken arbeiten heute für PCVC, so wie beispielsweise die Sozialarbeiterin Ambika, die im Krankenhaus tätig ist. „Wenn die Betroffenen sehen‟, sagt Dr. Gettu, „dass es ein Leben nach der Katastrophe gibt, und wenn wir ihnen zeigen, man kann auch anders leben, dann stärkt das ihren Überlebenswillen.‟
Kostenloses Notruftelefon, von Frauen besetzte Polizeiwachen und Angebote an Schulen
PCVC hat ein rund um die Uhr erreichbares, kostenloses Nottelefon, welches von ausgebildeten Fachkräften betreut wird, die direkt helfen, beispielsweise indem sie bei Notfällen eingreifen, Sicherheitstipps geben oder die Betroffenen mit der Polizei, Anwälten und Ärzten verbinden. Jeden Monat gehen um die 50 Notrufe ein, die allesamt erfasst und in einer Cloud gespeichert werden. Alle diese Fälle werden für drei bis vier Monate nachverfolgt, auch dann, wenn die Anruferin sich nicht wieder meldet. – Was sind die wichtigsten Tipps? Dr. Gettu antwortet: „Räumen Sie alle scharfen Gegenstände weg, packen Sie ihre wichtigsten Unterlagen griffbereit in eine Tasche, besorgen Sie sich eine neue SIM-Karte, usw. – all das sind Ratschläge, die unsere Beraterinnen den Betroffenen geben.‟
Bis vor zwei Jahren wurden Notrufe, die außerhalb der Bürozeiten eingingen, an Dr. Gettus Mobiltelefon weitergeleitet. Für Dr. Gettu blieb das nicht ohne Folgen, erreichten sie doch zu allen Tag- und Nachtzeiten Notrufe, für die sie sofort Lösungen finden und wegen denen sie oft an den Ort der Tat eilen musste. Dr. Gettu berichtet: „Gibt es ein Problem, dann lasse ich mich nicht von meinen Gefühlen überwältigen. Ich muss ja eine Lösung anbieten und die Frauen da rausholen. Für meine Arbeit ist das von Vorteil, aber es führt auch zu Problemen. Meine Freunde beschweren sich beispielsweise, dass ich mit ihnen nicht so mitfühlen kann, wie man das von einer Freundin erwartet. Instinktiv versuche ich immer gleich, ihnen Lösungsmöglichkeiten und Auswege aufzuzeigen – und sie sagen dann. ‚Warum hörst du mir nicht einfach einmal zu?‛‟ Einmal, sagt Dr. Gettu und lacht, habe ihr eine Freundin eine Nachricht geschickt, Betreff „Dringend!‟ und dazu nichts als eine Adresse. Als sie dort ankam, fand eine Party statt, und ihre Freundin sagte zu ihr: „Dringend!‟ habe sie geschrieben, weil dies der einzige Begriff sei, auf den ich anspringe.
Ihr lösungsorientierter Ansatz ist die Basis für viele Programme, die PCVC anbietet. Als der Tod zweier Ehefrauen in einer Woche für Schlagzeilen sorgte, stellt Dr. Gettu fest, dass sich beide Opfer wiederholt an die Polizei gewandt hatten – die jedoch blieb untätig. Dr. Gettu wurde klar: Es war nötig, die Beamten für derartige Fälle zu sensibilisieren. Dies war der Beginn von Udhayam, einem Projekt, in dessen Rahmen in Chennai einige nur von Frauen besetzte Polizeiwachen eingerichtet wurden, an welche sich weibliche Gewaltopfer zuerst wenden können. Auch fiel ihr auf, dass Patientinnen mit Verbrennungen, welche aus benachbarten Bezirken in das Klinikum Kilpauk eingeliefert werden, häufig schon auf der Anfahrt verstarben. PCVC reagierte darauf, indem man Personen vor Ort für solche Fälle weiterbildete und das eigene Netzwerk entsprechend ausdehnte. Zudem bemerkte Dr. Gettu, dass queere Opfer zwischenmenschlicher Gewalt so gut wie keine Anlaufstellen hatten, und PCVC arbeitet derzeit an entsprechenden Hilfsangeboten.
Youth Unite und SHARP sind PCVCs wichtigste Programme zur Gewaltprävention, und ihr Ziel ist es, geschlechtsspezifische Vorurteile und Rollenklischees abzubauen. Bei Youth Unite werden über einen Zeitraum von drei Jahren an Schulen und Universitäten Programme angeboten, deren Ziel es ist, Vorstellungen von Macht, Vorrecht, Inklusion, Identität, Gerechtigkeit, Respekt und Gleichberechtigung zu diskutieren und kritisch zu hinterfragen. Bei SHARP geht es um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. „Bei diesen Workshops‟, sagt Dr. Gettu, „richte ich mich nicht allein an Frauen. Vielmehr benutze ich eine geschlechtsneutrale Sprache, damit mir auch Männer zuhören. Erst spreche ich über unterschwellige Formen von Belästigung, über Grauzonen, und erst dann gehe ich weiter. Die Reaktionen auf diese Workshops fallen sehr unterschiedlich aus. Manche der Teilnehmer begreifen das Problem sofort, manche bestreiten es, und wieder andere leugnen es komplett und können nur durch die Macht des Gesetzes abgeschreckt werden.‟
Dr. Gettu ist bei über 50 Firmen die NRO-Delegierte in den Internal Complaints Committees, das heißt, in den Beschwerdeausschüssen, und sitzt damit in jenen Gremien, welche per Gesetz Fälle sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu untersuchen haben. „Manche Opfer‟, berichtet sie, „sagen mir, sie hätten nur deshalb Beschwerde eingereicht, da sie wussten, dass ich dem Gremium angehöre.‟
Frauen sollen in Würde behandelt werden
Zwar kümmert sich PCVC mittlerweile allein um weibliche Opfer, aber als Dr. Gettu die Organisation im Jahre 2001 zusammen mit zwei anderen gründete, war der Ansatz geschlechtsneutral. Die drei Gründerinnen hatten sich an der Tokiwa University in Japan kennengelernt, wo sie Viktimologie studierten, und sie alle faszinierte, wie in Japan Gewaltopfer durch spezielle Hilfseinrichtungen unterstützt wurden. Zurück in Indien gründeten sie dann PCVC. „In nur einem Jahr‟, erinnert sich Dr. Gettu, stellten wir fest, dass 99 Prozent derjenigen, die sich an uns wandten, Frauen waren – und zwar Frauen aus allen Gesellschaftsschichten, welche Opfer häuslicher Gewalt geworden waren. Allmählich wurde uns dadurch klar, was Not tut ist eine Hilfseinrichtung speziell für Frauen.‟ Dr. Gettu und eine der anderen Mitbegründerinnen der Organisation gingen daraufhin in die USA, um sich für die Rolle, ein Opferzentrum zu leiten, weiterzubilden. Nachdem eine der Mitgründerinnen 2002 und die zweite 2005 ausstieg – jeweils aus familiären Gründen – stand Dr. Gettu vor der Entscheidung, entweder die Arbeit einzustellen oder sie alleine fortzuführen. Sie entschied sich für Letzteres und heute, fast 20 Jahre später, kann PCVC stolz von sich sagen, man habe mittlerweile 50.000 Menschen geholfen.
„Für mich‟, sagt Dr. Gettu und lächelt, „bedeutet Erfolg, wenn jemand, den ich als sechs Monate altes Kind aus einer gewaltgeprägten Beziehung gerettet habe, mir ein Foto von ihrer Schulabschlussfeier, von seiner Hochzeit schickt. Das gibt mir das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Einer ganzen Generation haben wir bereits geholfen, und wenn man bedenkt, dass diese neue Generation Frauen würdig behandelt, dann ist das ein echter Erfolg.‟
Die Motive der Prasanna Gettu
Dr. Gettu wuchs behütet in einer wohlhabenden Familie auf. Ihr Urgroßvater arbeitete während der britischen Kolonialzeit als Arzt, und jedes Mal, wenn er einem General das Leben rettete, wurde ihm als Zeichen der Wertschätzung ein ganzes Dorf geschenkt. Ihr Vater war Anwalt und Grundbesitzer. Sie selbst heiratete im Alter von 21 Jahren. „Ich war ein Wildfang‟, sagt sie schelmisch, „und als ich schwanger war, trug ich, sehr zum Ärger meiner Schwiegermutter, Jeans.‟ Und sie fügt hinzu: „Oft gründen Menschen, die etwas Furchtbares überstanden haben, eine Hilfsorganisation, um besser mit dem eigenen Schicksal zurechtzukommen. Bei mir war es genau umgekehrt. Erst nachdem ich bereits viele Jahre aktiv gegen häusliche Gewalt eingetreten war, fiel mir auf, dass es verlogen war, meine eigenen, persönlichen Probleme zu ignorieren. Das änderte sich erst, als meine Kinder es mir bewusst machten, und von da an wusste ich, ich kann nicht zwei Leben führen, kann meinen Kindern diesen Widerspruch nicht zumuten.‟ Ihr Sohn studiert heute Robotik in Deutschland, und ihre Tochter arbeitet im Bereich Tiermedizin. Dr. Gettu selbst lebt mit drei Katzen und einem Hund nahe dem Haus ihrer Mutter.
Dr. Gettu erinnert sich, wie sie sich als junges Mädchen für Krimis begeisterte: „Ich wollte unbedingt Forensik studieren und Verbrechen aufklären! Dem am nächsten kam das Fach Kriminologie, also habe ich darin meinen Abschluss gemacht.‟ Ihre Doktorarbeit schrieb sie über Korruption in Apparaten der Strafjustiz. Sie erklärt: „Besonders interessierte mich die Pathologie von Organisationen im internationalen Vergleich. Ich wollte begreifen, wie es sein kann, dass Apparate der Strafjustiz, welche Opfer schützen sollen, selbst gegen Recht und Gesetz verstoßen. Allerdings habe ich im Studium nichts über die feinen Unterschiede zwischen unterschiedlichen Formen von Gewalt erfahren. Hier sind die praktischen Erfahrungen, die ich im Laufe der vergangenen 20 Jahre gemacht habe, mehr wert, als mehrere Doktortitel.‟ – So das Fazit einer der wenigen Viktimologinnen weltweit, die sich der praktischen Arbeit widmet.
Gewalt ist allgegenwärtig und hat viele Gesichter
„Die größte Hürde bei der Arbeit von PCVC‟, erklärt Dr. Gettu, „ist es, den Leuten klarzumachen, wie allgegenwärtig häusliche Gewalt ist. Die Regierung redet nach wie vor nur ungern über Gewalt im privaten Bereich, und die Polizei tut es als Allerweltsproblem ab.‟ Sie betont, dass Gewalt viele Formen hat: „Es gibt psychische Gewalt, finanzielle Vormundschaft, manche versuchen, Frauen in den Wahnsinn zu treiben, sie einzuschüchtern, andere schlagen sie, nötigen sie, bedrohen sie, geben ihr die Schuld an allem, missbrauchen sie sexuell, verfolgen sie, belästigen sie bei einem Date – all dies sind Formen zwischenmenschlicher Gewalt, und keine davon wiegt schwerer als die andere.‟ Die Frau eines Piloten, berichtet sie, sei beispielsweise zu ihnen gekommen, und habe gefragt, ob man für sie bei einem Laden um die Ecke eine Masala Vada besorgen könne; ihr Mann erlaube ihr das in der Regel nicht. „So etwas‟, sagt, Dr. Gettu, „ist Gewalt.‟ Ein Mann, der den Fernseher mit Beschlag belegt und seiner Frau nicht erlaubt, ihre Lieblingssendung zu sehen – das ist Gewalt. Und das Opfer einer Brandattacke, das im Rahmen der Therapie an einen Strand gebracht wird, dort mit Wasser um sich spritzt, und dann sagt, sie verstehe gar nicht, wie sie das tun könne, ohne dass man ihr Vorwürfe macht – das ist Gewalt.‟
„Heute‟, sagt Dr. Gettu, „da es Gesetze gegen häusliche Gewalt gibt, beginnen sich die Dinge zu bessern. Die jüngere Generation weiß von Missbrauch und wehrt sich. Eltern trauen sich, den Mund aufzumachen und Gewalt anzuprangern. All diese Veränderungen zeigen – Frauen erkennen heute den eigenen Wert. Der Begriff ‚Selbstermächtigung‛ – das ist so ein großes Wort! Was bedeutet es denn, Frauen zur Selbständigkeit zu ermächtigen? Für mich geht es dabei darum, dass Frauen die kleinen Dinge im Leben in Freiheit genießen können – dass sie sich selbst kennenlernen und an sich glauben. Ich muss den Opfern klarmachen, dass ihr Leben wertvoll ist, dass sie wertvoll sind. Wenn eine Frau das erkennt, dann habe ich meine Arbeit getan.‟