Mexiko: Frauen fordern ein Ende der Gewalt

Hintergrund

In Mexiko gehen derzeit täglich Frauen auf die Straße, um gegen sexuelle Gewalt zu demonstrieren. Mehrere Feminizide haben die extreme Gewalt an Frauen in den letzten Wochen verdeutlicht.

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Ingrid Escamilla war 25 Jahre alt, als sie am 9. Februar von ihrem Lebensgefährten umgebracht wurde. Obwohl sie ihren Aggressor sieben Monate vor dem Verbrechen anzeigte, bekam sie keinen Schutz. Die Fotos ihrer Leiche wurden der Boulevardpresse zugespielt und auf den Titelseiten mehrerer großer Zeitungen veröffentlicht. Die Zurschaustellung dieser Bilder als sensationslüsterne Geschichte führte zu großer Empörung, mehrere tausend Frauen verschiedenster Altersgruppen gingen in den folgenden Tagen in mehreren Städten Mexikos auf die Straße.

Kein Zugang zu Information und Rechtsberatung

Dass Ingrid Escamilla Anzeige erstattete, ist äußerst wichtig. Ihr Fall zeigt neben dem Problem eine mögliche Lösung: Das Verbrechen hätte verhindert werden können, denn der Staat hat die Möglichkeit, etwas gegen die Gewalt zu tun. Anders als Escamilla zeigen in Mexiko jedoch viele Frauen die Gewalt gegen sie aus verschiedenen Motiven nicht an. Laut einer landesweiten Umfrage zeigten nur zwei Prozent der Frauen über 18 Jahren, die im Jahr 2018 sexuell belästigt wurden, ihre Aggressoren an. Bei Vergewaltigungen waren es 22 Prozent. Einige Opfer wissen nicht einmal, wo sie Anzeige erstatten können.

Das zeigt, wie wichtig es ist, die Rechte bekannt zu machen. Die Opfer müssen erkennen, dass sie Gewalt erleben und ein Anrecht auf Schutz haben. Die Regierung muss richtig kommunizieren: Information ist ein Recht, das die Tür öffnet, andere Rechte kennenzulernen. Doch bisher bedeutet eine Anzeige in Mexiko eine mühsame Angelegenheit, bei der es die Opfer schwer haben. Der aktuelle Rechtsstaat-Index vom World Justice Project bescheinigt: Das mexikanische Justizsystem ist korruptionsbelastet und alles andere als schnell – die Menschen haben keinen Zugang zu Information und Rechtsberatung.

Stigmatisierung, Banalisierung und Straffreiheit

Zu den Hauptgründen, auf eine Anzeige zu verzichten, gehören die Angst vor Konsequenzen und Drohungen sowie die Scham oder die Erwartung, die Schuld in die eigenen Schuhe geschoben zu bekommen. In einer Gesellschaft, in der die Gewalt immer normaler erscheint und den Opfern auch von staatlichen Repräsentant/innen oft eine Mitschuld gegeben wird, ist das nicht verwunderlich. In vielen Gesellschaftssektoren scheint die Gewalt normalisiert und banalisiert zu werden. Ein brutales Beispiel dafür ist, wie die Presse die Gewaltkrise behandelt. Das betrifft nicht nur die Sensationsmedien; die anerkannte Tageszeitung Reforma betitelte einen Artikel über Mordstatistiken etwa mit dem Wortspiel „Ejecutómetro (Exekutometer).

Die oft von Partnern und Ex-Partnern verübte Gewalt gegen Frauen geschieht in verschiedensten Kontexten. Auch in den privilegierten Schichten, wie der Fall von Raquel Padilla Ramos zeigt. Die anerkannte Akademikerin aus dem Bundesstaat Sonora wurde im November 2019 im Anschluss an einen Scheidungstermin von ihrem Ex-Partner in ihrer Wohnung ermordet. Ihr Fall ging nach einem Beitrag ihrer Tochter Ana Cecilia in den sozialen Medien viral. Auch Straffreiheit ist kein Phänomen, das nur die Unterschicht betrifft: Nach einem Streit im Januar 2019 wurde Abril Pérez Sagaón von ihrem Mann mutmaßlich mit einem Baseballschläger geschlagen und mit einem Messer verletzt. Die Frau zeigte den Mordversuch an, doch ein Richter klassifizierte das Vergehen als familiäre Gewalt. Der Angeklagte Juan Carlos García Sánchez, ehemaliger Generaldirektor von Amazon in Mexiko, kam frei. 

Das erste Jahr der neuen Regierung war das bisher tödlichste

Die genannten Fälle sind nur einige von vielen Hassverbrechen. Derzeit wissen wir trotz besorgniserregender offizieller Zahlen (976 Feminizide im Jahr 2019) nicht einmal, wie viele Morde tatsächlich einzig aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit begangen werden und damit Feminizide sind. Klar ist jedoch: Die Gewaltkrise hat in Mexiko historische Ausmaße angenommen. Nach Daten der mexikanischen Statistikbehörde INEGI ist die Zahl der Morde seit 2007 drastisch angestiegen. Die offiziellen Statistiken verzeichnen bis 2017 213.000 ermordete Männer und 25.800 ermordete Frauen. Der Anstieg fällt zusammen mit dem Beginn des „Drogenkrieges“ und der Militarisierung des Sicherheitsapparats. Die Periode von 2007 bis 2017 bedeutete das Jahrzehnt mit der höchsten Gewaltrate der vergangenen 40 Jahre. Tendenz steigend. Das Jahr 2019, das erste Jahr der Regierung von Andres Manuel López Obrador, war das tödlichste seit in Mexiko Morde registriert werden: 34.582 Opfer. Die Krise betrifft nicht nur Morde. Heute gibt es mehr als 60.000 verschwundene Personen im Land.

Es liegt auf der Hand, dass die aktuelle Bundesregierung nicht für die Sicherheitskrise und die Straflosigkeit verantwortlich ist, die sie von den Regierungen Felipe Calderón (2006-2012) und Enrique Peña Nieto (2012-2018) geerbt hat. Doch einmal an der Regierung, ist sie für die derzeitige Sicherheitslage verantwortlich. Das schließt Themen wie die Gewalt gegen Frauen und LGBTI ein. Der drastische Gewaltanstieg seit 2007 verläuft nicht homogen, junge Frauen sind überproportional betroffen. Die patriarchale Gewalt durchzieht das Land: Laut einer Umfrage des Nationalen Statistikinstituts INEGI haben 66 Prozent der Frauen mindestens einmal emotionale, ökonomische, physische, sexuelle oder diskriminierende Gewalt erlitten, 41 Prozent haben sexuelle Gewalt erlebt. In diesem Kontext weisen die Expertinnen darauf hin, wie grundlegend es ist, bei den Männer- und Frauenmorden spezifische Analysen vorzunehmen. Die Genderunterschiede spielen eine überproportionale Rolle und in Mexiko sterben die ermordeten Frauen durch Männergewalt. Eine weitere Zahl: Laut Data Cívica waren von den zwischen 2000 und 2018 aufgrund „einer sexuellen Aggression mit körperlicher Gewalt“ ermordeten Personen 86 Prozent Frauen.

Die Proteste sind jung, wütend und militant

Die schrecklichen Verbrechen aus jüngster Zeit haben Proteste mit sich gebracht, wie sie so intensiv, wütend und militant lange nicht zum Vorschein kamen. Die Frauen in Mexiko gehen auf die Straße, um von der Regierung konkrete Lösungen zu fordern. Mehrheitlich sind es junge, ungestüme Frauen. Einige greifen zur direkten Aktion wie Graffiti und Stencil. In Einzelfällen, die aber von den Medien herausgestellt werden, werden auch öffentliche Einrichtungen wie Bänke, Papierkörbe oder Bushaltestellen zerstört. Die Frauen sind es leid. Die Demonstrationen fordern nicht nur bei der Regierung ein, sie richten sich ebenso an die Medien, die eine gewalttätige Rhetorik verbreiten, und eine machistische Gesellschaft, in der Sätze wie „sie zieht sich absichtlich provozierend an“, oder „sie sollten lieber in die Küche zurück“ ausgesprochen werden. Derzeit machen Ärztinnen und Polizistinnen in den Medien öffentlich, dass sie sich beständig sexueller Belästigung und Übergriffen ausgesetzt sehen. 

Anfang März forderten Frauen auf einer Demonstration im Bundestaat Mexiko, den Genderalarm zu aktivieren. Dieses vom Innenministerium koordinierte Protokoll erlaubt es Organisationen und Institutionen, Maßnahmen gegen die Gewalt gegen Frauen einzufordern. Dort, wo der Genderalarm aktiviert wird, soll eine Arbeitsgruppe eine Diagnose durchführen und Bericht erstatten. Bisher wurde der Alarm in Mexiko-Stadt und 19 Bundesstaaten aktiviert. Doch Expertinnen wie Candelaria Ochoa Ávalos, Leiterin der Nationalen Kommission zur Prävention und Abschaffung der Gewalt gegen Frauen, weisen darauf hin, dass der Alarm derzeit wirkungslos ist. 

Der Staat soll aufklären – und ist selber Täter

Die dramatische Gewaltsituation, unter der die Frauen leiden, verlangt nach konkreten Lösungen und eindeutigen Strategien, um Gewalt gegen Frauen und Feminizide aufzuklären. Und vor allem, sie zu verhindern. Das stellt die Regierung, des aus den Reihen der Linken kommenden Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, vor gewaltige Herausforderung. In einigen Fällen ist der Staat sogar selbst für sexuelle Gewalt gegen Frauen verantwortlich. So bei Ernestina Ascencio aus dem Bundesstaat Veracruz. Die Greisin wurde 2007 mutmaßlich von Soldaten vergewaltigt und ermordet. Oder in San Salvador Atenco, wo die Polizei 2006 Dutzende von Frauen vergewaltigte. Der Fall gelangte bis vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Der Staat muss nicht nur die Fälle aufklären, wo er der Täter ist. Er muss eine effektive öffentliche Politik entwerfen und umsetzen, die den Verbrechen gegen die Frauen vorbeugt und die Vergehen bestraft. Es ist dringlich, den Kreislauf der Straffreiheit zu durchbrechen. Mexiko belegt beim weltweiten Index für Straffreiheit den vierten Platz. Nur 17 Prozent der wegen Mordes angeklagten Personen kommen deswegen in Haft. Anders gesagt: Es gibt keine professionellen, unabhängigen und mit ausreichenden Kapazitäten ausgestattete Ermittlungsbehörden. Kurz- und mittelfristig ist es dringend, Staatsanwaltschaften und Polizei in jedem Bundesstaat zu stärken. Derzeit fehlt ihnen nicht nur die Genderperspektive. Sie haben auch kein ausreichendes Rüstzeug für ihre Arbeit.

Moral und Paternalismus statt effektiver Maßnahmen

Bisher sind die politischen Botschaften widersprüchlich: Zum einen existiert erstmals in der Geschichte des Landes ein von Frauen und Männern paritätisch besetztes Kabinett. Zum anderen sehen sich Frauen- und Kinderhäuser für Gewaltopfer angesichts einer strikten Austeritätspolitik heftigen Budgetkürzungen ausgesetzt – Einrichtungen, die eine Schlüsselrolle bei der Opferbetreuung spielen. Zum einen spricht sich die Innenministerin Olga Sánchez Cordero für die Legalisierung der Abtreibung auf Bundesebene aus. Zum anderen reagiert der Präsident auf die feministischen Forderungen anstelle eines strategischen Plans zur Vermeidung und Auslöschung der Gendergewalt mit einem moraltriefenden und paternalistischen Dekalog, der mehr religiöser Rhetorik als öffentlicher Politik folgt. Für großes Aufsehen sorgte ebenfalls die Rolle des Generalbundesstaatsanwaltes Alejandro Gertz. Im Februar dieses Jahres schlug er Abgeordneten hinter verschlossenen Türen vor, den Straftatbestand Feminizid abzuschaffen und ihn als straferschwerenden Tatbestand bei Mord umzudefinieren.

Solange es keine klaren Erfolge gibt, werden die Frauen weiter auf die Straße gehen, um angesichts der Apathie die Krise sichtbar zu machen und so grundlegende Dinge wie ein würdevolles Leben frei von Gewalt einzufordern. Am 9. März werden sich viele anlässlich des internationalen Frauentages (8. März) an einem landesweiten Generalstreik beteiligen, um auf ihre dramatische Situation aufmerksam zu machen. 

Übersetzung aus dem Spanischen von Gerold Schmidt

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers Geschlechterdemokratie in Lateinamerika