Streitsüchtiger Neo-Katholizismus erobert die Politik: die italienische Perspektive

A pro-life billboard on the way to Venegono. The graffitto reads "C.L. [i.e. Communion & Liberation] = Mafia."

Der XIII. Weltkongress der Familien (WCF), der im März 2019 in Verona stattfand, markiert das Ende einer Mobilisierungsphase, die 2012 - 2013 in Italien einsetzte. Sie begann mit einer alternativen Movement-for-Life-Bewegung, einem italienischen Ableger der March-for-Life-Bewegung, und entwickelte sich dann zu einer neuen Vereinigung, der La Manif Pour Tous Italia (später Generazione Famiglia), die den Grundstein für die Organisation und Entwicklung der Anti-Gender-Bewegung legte. 

Als letzte einer Reihe von Konferenzen zu den Themen Leben, Familie und ‚Genderideologie‘, wurde der XIII. Weltkongress der Familien von der Stadt Verona unterstützt (Mitorganisatorin der Konferenz) und offiziell von der Kommunal-, Provinz- und Regionalregierung genehmigt. Außerdem bekommt der Kongress Unterstützung vom Vizepräsidenten des Rates und Minister des Inneren, Matteo Salvini, sowie vom Minister für Familie und Behinderte, Lorenzo Fontana - beide Vertreter der Lega Nord. 

Eine neue katholische, politische Initiative 

Es ist jedoch bemerkenswert, dass sowohl die etablierten Pro-Life-Bewegungen, die der Kirche am nächsten stehen (wie beispielweise die Movement-for-Life-Bewegung), als auch die unbedeutenderen Bewegungen (wie beispielsweise die European Movement for the Defence of Life and Human Dignity, MEVD, oder Family Tomorrow, Förderer des March for Life) der Organisation des WCF fernbleiben. 

Genau genommen, sind beide ‚zu‘ katholisch, um einen ‚säkularen‘ Kampf gegen die ‚anthropologische Entwicklung‘ zu führen, die durch die Verbreitung der ‚Gender-Theorie‘ bzw. ‚Gender-Ideologie‘ hervorgerufen wurde. In den letzten Jahren wurde der Aufbau der Anti-Gender-Bewegung angeführt vom Komitee zur Verteidigung unserer Kinder (CDNF): Der Fokus lag auf den Demonstrationen am Familientag 2015 und 2016 und richtete sich gegen nichteheliche Partner*innenschaften, gegen das Gesetz über Homophobie und Transphobie und gegen das Genderbildungsgesetz. Die Gründung des Komitees geht zurück auf die Tätigkeit einer neuen Gruppe von italienischen katholischen Aktivist*innen. 

Unter der Führung von Massimo Gandolfini hat es das Komitee wahrhaftig geschafft, die Hauptforderungen und größten Gruppen und Verbände unter dem Dach eines – von mir bezeichneten – streitsüchtigen, außerkirchlichen und außerkatholischen Katholizismus zu vereinen. Gemeint ist ein Aktivismus, der auf der Ablehnung von politischen Kompromissen (streitsüchtig), auf der Unabhängigkeit von der Theologie (außerkirchlich) und auf einem säkularen Mobilisationsdiskurs (außerkatholisch) basiert und der die konzeptuellen Instrumente der Wissenschaft und Forschung (verfälscht) einsetzt. 

Das italienische Kartell, das den WCF unterstützt, ist somit nicht repräsentativ für die italienischen Katholik*innen oder die italienischen katholischen Verbände, und schon gar nicht für die Kirche insgesamt. Es ist eher Ausdruck einer neuen katholischen Bewegung, die sich durch eine sowohl außerkirchliche als auch außerkatholische Dimension auszeichnet. 

Was in der wissenschaftlichen Literatur und Presse als „Anti-Gender-Bewegung“ bezeichnet wird, ist eigentlich die Position, die bestimmte Befürworter*innen innerhalb dieser neuen katholischen Bewegung (Pro-Leben, Anti-Gender und Pro-Familie) in Bezug auf die Kirche, auf in der Vergangenheit bestehende andersdenkende katholische Bewegungen und auf die Politik eingenommen haben. Mit anderen Worten handelt es sich um eine Position, die an der Schnittstelle der drei Bereiche Religion, Militär und Politik verortet ist und von der Visionen, Ideen, Projekte, Vorschläge, Proteste, Demonstrationen und Mobilisierungskampagnen zu den Themen Gender, Sexualität, Leben und Familie ausgehen.  

Die politischen Instrumentalisierungen von Religion

Die Beziehung zwischen Religion und Politik wird tendenziell immer eher aus Sicht der politischen Instrumentalisierung von Religion untersucht. Anders gesagt, ging es insbesondere in den letzten Jahren um die Aneignung von Religion durch sogenannte populistische Kräfte, die Religion als nützliches Instrument benutzen und missbrauchen, um Stimmen zu fangen und die Wähler*innenschaft zu beeinflussen, indem sie Religion zu einem politischen Instrument machen.

Die Frage, die jedoch unbeantwortet bleibt, betrifft nicht die Modalitäten, mit denen sich Religion zu eigen gemacht wird, sondern zielt vielmehr auf jene Methoden ab, die Religion (politisch) zugänglich machen. An religiösen Orten, im militärischen Bereich und in der politischen Arena: Wie wird Religion instrumentiert, so dass sie ein politisch nützliches Instrument werden kann? 

Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, die Perspektive zu ändern: Weg von der Instrumentalisierung hin zur politischen Instrumentierung von Religion; das erfordert, die Dynamiken und Aktivitäten des neuen katholischen, politischen Zweigs von Aktivist*innen, die Religion – insbesondere im Rahmen des von ihnen beworbenen Familientags - politisch verfügbar und handhabbar machen, in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.

Die Dynamik der politischen Instrumentierung von Religion wurde in der Rede von Matteo Salvini auf dem XIII. WCF in Verona besonders deutlich. Auf der Bühne des WCF war es für den Chef der Lega Nord ein leichtes, sich das religiöse Thema zu eigen zu machen. Grund dafür ist, dass die neue katholische Gruppierung Religion verstoffwechselt hat, indem sie sie säkularisiert und entkatholisiert und in eine ‚anthropologische‘ Fassung umgeschrieben, sie also in die politische Sprache übersetzt hat.  

Salvini erklärt:

Ich danke Euch, denn Ihr seid die Vorhut, der Kern, die Lebendigwerdung, die die Flamme dessen am Leben hält, was 99,9% der Gemeinschaft ausmacht, die der liebe Gott den Gläubigen und Nichtgläubigen auf die Erde gesandt hat. Und deshalb kämpfe ich und werde ich kämpfen als Minister, als Mann, als Vater […], damit Italien, damit Europa die Frau, den Mann, das Kind wieder in das Zentrum stellt, damit es eine Zukunft für diesen Kontinent gibt […]“. 

Und triumphierend schließt er mit den Worten:

“Ihr könnt auf mich zählen. Ich werde das Recht auf Leben, das Recht auf freie Wahlen, Behandlungsfreiheit1 und Bildungsfreiheit verteidigen…. Ich zähle auf Euch: Es lebe die Familie, es leben die Mütter, Väter und Kinder, und Hände weg von den Kindern. Danke. Es lebe Verona, viel Glück und alles Gute… und danke, lieber Gott“. 

Salvinis Beitrag endet mit einer politischen Darbietung: Er trägt ein La Manif Pour Tous T-shirt, das den Transfer des neuen katholischen Aktivist*innenprojekts von einer Bewegung in die Politik symbolisiert. Begriffe wie ‚Familie‘, ‚Mutter‘, ‚Vater‘, ‚Gemeinschaft‘, Italien‘, ‚Leben‘, ‚Lieber Gott‘ greifen die Semantik von Pro-Leben, Anti-Gender und Pro-Familie auf. Sie ermöglichen es Salvini, eine bestimmte katholische Klientel zu adressieren, nämlich diejenige, die sich nicht so sehr mit dem etablierten Katholizismus identifiziert, sondern sich eher im außerkirchlichen und außerkatholischen Katholizismus wiederfindet, einem anthropologischen Katholizismus, den ich als neokatholischen Katholizismus bezeichnen möchte. 

Ein kontra-demokratisches Paradigma

Durch die politische Instrumentierung von Religion regen die neokatholischen Bewegungen einen Paradigmenwechsel an: Weg von einem demokratischen, rechtebasierten hin zu einem außer-demokratischen Paradigma: Dieses ist in die institutionellen Strukturen der Demokratie eingebettet, basiert aber auf den ‚natürlichen‘, traditionellen, demokratischen Werten, die die ‚widernatürlichen‘ Werte der Grundrechte in Frage stellen. Daher ist dieses Paradigma kontra-demokratisch, konkurrierend und kritisch in Bezug auf das demokratische Paradigma der Grundrechte und Gleichberechtigung.

Das neokatholische Projekt ist gewiss kontrarevolutionär2, aber es stellt sicherlich weder eine Rückkehr zu den Ursprüngen, noch eine Wiederherstellung oder einfach nur eine katholische Reaktion dar. Der sogenannte Backlash3, der sich auf einen bestimmten politischen Moment zurückführen lässt (grob gesagt zwischen dem Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre und dann noch einmal Anfang 2010) ist eine der Logiken, auf der das jüngste Entstehen einer neuen Welle des katholischen Aktivismus beruht, jedoch nicht die einzige. 

Um die politische Evolution der Anti-Gender-Bewegungen verstehen zu können - beispielsweise die spezifischen Modalitäten der Teilnahme an öffentlichen Debatten und Auseinandersetzungen oder die Fähigkeit der Etablierung eines Austausches zwischen Parteien und Bewegungen – ist es notwendig, ihre produktive, proaktive und programmatische Dimension zu betrachten. 

In der Tat ist die neokatholische Bewegung das Instrument, das von einer neuen Gruppierung von katholischen Aktivist*innen in Italien als Strategie entworfen wurde, um die durch das demokratische Paradigma entstandene Herausforderung einer ex-politisierten und entpolitisierten Religion zu meistern. Dem Wesen ihrer Strategie nach behauptet die neokatholische Bewegung, dass sie in der Lage wäre, innerhalb der Demokratie zu agieren, gleichzeitig aber die Demokratie als solches in Frage zu stellen und dadurch ein neues kontra-demokratisches - vielleicht sogar ein anti-demokratisches - Paradigma zu schaffen. 


 1 Anmerkung der Übersetzung: Damit ist das Recht gemeint, frei zwischen privater und öffentlicher Gesundheitsversorgung wählen zu können. 

 2 Yann Raison du Cleuziou, Une contre-révolution catholique. Aux origines de la Manif pour tous, Paris, Le Seuil, 2019. 

 David Paternotte, Backlash: A Misleading Narrative, Engenderings, 2020.