Nach Tod von Ginsburg: Motivationsschub für progressive Wähler*innen?

Kommentar

Der Tod von Ruth Bader Ginsburg,  der mit 27 Amtsjahren dienstältesten Richterin am Obersten Gerichtshof der USA, einer linksliberalen Ikone und der wichtigsten juristischen Wegbereiterin der amerikanischen Frauenrechts- und Gleichstellungsbewegung seit den 1970er Jahren, bringt neue Unwägbarkeiten, aber auch neue progressive Energie und Motivation in einem erbittert geführten Wahlkampf.

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Über dem Wochenende gingen viele zum Obersten Gerichtshof, um Ruth Bader Ginsburg die letzte Ehre zu erweisen

Nur 45 Tage vor der amerikanischen Präsidentschafts- und Kongresswahl ist der Tod von Ruth Bader Ginsberg mit 87 Jahren ein bedeutender Kristallisationspunkt im scheinbar unüberwindbaren Kulturkrieg innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Kaum ein Thema symbolisiert dies deutlicher als der anhaltende politische Grabenkampf um den Fortbestand legaler Abtreibung in den USA. Die Nachfolge von Ginsburg, und wie und wann sie bestimmt wird, hat aber nicht nur weitreichende Folgen für die Zukunft reproduktiver Rechte in den USA, sondern auch viel grundlegender für die zukünftige Sozial- und Rechtsordnung des Landes, inklusive der Stabilität zentraler demokratischer Institutionen, und damit letztlich auch für die Demokratie in den USA an sich.

Für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden, der in den Umfragen weiterhin - zum Teil deutlich - vor Präsident Trump führt, könnte der Tod Ginsburgs und die Auseinandersetzung um die Neubesetzung am Obersten Gerichtshof zum wichtigsten Mobilisierungsgrund für vor allem progressive und junge Wähler/innen werden, die er für einen deutlichen Wahlsieg braucht, die er aber bislang nicht begeistern konnte, und die sich breiten systemischen und sozialen Wandel  wünschen.

Verlust einer liberalen Justizikone

Viel steht auf dem Spiel. Mit dem Tod Ruth Bader Ginsburgs verliert der Oberste Gerichtshof die Richterin, die seit ihrer Berufung durch Präsident Bill Clinton 1993 am konsequentesten die Gleichstellung von und mehr Gerechtigkeit für Frauen, Schwarze, LGBTIQ-Individuen, Menschen mit Behinderung und Migrant*innen eingefordert hat. Das tat sie häufig durch die Überzeugung einer Mehrheit der neun US-Verfassungsrichter*innen, wie in einem wegweisenden Urteil von 1996, welches die elitäre Militärschule von Virginia, bis dahin nur Männern zugänglich, auch für Kadettinnen öffnete. Sie setzte damit innerhalb des höchsten US-Gerichts die juristisch brilliante Arbeit fort, mit der sie als Rechtsprofessorin und Gründerin des Projekts für Frauenrechte der American Civil Liberty Union (ACLU) seit Beginn der 1970er Jahre mehrere wegweisende Gleichstellungsklagen vor dem Supreme Court erfolgreich argumentiert und gewonnen hatte.

Während der Oberste Gerichtshof durch die Installierung neuer sozialkonservativer Richter im Laufe der Zeit immer weiter nach rechts rückte, zuletzt infolge der Berufung von Neil Gorsuch 2017 und Bratt Kavanaugh 2018, die Präsident Trump mit Blick auf seine Unterstützer*innen aus dem Spektrum der Evangelikalen Christen ernannt hatte, wurde Ruth Bader Ginsburg zum wichtigsten internen „Dissenter“. In einer Bandbreite von Urteilen, die vom Ausgang der Präsidentschaftswahl 2000 in Bush v. Gore über den Umweltschutz bis zu reproduktiven Rechten und der gleichen Bezahlung für Männer und Frauen reichten, war sie die führende linksliberale Stimme am Obersten Gerichtshof. Ihrem politischen Einfluss und ihrer Stellung in der Öffentlichkeit hat das nicht geschadet, ganz im Gegenteil. Als “Berüchtigte RBG” (Notorious RBG) mit dem Leidspruch “ich widerspreche” (I dissent) wurde sie zu einer Justizikone und in ihren Achtizgern sogar zu einem popkulturellen Phänomen, samt Merchandising. Selbst mit ihrer Minderheitenmeinung, wie im Falle von Ledbetter v. Goodyear Tire & Rubber Co. 2007, als sie ihre abweichende Interpretation in Gänze verlas, war sie gesetzgebend. So war das erste Gesetz, das Präsident Barack Obama nach seinem Amtsantritt im Frühjahr 2009 unterzeichnete der Lilly Ledbetter Fair Pay Act, der die Zahlungsgleichstellung von Männern und Frauen in US-Unternehmen gesetzlich festschrieb.

Unüberwindbare konservative Mehrheit?

Mit dem Ableben von Ruth Bader Ginsburg ist die liberale Minderheit am Supreme Court nun auf nur noch drei Richter*innen (Elena Kagan, Sonia Sotomajor und Stephen Breyer) geschrumpft. Die Nominierung der Nachfolge, die zum Brennpunkt im laufenden Wahlkampf wird, könnte also eine kaum zu überwindende konservative Mehrheit von sechs zu drei Stimmen über eine Generation zementieren. Weil Richter am Obersten Gerichtshof auf Lebenszeit berufen werden, können vergleichweise junge derzeitige konservative Amtsträger wie der  Oberste Richter John Roberts (65 Jahre), sowie Neil Gorsuch (53 Jahre) and Bratt Kavanaugh (55 Jahre) voraussichtlich noch mehrere Jahrzehnte Recht sprechen – und mehrere der Kandidat*innen, die Präsident Trump auf seiner Liste für den Obersten Gerichtshof hat, sind ebenfalls erst in den Vierzigern und Fünfzigern, so zum Beispiel die von vielen als eine der aussichtsreichsten Bewerberinnen für den nun freigewordenen Posten angesehene ultrakonservative Richterin Amy Coney Barrett. Sie ist erst 48, eine Abtreibungsgegnerin und hat in der Vergangenheit offen davon gesprochen, das Ziel einer juristischen Karriere müsse es sein, das Königreich Gottes zu bauen. 

Die Realisierung des Traums erzkonservativer politischer Kräfte mit ihrer jahrelangen unbeirrbaren strategischen Konzentration auf die Durchsättigung des amerikanischen föderalen Rechtswesens mit aktivistischen Gesinnungsgenoss*innen rückt damit in unmittelbare Reichweite – mit einer breiten Mehrheit am Obersten Gerichtshof als Krönung. 

Das könnte weitreichende Folgen haben, bespielsweise für die Zukunft des Affordable Care Act, gemeinhin als Obamacare bekannt, wenn nur eine Woche nach der Präsidentschaftswahl der Oberste Gerichtshof zum dritten Mal über den republikanischen Versuch urteilen soll, Obamacare abzuschaffen. 2012 konnte das Gesetz noch mit 5 zu 4 der Stimmen des konservativen Obersten Richters John Roberts, der mit der liberalen Mindertheit stimmte, verteidigt werden. Das wäre bei sechs konservativen Richter*innen kaum mehr denkbar.

Neubesetzung noch vor der Wahl?

Bereits wenige Stunden nach dem Tode Ginsburgs haben sowohl Präsident Trump als auch der republikanische Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, ihre Absicht bestätigt, noch während der laufenden Amtszeit des Präsidenten den Prozess um die Nachfolge Ginsburgs anzustoßen. Den letzten Wunsch der Verstorbenen, dass ihre Stelle erst unter einem neu vereidigten US-Präsidenten nach dem Januar 2021 besetzt werden solle, ignoriert die republikanische Führung ebenso, wie die lautstarken Proteste der Demokraten vor dem Hintergrund eines ähnlichen Falls im Wahljahr 2016, als der konservative Verfassungsrichter Antonin Scalia starb. Neun Monate vor der Präsidentschaftswahl 2016 hatte die republikanische Senatsmehrheit unter Mitch McConnell dem scheidenden Präsidenten Obama selbst eine Anhörung seines Kandidaten Merrick Garland über Monate mit dem Argument verweigert, die Wähler*innen, und damit ein neuer Präsident, sollten über die Neubesetzung mitbestimmen. Diese republikanische Argumentation aus 2016 wiegt im Jahr 2020 umso schwerer: Denn am Todestag von Ruth Bader Ginsburg hat in vier Bundesstaaten, darunter im hart umkämpften Minnesota, die frühe Stimmabgabe für die Präsidentschaftswahl bereits begonnen.

Ob die Rechnung von Trump und McConnell aufgeht, ist bei Weitem noch nicht sicher. Im Durchschnitt vergingen in der Vergangenheit von der Nominierung bis zur Senatsbestätigung eines/r neuen Richterin/s für den Obersten Gerichtshof 71 Tage. McConnell kann daher zwar eine Abstimmung in der laufenden Amtsperiode Trumps versprechen, aber nicht, ob diese noch vor der Wahl oder in einer Sitzung während der sogenannten „Lame Duck“-Nachwahlzeit des ausgehenden Senats stattfinden würde. Auch kann er sich der Stimmen seiner gesamten Fraktion nicht sicher sein. Die republikanischen Senatorinnen Lisa Murkowski (Alaska) und Susan Collins (Maine), die um ihre Wiederwahl fürchten müssen und versuchen sich im Wahlkampf von Trump abzugrenzen, haben bereits erklärt, der neugewählte Präsident solle die Nominierungsentscheidung treffen. Auch die ausscheidenden Senatoren Lamar Alexander (Tennessee) und Pat Roberts (Kansas), die um den langfristigen Ruf des Senats fürchten, oder Senator Mitt Romney (Utah), der als einziger republikanischer Senator im Februar diesen Jahres für die Amtsenthebung Trumps gestimmt hatte, könnten politisches Rückgrat zeigen und McConnell die Gefolgschaft verwehren.

Aber selbst wenn es Präsident Trump nicht gelingen sollte, den Posten Ginsburgs noch in seiner laufenden Amtszeit neu zu besetzen, und er Anfang November nicht wiedergewählt würde, wird die Präsidentschaft Trumps die Richtung der Rechtsprechung und Rechtsetzung auf Bundesebene in den Vereinigten Staaten weit über seine Amtszeit hinaus bleibend prägen. Rund ein Viertel der derzeitig rund 800 Bundesrichter, die laut US-Verfassung auf Lebenszeit dienen, sind seit 2017 von Präsident Trump ins Amt berufen worden. Mit am bedeutungsschwersten ist dabei die Ernennung von mittlerweile 53, und damit rund einem Viertel aller Bundesrichter*innen an Berufungsgerichten, denn diese entscheiden in regionalen Gerichten über all jene Berufungsfälle, die nicht an den Obersten Gerichtshof gelangen. Zwei Drittel dieser von Trump neu ernannten Berufungsrichter*innen auf Lebenszeit sind weiße Männer jüngeren Alters. Die meisten haben sich in ihrer vorherigen Laufbahn offen für politische Themen engagiert, die das Herzblut konservativer Republikaner sind, wie die Opposition zur Ehe für Alle oder ein Verbot des Einsatzes öffentlicher Mittel für Abtreibung. Die bewusste Auswahl solch aktivistischer Richter*innen durch die Trump-Regierung ist ein Bruch mit der Berufungspraxis vorheriger Präsidenten beider Parteien. In Zeiten wachsender politischer Politisierung und Radikalisierung unter Trump verfestigt sie Zweifel an der konstitutionell verankerten Unabhängigkeit der amerikanischen Judikative, und damit Zweifel an den Institutionen und Grundfesten der amerikanischen Demokratie wie der Gewaltenteilung.

Abtreibung als soziales und politisches Schlüsselthema

Das Recht auf Abtreibung ohne unverhältnismäßige Einmischung des Staates bis zur Lebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Mutterleibs ist eines der umstrittensten auf Bundesebene verankerten Rechte in den USA seit der Entscheidung in Roe v. Wade 1973 und weiteren Entscheidungen im Obersten Gerichtshof. Als soziales Keilthema (wedge issue) par excellence illustriert es nicht nur den gegenwärtigen Status einer schier unüberbrückbaren gesellschaftlichen Spaltung, sondern auch die mögliche Rolle, welche die Abtreibungsfrage nach dem Tod von Ruth Bader Ginsburgs in den verbleibenden Wochen des Präsidentschaftswahlkampfes spielen könnte – mit einem noch nicht abzuschätzenden Einfluss auf den Wahlausgang.

Im laufenden Präsidentschaftswahlkampf sind die politischen Lager zur Abtreibung eindeutig positioniert. Republikanisch geführte Bundesstaaten haben im Verlauf des letzten Jahrzehnts hunderte Gesetze auf den Weg gebracht, die den Zugang zu Abtreibung begrenzen, darunter eine Reihe von neuen Maßnahmen 2019 in Staaten wie Louisiana und Texas, die zum Beispiel Abtreibung grundsätzlich verbieten, sobald der Herzschlag des Fötus ausgemacht werden kann, was bereits wenige Wochen nach der Befruchtung passiert, noch bevor die meisten Frauen wissen, dass sie schwanger sind. 58 Prozent aller amerikanischen Frauen im gebärfähigen Alter leben in Bundesstaaten mit solchen Zugangsbeschränkungen. In sechs US-Bundesstaaten gibt es nur eine einzige Abtreibungsklinik. Diese Maßnahmen treffen arme, schwarze und Latino-Frauen überproportional, die sich weite Reisen, zum Beispiel in demokratisch geführte Bundesstaaten oder ins Ausland, nicht leisten können. Besonders tragisch ist, dass dies dieselben Frauengruppen sind, die auch am stärksten von der Coronavirus-Pandemie betroffen sind. Die Pandemie nutzten insgesamt neun republikanisch geführte Bundesstaaten wie Ohio , Texas, Iowa, Alabama und Oklahoma  als Vorwand für Notfallerklärungen, um Abtreibungen während des Coronavirus-Ausbruchs vorübergehend ganz zu verbieten. Diese Gesetze und Verfügungen sind Teil der republikanischen Strategie, die darauf zielt, durch Ausreizung des Rechtswegs und mit einer durch Präsident Trump verstärkten konservativen Mehrheit am Obersten Gerichtshof eine Revidierung von Roe v. Wade zu erreichen. Dem versuchen die Demokraten, die unumkehrbare Kodifizierung des Rechts auf Abtreibung in einem neuen demokratisch dominierten US-Kongress entgegenzusetzen.

Über die letzten 20 Jahre ist die Haltung der amerikanischen Bevölkerung zur Abtreibung laut Umfragen relativ stabil geblieben. Eine Mehrheit (59 Prozent) meint, Abtreibung solle in den meisten Fällen legal bleiben und rund 70 Prozent möchten Roe v. Wade beibehalten. Gleichzeitig befürwortet eine Mehrheit auch einige Beschränkungen im Zugang zu Abtreibung, zum Beispiel Wartezeiten oder verpflichtende Ultraschalluntersuchungen. 

Ein neues zentrales Wahlkampfthema

Für die meisten Wähler*innen war bislang im Wahljahr 2020 Abtreibung angesichts der Pandemie und des resultierenden Einbruchs der US-Wirtschaft mit Massenarbeitslosigkeit, Geschäftspleiten und Zwangsräumungen sowie der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um strukturellen Rassismus zwar ein wichtiges, aber nicht das entscheidende Thema. Das könnte sich mit dem Tod von Ruth Bader Ginsburg und der Auseinandersetzung der nächsten Wochen um ihre Nachfolge im US-Verfassungsgericht aber ändern. Noch im Mai sagten 47 Prozent der Befragten in einer Gallup Umfrage, Abtreibung sei eines von vielen wichtigen Themen für ihre Wahlentscheidung. Eine Pew Research Umfrage vom August sah Abtreibung in der Liste dominierender Wahlthemen an zwölfter Stelle mit 40 Prozent der Befragten (hinter dem Klimawandel mit 42 Prozent), die angaben, dass es für sie ein wichtiges Thema für die Stimmabgabe im November ist, abgeschlagen hinter der Wirtschaft mit 79 Prozent und Gesundheitsvorsorge mit 68 Prozent.

Traditionell profitierten die Republikaner stärker von einem Fokus auf Abtreibung als Wahlkampfthema. Für 30 Prozent aller Abtreibungsgegner (pro-life), mehrheitlich evangelikale Christen, die eine Schlüsselrolle für den Zusammenhalt der Trump-Stammwählerschaft bilden, aber nur für 19 Prozent aller demokratischen Befürworter des Rechts auf Abtreibung (pro-choice) ist Abtreibung das politische Schlüsselthema schlechthin, und die alleinige Motivation für ihren Urnengang. Damit sehen weniger Demokraten als Republikaner das Thema Abtreibung als persönlichen Litmustest ihrer Wahlentscheidung und fundamentalsten Bestandteil ihrer Grundüberzeugungen.

Das zeigt sich auch im Wahlkampf 2020. Zwar haben Lobbyorganisationen auf beiden Seiten wie die Susan B. Anthony List als prominente Anti-Abtreibungsgruppe und NARAL und Planned Parenthood auf der Seite der Befürworter des Rechts auf Abtreibung zusammengenommen bereits mehr als 150 Millionen US-Dollar in die Präsidentschaftswahl investiert, Tendenz weiter steigend. Allerdings variiert ihre Kampagnenausrichtung deutlich. Abtreibungsgegner sehen die Debatte als den Galvanisierungspunkt, der einen republikanischen Sieg trotz des Einbruchs der US-Wirtschaft sichern kann, wie zum Beispiel in Staaten wie Wisconsin oder Minnesota. Dagegen definieren Befürworter des Rechts auf Abtreibung und ihre Lobbygruppen das Thema als Teil eines größeren Ganzen, als ein Puzzlestück unter vielen. Ihren Druck auf demokratische Kandidat*innen zur Verteidigung des Rechts auf Abtreibung, von der Präsidentschaftswahl bis zur kommunalen Wahl, betten sie ein in ein politisches Gesamtbild, in dem die Zugangsbeschränkungen für Abtreibung, die Coronavirus-Pandemie, die Wirtschaftsrezession und Polizeigewalt disproportional die gleichen Menschen treffen, nämlich arme Menschen und schwarze und Latino-Frauen, und dass daher pro-choice nur im Kontext einer systemischen und strukturellen Überwindung von Diskriminierung, Rassismus und Entrechtung verstanden werden kann.

Auch junge Wählerinnen und Wähler in beiden politischen Lagern, darunter viele, die in diesem Jahr erstmals zur Wahl gehen, folgen diesen Argumentationslinien. Für viele junge Republikaner*innen ist die Opposition zur Abtreibung der wichtigste Grund, ihre Partei unter Trump weiterhin zu unterstützen, von der sie sich in anderen Themenbereichen wie dem Klimawandel, der Migrationspolitik oder der Bewältigung des Rassismus nicht länger repräsentiert sehen. Dagegen ist für junge Demokrat*innen Abtreibung kein Einzelthema, sondern eingebettet in weiterreichende Fragestellungen zu reproduktiver und sozialer Gerechtigkeit und der Aushebelung des strukturellen Rassismus im amerikanischen System.

Der Umgang beider Parteien mit dem Thema Abtreibung in ihrem jeweiligen Wahlparteitagen im August reflektierte dies. Beim republikanischen Parteitag sprachen zahlreiche Redner*innen, darunter Präsident Trump und Vizepräsident Pence,  sehr deutlich über Abtreibung, insgesamt 31 mal, um ihre Basis anzufeuern. Dagegen fiel während des insgesamt nur achtstündigen virtuellen demokratischen Parteitags über vier Tage der Begriff “Abtreibung” kein einziges Mal, wenngleich Kamela Harris sich in ihrer Ansprache explizit auf reproduktive Gerechtigkeit bezog. Stattdessen versprachen unzählige demokratische Redner*innen von der Bedeutung, systemischen Rassismus zu bekämpfen und soziale Inklusion, Gesundheitsfürsorge für alle und demokratische Beteiligung zu fördern.

Wachsender Fokus der Demokraten auf den Obersten Gerichtshof

Bereits im Sommer, lange vor dem Tod von Ruth Bader Ginsburg, hatten in Meinungsumfragen 64 Prozent aller Befragten angegeben, Ernennungen für den Obersten Gerichtshof seien sehr wichtig für ihre Stimmabgabe im November. Die Lücke im Obersten Gerichtshof wird also zweifelsohne in einer ohnehin polarisierten Wählerschaft mit einer immer geringeren Zahl an Wechselwählern, in der bereits kleinste Wählerverschiebungen wahlbestimmend sein könen, die Stammwählerschaft beider Partein noch zusätzlich elektrisieren und motivieren. 

Einiges spricht dafür, dass die Aussicht auf eine Neubesetzung am Supreme Court im Gegensatz zu 2016 mehr Demokraten an die Wahlurnen treiben könnte. Laut mehreren Umfragen im Juli und August stuften mehr Biden-Unterstützer*innen als Trump-Befürworter*innen den Obersten Gerichtshof als “sehr wichtiges Thema” für ihre Wahlentscheidung ein. Viele waren getrieben von der Sorge um den seit langem fragilen Gesundheitszustand der nun verstorbenenen Verfassungsrichterin und den anhaltenden Ärger über die parteipolitische Bestätigung von Brett Kavanaugh als Verfassungsrichter vor zwei Jahren trotz des deutlichen Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs gegen ihn.

Der Tod von Ruth Bader Ginsburg hat demokratische Wähler*innen nun ins Mark getroffen, aufgerüttelt und neu aktiviert. Ein neuer Wahlkampfspendenrekord von über 70 Million US-Dollar für demokratische Kampagnen an nur einem Tag nach dem Bekanntwerden von Ginsburgs Tod könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Prozentsatz demokratische Wähler*innen, für welche die zukünftige Besetzung des Obersten Gerichtshofs eines der wichtigsten Themen in den verbleibenden Wahlkampfwochen darstellt, sprungartig angestiegen sein könnte. 

Demokratischen Wählerinnen und Wählern geht es dabei zwar auch um die Zukunft von Roe v. Wade, aber eben nicht nur. Für sie steht die Zukunft der amerikanischen Demokratie schlechthin auf dem Spiel, angesichts der Rolle, die der Oberste Gerichtshof nicht nur potentiell in der unmittelbaren Zeit nach der Wahl, sondern auch in den nächsten Jahren im Kampf um den Erhalt von Obamacare, den Schutz der Rechte von Freund*innen, Bekannten und Familienmitgliedern aus der LGBTI-Gemeinde, der Bekämpfung des strukturellen Rassismus und der Reform der Polizei und des Strafgerichtswesens, dem Stopp von Wähler*innenunterdrückung und Wahlentrechtung, der Zukunft des US-Migrations- und Asylrechts, und des amerikanischen Beitrags zum globalen Klimaschutz spielen wird. Dabei geht es ihnen nicht nur um das Puzzle-Stück Abtreibung, sondern ums Gesamtbild, nämlich welche Art von Gesellschaft die amerikanische ab dem Jahr 2021 sein will.