„Semra Ertan. Mein Name ist Ausländer“

Rezension

Semra Ertan war Dichterin, Arbeiterin und politische Aktivistin, die aus Protest gegen die rassistischen Zustände in der BRD 1982 Suizid beging. Ihr kürzlich erschienener Gedichtband ist „Zeugnis eines Kampfes, der weiter andauert und Verbündete sucht“, findet Autor und Politikwissenschaftler Ozan Zakariya Keskinkılıç.

Teaser Bild Untertitel
Semra Ertan. (c) Familien Archiv Bilir-Meier

Stolze 240 Seiten schwer ist der Gedichtband „Semra Ertan. Mein Name ist Ausländer“, der am 15. Dezember 2020  im Verlag edition assemblage erschienen ist und mit dem die Herausgeberinnen Zühal Bilir-Meier und Cana Bilir-Meier an den dicken Türen des deutschsprachigen Literaturbetriebs rütteln. Im Gepäck liegen 82 Gedichte auf Deutsch und Türkisch von Semra Ertan (1956-1982), aber auch Briefe und Fotografien, die für vierzig Jahre im Familienarchiv ruhten. Es ist nur ein Bruchteil dessen, was die 1957 in Mersin/Türkei geborene und 1971 den Eltern nach Kiel gefolgte Dichterin, Arbeiterin und politische Aktivistin in ihrem kurzen Leben produzierte. Ganze 350 Gedichte gehen auf ihre Feder zurück. Hoffnung, Schmerz und Visionen der Arbeiter:innen, der Migrant:innen und Migrantisierten liegen auf ihren Buchstaben. Sie stehen unter dem Zeichen antirassistischer Kämpfe um Anerkennung und Gleichberechtigung, und der sozialen Frage unmissverständlich verpflichtet.

Im Gedicht, das dem Band den Titel gab, schrieb Ertan:

„Mein Name ist Ausländer,

Ich arbeite hier,

Ich weiß, wie ich arbeite,

Ob die Deutschen es auch wissen?“

Scharfsinnig blickt die Dichterin auf den politischen Diskurs zurück, der die Ausländer:innen zur anonymen Masse erfindet, sie herabwürdigt und unsichtbar macht, sodass ihre Gesichter und Geschichten überschattet werden. Das lyrische Ich nimmt das Stigma zum eigenen Namen, wird so Herr:in über das Wort – das trennen und zum Schweigen bringen soll – und (wider)spricht.

Im Gedicht heißt es weiter:

„Mein Land hat uns nach Deutschland verkauft

Wie Stiefkinder,

Wie unbrauchbare Menschen.“

Hier wird an politische Verantwortung erinnert und Mitsprache eingefordert, gleichzeitig Ausdruck für ein Leben in Trennung und Verlust gefunden. Denn weit entfernt liegt Mersin, die Geburtsstadt der Dichterin. In „Meine Heimat“ umgibt sie der Duft von Orangen und Zitronen, sie wird den Wechsel der Jahreszeiten begleitend als „Sehnsucht meiner Sehnsüchte“ wehmütig umschwärmt. Dagegen wird in „Gleiche Sorgen“ der Alltag hier beklagt, er ist ermüdend, die Arbeit schwer und der Lohn zu niedrig, dass man „davon weder leben noch sterben“ kann.

Das ist eine Lyrik, die radikal aufwecken will, und zur gleichen Zeit reich an zärtlicher Sprache ist, zum Beispiel in „Ratschlag“:

„Lasst nicht zu, dass sie euch die Traumbilder von den Wimpern,

Den Namen von der Seele,

Die Stimme aus den Ohren stehlen.“

Und eine Lyrik, die an Solidarität appelliert unter Geknechteten in kapitalistischen Verhältnissen und einem um sich greifenden Wettkampf der Individuen. Einige Gedichte lesen sich wie ein lyrisches Manifest, das dem eigennützigen Streben nach Aufstieg absagt und sich stattdessen nach Gemeinschaft sehnt, sie geradezu verlangt. Hier spricht ein lyrisches Ich, das im Ruf nach besseren Lebensbedingungen Kompliz:innen sucht und rebelliert:

„Lasst uns vereinen, gemeinsam sein,

Wir erheben

Unsere Herzen.

Wie die tosenden Wellen, die auf die Küste treffen, Widerstehen wir

Denen, die uns nicht wollen“

(Ohne Titel)

Semra Ertan gehört zu Dichter:innen, die hierzulande – das ist vorhersehbar – auf das Migrantische hin gelesen und rezipiert werden wird. Und ja, Ertan schrieb über das Migrant:innen-Dasein, über das Ankommenwollen und Zurückblicken. Aber auf so etwas wie „Migrant:innenlyrik“ kann auch Ertan nicht reduziert werden. Aus ihren Versen spricht ebenso ein lyrisches Ich, das liebt, trauert und träumt über Freundschaft und Romantik. Und das immer wieder berauschende Schönheiten der Natur aus den Erinnerungen hervorzaubert: Tosende Meere, Möwen und Wolken, Palmen und vergessene Berge, die nach Sehnsucht duften. Ein lyrisches Ich, das nach dem Platz in dieser Welt fragt, an Hoffnung und Visionen wie an einem Anker festhält, enttäuscht wird, sich vergräbt: „In meinen nichtendenden Gedanken,/ In meinen dunklen, zornigen, nackten Gedanken“ (in „Zerrissen!…“) – und leben will: „Wie es sich mein Herz erträumt“ (Ohne Titel).

Dieser Band ergreift und wühlt auf. Es ist eine Lektüre, die trifft und mitreißt. Denn mit jedem Gedicht, versehen mit einem Entstehungsdatum und chronologisch sortiert, nähern sich Leser:innen dem Freitod der Dichterin. Am 24. Mai 1982 verbrannte sich Semra Ertan öffentlich an der Simon-von-Utrecht-Straße in Hamburg aus Verzweiflung, aber auch aus Protest. Kurz vorher meldete sie sich an die Presse mit den Worten: „Ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden. Das ist alles. Ich will, dass die Menschen sich lieben und akzeptieren. Und ich will, dass sie über meinen Tod nachdenken.“ Ertans Gedichtsammlung ist Zeugnis eines Kampfes, der weiter andauert und Verbündete sucht.