#FreeSenegal: „Die Stimmen der Frauen werden immer lauter“

Interview

Wir sprachen mit der senegalesischen Aktivistin Jaly Badiane über die zunehmende Sichtbarkeit der Frauen in den aktuellen Protesten und die Forderungen nach einer unparteiischen Justiz.

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"Ruhe, hier wird getötet"

Das Interview führte Selly Ba, Programmkoordinatorin im Senegalbüro der Heinrich-Böll-Stiftung.

Die jüngsten Demonstrationen in Senegal zeugten von einem enormen und vielschichtigen Engagement der Bevölkerung, vor allem der Frauen - und das sowohl im Netz wie auf der Straße. Wie haben Sie die Proteste der Frauen erlebt?

Jaly Badiane: Frauen haben sich schon immer an demokratischen Bewegungen und Forderungen beteiligt[1]. Aber sie sind erst jetzt in den vorderen  Reihen und den Entscheidungsinstanzen angelangt. Dazu muss gesagt werden, dass im Senegal in den letzten Jahren enorm viel für die Präsenz von Frauen in den Medien – vor allem in den sozialen Medien – getan wurde, z.B. durch Fortbildung. Dies hatte konkrete Auswirkung auf die Präsenz von Frauen in den Protestbewegungen. Die Stimmen der Frauen werden immer lauter, und sie verschaffen sich zunehmend Gehör. Über Foren in den sozialen Netzwerken entstehen starke Gemeinschaften, die tausenden Frauen Dialogräume bieten, was sie wiederum in ihren Führungspositionen stärkt.

Für die aktuelle Protestwelle wurde der Twitter-Hashtag #FreeSenegal erstellt, der dann die anderen sozialen Netzwerke erobert hat. Die ersten Mitglieder des Gründungsausschusses von #FreeSenegal waren Frauen wie die erfolgreiche Jungunternehmerin und Influencerin Dior Gueye, die Internetaktivistin und Bloggerin Bousso Kane und die Aktivistin und Frauenrechtlerin Rokhaya Ngom. Wir dienten zunächst als Schnittstelle, entwickelten aber schnell einen Plan für die gesamte Kommunikation und Mobilisierung.

Für den 8. März diesen Jahres haben wir mit einer Vielzahl Aktivist/innen ein friedliches Sit-In organisiert, um eine unparteiische Justiz einzufordern, ohne die uns ein Leben in Frieden nicht möglich sein wird. Dieses „Klima des Friedens“ ist unabdingbar für unsere Forderungen als Feministinnen Wir konnten deswegen  den 8. März (Anm. d. R.: Internationaler Frauentag) keinesfalls so gestalten wie jedes Jahr und dabei die Ereignisse, die sich gerade in unserem Land abspielen, ignorieren.

Dem Oppositionsführer Ousmane Sonko wird Vergewaltigung vorgeworfen. Denken Sie, dass diese Angelegenheit künftig einen Schatten auf den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen in Senegal werfen könnte?2

Der Vorwurf der Vergewaltigung ist schwerwiegend, und die Stimmen der Opfer oder vermeintlichen Opfer sind wichtig; vor allem lassen sie sich keinesfalls einfach ignorieren. Besagte Anschuldigungen ist ein Schlag ins Gesicht der bisherigen Errungenschaften im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Aber die Gesellschaft muss auch die Wahrheit erfahren, damit der Vorwurf der Vergewaltigung nicht als politische Waffe benutzt wird. Die öffentliche Meinung im Land ist sehr gespalten, genau wie die Organisationen der Zivilgesellschaft, die zu Genderfragen arbeiten. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass es bei diesen Anschuldigungen um ein ernstes Thema geht, das unbedingt Aufmerksamkeit verdient hat und aufgeklärt werden muss. Für mich persönlich ist die Aussage eines mutmaßlichen Opfers so lange glaubwürdig, bis das Gegenteil bewiesen ist.

Die Frauenorganisationen haben sich in ganz unterschiedlicher Weise dazu positioniert: das Kollektiv zur Förderung von Frauen und Mädchen, dem ich angehöre, fordert in seinem Kommuniqué für das mutmaßliche Opfer eine Untersuchung und ein gerechtes Gerichtsverfahren, verurteilt aber auch die voreingenommene Berichterstattung der Presse. Andererseits haben verschiedene Organisationen der Zivilgesellschaft3 meiner Meinung nach nicht nachvollziehbare und regelrecht schockierende Positionen eingenommen. Sie haben Erklärungen unterzeichnet, die zur Rücknahme aller Vorwürfe gegenüber Herrn Sonko aufrufen. Für Organisationen, die die vermeintlichen Vergewaltigungsopfer anzuhören haben, klingt das völlig absurd.

"Als Frau und Bürgerin unterstützen wir das Recht, alle Formen von Freiheit, welche Bestandteile der Demokratie sind, zu genießen."

Wie geht es Ihrer Ansicht nach weiter, zum einen mit dem gesellschaftlichen Engagement der Jugend im Allgemeinen, aber auch mit der Führungsrolle der Frauen? Was genau sind die Forderungen der Frauen in dieser Situation?

Für mich geht es nun darum, das Projekt Sénégal Vote (Senegal wählt)4 weiterzuführen. Natürlich ist letzteres sicherlich nicht ausreichend, doch es lässt sich erfreulicherweise feststellen, dass seit diesen Ereignissen in den sozialen Netzwerken ein starkes Interesse an den Wahlen aufkommt. Die Forderungen der Demonstrierenden nach Demokratie und guter Regierungsführung brauchen unbedingt verlässliche demokratische Fristen und Wahltermine. Es ist wichtig, eine aktive Beteiligung der Bürger/innen zu fördern. Unser Wahlkalender ist komplett auf den Kopf gestellt und wieder zur Normalität zurückzukehren wird schwierig. Doch die Ereignisse haben die Bereitschaft der Jugend, sich als Wähler/innen zu registrieren5 positiv beeinflusst.

Was das Engagement der Bürger/innen angeht, gab es direkt nach den Protesten Aufrufe zur Blutspende junger Menschen, wodurch die Blutbank der Krankenhäuser aufgefüllt wurden. Weitere Initiativen laufen auf Hochtouren: Aufräumarbeiten in den wichtigsten Straßen der Stadt, die Ausbesserung beschädigter Gebäude, die Unterstützung der Verletzten und Gefangenen und der Familien der Opfer. All das trägt zu einem Staat bei, der von den Bürger/innen genau beobachtet wird und ihnen zuhört.

Zu den Hauptforderungen der aktuellen Proteste zählen die Meinungsfreiheit und soziale Gerechtigkeit. Die Frauen fordern aber vor allem eine unparteiische Justiz, aber auch soziale Gerechtigkeit. Justiz deshalb, weil viele Frauen im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt bis heute keine gerechten Prozesse erhalten. Diese dauern lange, die entsprechenden Ermittlungen werden oftmals voreingenommen geführt und sind von zunehmender Verarmung und Verletzlichkeit der Frauen geprägt.

 


Jaly Badiane ist eine senegalesische Journalistin, Aktivistin und Bloggerin. Über ihren Blog www.jalybadiane.net bietet sie ein Kommunikationsforum für Gesellschaft und Bürger/innen jeglicher Couleur. Seit 2018 ist sie Gründungsmitglied des Projekts Sénégal Vote (Senegal wählt) und hat sich aktiv an den jüngsten Demonstrationen im Senegal beteiligt.

Als Spezialistin für Gender und Kinderschutz arbeitet Jaly als Beraterin und Ausbilderin in digitalen Programmen für die Förderung von Frauenrechten und Kinderschutz. Jaly studiert Soziologie und bildet junge Menschen in der positiven Nutzung der sozialen Netzwerke weiter und aus.

 

[1] Siehe dazu den Dokumentarfilm « Les mamans de l’indépendance :  une histoire de femmes, d’engagement et de patriotisme » (Die Mütter der Unabhängigkeit. Eine Geschichte von Frauen, Engagement und Patriotismus) von Diabou Bessane.

[2] Vergewaltigung und Kindesmissbrauch wird in Senegal erst seit dem 31. Dezember 2019 strafrechtlich verfolgt und kann mit bis zu lebenslangen Haftstrafen bestraft werden.

[3] Insbesondere die Frauenorganisation Siggil Jigeen, der Verein Senegalesischer Anwältinnen AJS und der „Rat Senegalesischers Frauen“ Cosef

[4] Ziel dieses Projekts ist es, Ressourcen und Potential der sozialen Netzwerke zugunsten einer massiven und qualitativen Beteiligung der Bürgerinnen am Wahlprozess zu mobilisieren.

[5] In Senegal müssen sich die Bürger/innen vor einer Wahl ins Wählerregister aufnehmen lassen, um Wahlscheine zu erhalten.

Dieses Interview wurde zuerst auf der Seite der Heinrich-Böll-Stiftung veröffentlicht.