Am Nachmittag des 16. März 2021 verübte ein 21-jähriger weißer Mann in Atlanta, Georgia, ein Attentat in drei Massagesalons. Er brachte insgesamt acht Menschen um, darunter sechs asiatisch-diasporische Frauen. Warum diese sexistisch und rassistisch motivierte Tat auch hierzulande eine Rolle spielt, analysiert Thị Minh Huyền Nguyễn, freie Autorin, Medienwissenschaftlerin und Mitbegründerin von ichbinkeinvirus.org.
Weltweit häufen sich rassistisch motivierte Angriffe auf asiatisch-diasporische und asiatisch gelesene Menschen. Allein im Jahr 2020 verzeichnete die U.S. Beschwerdestelle Stop-AAPI-Hate ca. 3800 verbale und physische Attacken gegenüber asiatisch-diasporischen Menschen. Dabei meldeten Frauen im Schnitt 2,3 Mal mehr rassistische Attacken als Männer, wie aus einem Bericht hervorgeht.
Im Zuge der Corona-Pandemie wurden weltweit rassistische Narrative gegenüber asiatisch-diasporischen Menschen befördert, indem beispielsweise in zahlreichen Berichterstattungen Menschen mit Asienbezug als Titelbilder für Schlagzeilen instrumentalisiert wurden. Die gefährlichen Aussagen des ehemaligen US-Präsidenten über das sogenannte „China-Virus“ und die Reproduktionen in den führenden Medien, bekräftigten nur die dehumanisierende Andersmachung.
Noch bevor die Bundesregierung im März 2020 den ersten bundesweiten Lockdown verhängte, mussten hierzulande bereits einige asiatische Restaurants und Geschäfte schließen. Durch die klischee-beladenen und zum Teil unsachlichen medialen Darstellungen in Verbindung mit dem Virus, wurden asiatische Restaurants nicht nur zunehmend gemieden – neben eingeritzten oder angesprühten Hakenkreuzen an Wänden asiatischer Geschäfte, häuften sich verbale und körperliche Attacken auf asiatisch gelesene Menschen.
Was ist anti-asiatischer Rassismus?
Anti-Asiatischer Rassismus ist die systematische Diskriminierung von asiatisch-diasporischen, asiatisch-deutschen, asiatisch gelesenen Menschen. Von den westlich geprägten Industrieländern gab es bisher vor allem zwei stark geprägte Narrative: eines, bei der Menschen mit Asienbezug vorsätzlich als sogenannte „Gelbe Gefahr“ bezeichnet wurden (Yellow Peril) und eines, welches Menschen mit Asienbezug dem Bild des sogenannten Model Minority Myth entsprachen. Für die weiße Mehrheitsgesellschaft sind asiatisch-diasporische Menschen – je nach Bedarf – also entweder diejenigen, die die Pest mitbringen und als “gelbe Gefahr” zu verstehen sind oder Musterschüler*innen und Vorzeigemigrant*innen.
Beide Narrative ermöglichen es, marginalisierte Gruppen gegeneinander auszuspielen und zu spalten. Anti-Asiatischer Rassismus existiert nicht erst seit der Covid-Pandemie. In einem Beitrag der Bundeszentrale für politische Bildung stellen beispielsweise die Wissenschaftler*innen Kimiko Suda, Sabrina J. Mayer und Christoph Nguyen die Geschichte und das langzeitige Bestehen von Anti-Asiatischem Rassismus in Deutschland dar, welches bis in die Kolonialzeit reicht.
Fetischisierung von asiatischen Frauen(-körpern) – Die Intersektion von Sexismus und Rassismus
Intersektionalität ist ein Begriff, der seit den 1980ern von der US-amerikanischen Juristin und Professorin Kimberlé Crenshaw geprägt wurde. Dieser Begriff beschreibt die Überschneidung/Überkreuzung von Diskriminierungen, die marginalisierte Menschen wie beispielsweise Schwarze Frauen und Frauen of Color gleichzeitig und zu jeder Zeit erfahren und ausgesetzt sind. In ihrer Arbeit fokussierte sich Crenshaw nicht nur auf Schwarze Frauen, sondern setzte sich auch für die Bedürfnisse und spezifischen Erfahrungen von asiatisch-amerikanischen Frauen ein.
Juristin und Professorin Mari Matsuda beschreibt, wie asiatisch-amerikanische Menschen zentral zu der Entstehung der Critical Race Theory beigetragen haben – einer akademischen Bewegung aus Bürgerrechtler*innen und Aktivist*innen, die sich kritisch mit dem Gesetz, vor allem in Bezug zu Themen von racial justice, auseinandersetzen.
Wieso ist der Begriff Intersektionalität wichtig?
Wenn wir den Anstieg rassistischer Attacken gegenüber asiatisch-diasporischen Frauen und die Ereignisse in Atlanta verstehen wollen, müssen wir diese intersektional betrachten. Hier agieren nämlich mehrere Überkreuzungen von Diskriminierungsformen. Asiatische Frauen werden seit Jahrhunderten exotisiert, fetischisiert und infantilisiert, oftmals auch als hypersexualisiert dargestellt.
In der Kolumne The Female Gaze, illustriert die Journalistin Nhi Le, wie jahrhundertealte rassistisch-sexistische Narrative sich auch durch die Medien wie Comics, Filme und Bücher ziehen, wie diese oftmals durch den Blick des weißen Mannes reproduziert werden, und wie Stereotypisierungen einer mysteriösen “Dragonlady” oder einer unterwürfigen “zarten Lotusblume” nur dazu dienen, die Gelüste nach “etwas Exotischem” zu erfüllen. Solche und mehr Narrative sind tief in unseren patriarchalen Strukturen verankert.
Hierbei ist es wichtig anzuerkennen, dass wir in einem System leben, welches die Täter*innenperspektive höher gewichtet als die Betroffenenperspektive: “Die Frage, wer Täter wird und wer nicht, ist müßig. Die Frage muss lauten: Unter welchen Bedingungen kann jede Person ganz leicht zum/zur Täter*in werden?,” so die Autorin Sara Hassan, die, zusammen mit Juliette Sanchez-Lambert, in ihrem erst kürzlich veröffentlichten Buch „Grauzonen gibt es nicht: Muster sexueller Belästigung mit dem Red Flag System erkennen“ Aufschluss über das Erkennen und Handeln sexueller Belästigungen gibt. Auch bei dem Fall Atlanta wollte der Täter seine Sexsucht stillen, indem er den sechs Frauen das Leben nahm. Das Leben der sechs asiatischen Frauen war weniger Wert als seines.
Kapitalismus und Klassismus spielen auch eine Rolle
Die in Atlanta ermordeten Frauen waren auch Migrant*innen und Arbeiter*innen. Frauen, die sich um ihre Familien und Kinder gekümmert haben und die Welt bereisen wollten. Frauen, die tagtäglich hart arbeiteten, um ihren eigenen Familien ein lebenswertes Leben zu ermöglichen. Es ist wichtig, in diesem Kontext Klassismus als eine weitere Diskriminierungsform anzuerkennen, weil asiatisch-diasporische Menschen in westlichen Ländern in der Regel als arbeitstüchtige, fleißige und stumme Arbeiter*innen gerahmt werden. Wie die US-Geschichte der transatlantischen Eisenbahn in den 1800er Jahren zeigt, waren es mehr als 12.000 chinesische Migrant*innen, die ein Großteil der Infrastruktur gebaut haben, bei dem berühmten Eröffnungsfoto jedoch ausradiert wurden.
Eine ähnliche Kontinuität gibt es auch in Deutschland. Vietnamesische Vertrags- oder Gast-arbeiter*innen, die in die DDR kamen, um in Fabriken zu arbeiten und Deutschland oder auch das heutige Europa mit aufzubauen, mussten nach der Wiedervereinigung um ihren unbefristeten Aufenthaltstitel bangen. Immer und immer wieder, werden asiatisch-diasporische Menschen als austauschbare Arbeitskräfte wirtschaftlich und kulturell ausgebeutet.
Atlanta ist überall
Die rassistisch-sexistischen Ereignisse in Atlanta spielen auch hierzulande eine Rolle, weil es auch hier eine stetige Kontinuität von tödlichen Attacken und Ermordungen von asiatisch-diasporischen Menschen gibt. Die Morde an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân in der Halskestrasse in Hamburg-Billbrook (1980) wurden erstmals als rassistische Morde in der Bundesrepublik Deutschland verzeichnet.
Nicht nur diese Morde, sondern auch die Pogrome in Hoyerswerda (1991) sowie Rostock-Lichtenhagen (1992) gehen als Folge des anti-asiatischen Rassismus in die Geschichte ein. Jüngst reiht sich die Vergewaltigung und Ermordung der chinesischen Studierenden Yangjie Li in Dessau 2016 in das Gedächtnis anti-asiatischer Angriffe in Deutschland ein. Rechtes Gedankengut wird nicht nur unter rechtsextremen Kreisen geteilt, sondern auch aus der Mitte unserer Gesellschaft genährt.
Wie ichbinkeinVirus.org entstand
Im Zuge des verstärkten anti-asiatischen Rassismus ist das Projekt ichbinkeinvirus.org im Mai 2020 entstanden. Mit dem Projekt wird eine Plattform geboten, auf der Menschen mit Asienbezug ihre rassistischen Erfahrungen dokumentieren und archivieren können. Nach zwei Ablehnungen des Hackathon-Wettbewerbs der Bundesregierung, fand sich das fünfköpfige Team dennoch zusammen, um dieses wichtige Projekt ins Leben zu rufen. Ziel dieses Projekts ist es, Räume zur Vernetzung zwischen Betroffenen sowie relevanten Akteur*innen und Aktivist*innen zu schaffen, um mehr Sichtbarkeit für anti-asiatischen Rassismus zu erlangen.
Es geht dabei weniger darum, Opfer-Narrative zur Schau zu stellen, sondern die (un)sichtbaren Stimmen aus der vielfältigen asiatisch-diasporischen Community zu empowern. Gerade in dieser isolierten Zeit der Pandemie ist es umso notwendiger, sich auszutauschen und sich mit anderen Betroffenen sowie Akteur*innen zu vernetzen. Denn der erste Schritt zu Selbst-Empowerment ist es, die eigenen Ängste, Sorgen und Bedürfnisse anzuerkennen, diese zu erzählen und die Wahrheiten in unseren diskriminierenden Erfahrungen auszusprechen.
Weitere wichtige Initiativen und Organisationen in Deutschland
Neben ichbinkeinVirus.org gibt es noch weitere Initiativen und Organisationen mit Schwerpunkt asiatisch-diasporischer Perspektiven, welche im Folgenden aufgelistet werden:
Korientation
korientation ist ein Netzwerk für Asiatisch-Deutsche Perspektiven mit einem gesellschaftskritischen Blick auf Kultur, Medien und Politik. Ziel des Vereins ist es, vielfältige Lebenswirklichkeiten in Deutschland bewusst und sichtbar zu machen und damit Rassismus entgegenzuwirken. Das Projekt Medienkritik-Sammlung dokumentiert vor allem Berichte aus Mainstream-Medien zur Corona-Pandemie, “die durch diskriminierendes und kulturalisierendes Framing und/oder mehrdeutige, stereotypisierende, klischeebeladene und unsachliche Text-Bild-Verknüpfungen anti-asiatischem Rassismus Vorschub leisten.”
Korea-Verband
Der Korea-Verband versteht sich als offene, politisch unabhängige und im deutschen Sprachraum ansässige Informations- und Kooperationsplattform für alle, die an der Geschichte und Kultur Koreas sowie den aktuellen Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel interessiert sind und sich in diesem Bereich engagieren bzw. informieren möchten. Er ist Gründungsmitglied der Stiftung Asienhaus.
Berlin Asian Film Network
Das Berlin Asian Film Network versteht sich als diskriminierungskritische Initiative, die sich seit 2012 für differenzierte Repräsentationen asiatisch deutscher Lebensrealitäten in Film und Fernsehen engagiert. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit besteht in der Unterstützung junger unabhängiger Filmemacher*innen anhand der Vernetzungsarbeit mit anderen nichtweißen Filmschaffenden sowie dem Screening derer Filme in einem gezielt (asiatisch) diasporisch kuratierten Rahmen. Das BAFNET ist Teil der Inititiativgruppe Vielfalt im Film, die erste umfassende Online-Umfrage unter Filmschaffenden zu den Themen Vielfalt und Diskriminierung vor und hinter der Kamera. Die Studie mit den Ergebnissen wurde im März 2021 veröffentlicht.
DAMN*-Deutsche Asiat*innen make noise
DAMN* (Deutsche Asiat*innen make noise) ist eine politische Plattform und ein offenes Aktivist*innenkollektiv, das Mitglieder der asiatischen Diaspora in Deutschland verbindet, politisiert und mobilisiert gegen Faschismus, Sexismus, Rassismus und andere sich überschneidende Formen der Diskriminierung durch politische Bildung, Empowerment und Communityarbeit.
Tiger.Riots
Tiger.Riots ist ein politisches Kunstkollektiv aus Hamburg, welches sich mit anti-asiatischem Rassismus beschäftigt und versucht, diesen zu bekämpfen. Nach dem Motto von uns, für uns – eröffnen Tiger.Riots einen Raum für die Auseinandersetzung mit verschränkten Themen wie Migration, Sexismus und Fetischisierung. Ziel ist es Kunst, ob Spoken Word, Illustration, Design oder Musik, dafür zu nutzen, um gesellschaftliche Ungleichheiten aufzuzeigen und eine Brücke zwischen den einzelnen Communities der ost- und südost-asiatischen Diaspora zu schlagen.
#TigerRiots – ent*Grenzen was begrenzt ist.
Ban Ying e.v.
Ban Ying e.V. ist eine Koordinations- und Fachberatungsstelle gegen Menschenhandel. Als eines der ältesten Berliner Frauenprojekte in diesem Bereich setzt sich Ban Ying für die Rechte von Migrantinnen, die Erfahrungen von Gewalt, Ausbeutung oder Menschenhandel gemacht haben, ein.
Diaspor.asia
Diaspor.asia ist ein unabhängiger Podcast, in dem aus einer asiatischen Perspektive über Diaspora in Deutschland gesprochen wird. Der Fokus liegt auf Empowerment, dem Sichtbarmachen asiatischer Identitäten und den dazugehörigen Geschichten.
Dieser Artikel erschien zuerst auf der Seite Heimatkunde - dem migrationspolitischen Portal der Heinrich-Böll-Stiftung