Was haben die Morde in Hanau mit der regulierten Schwangerschaftspolitik von Gast- und Vertragsarbeiter*innen zu tun? So ziemlich alles.
Das Recht einer Gast- oder Vertragsarbeiter*in ein Kind zur Welt zu bringen war ein Kampf um Reproduktive Gerechtigkeit, vergleichbar der Forderung nach Aufarbeitung und Gerechtigkeit für die Ermordeten von Hanau durch die Bildungsinitiative Ferhat Unvar. Auch die Forderungen nach offenen Grenzen und Evakuierung von „Moria 2.0“ sind in gewisser Weise Kämpfe für Reproduktive Gerechtigkeit. Jeweils geht es um die Frage: Wessen Kinder zählen und wer soll überhaupt Kinder bekommen? Der Kampf um Reproduktive Gerechtigkeit ist ein Intersektionaler.
Vor 60 Jahren schloss das heutige Deutschland das erste Anwerbeabkommen ab, woraufhin insgesamt fast 14 Millionen sogenannte „Gastarbeiter*innen“ (BRD) aus Ländern wie Italien, der Türkei oder dem ehemaligen Jugoslawien und fast 200.000 sogenannte Vertragsarbeiter*innen (DDR) aus Vietnam oder Moçambique nach Deutschland migrierten. Versprochen wurde ihnen Wohlstand, doch es folgten finanzielle Ausbeutung, gesellschaftliche Marginalisierung und Zwangsabtreibungen.
Auch meine Großeltern kamen als Gastarbeiter*innen nach Deutschland. Was ich darüber weiß ist, dass sie in der Fabrik lange Stunden geschuftet haben und letztendlich hierblieben. Was ich auch weiß ist, dass das Leben von Gast- und Vertragsarbeiter*innen sich zwischen der Arbeit und vernachlässigten, isolierten Unterbringungen abspielte. In unzureichenden Sprachkursen lernten sie nur Begriffe, die sie in der Fabrik verwenden konnte und anstatt anzuerkennen, dass ihre Integration nie gewollt war, warf man ihnen Integrationsunwilligkeit vor. Diesen Vorwurf hören sie bis heute.
Schwanger sein hieß nicht mehr produktiv zu sein
Was ich jedoch lange nicht wusste ist, dass auch das Kinderkriegen von Vertrags- und Gastarbeiter*innen zu einem Politikum wurde, obwohl mir durch die Auseinandersetzung mit Feminismus bewusst ist, dass seit Jahrhunderten die Körper von Gebärfähigen kontrolliert und fremdbestimmt werden.
Die Pädagogin und Beraterin Mai-Phuong Kollath, die zu einer der ersten 20 Vertragsarbeiterinnen zählte, die nach Rostock kamen, berichtet auf der Konferenz „Als ich nach Deutschland kam…“ des „International Women’s Space” im Gespräch mit Figen Izgin davon, wie sie bereits bei der Ankunft in Deutschland untersucht wurden, um zu gewährleisten, dass sie nicht schwanger, ohne Krankheit und mit einer vorgeschriebenen Körpergröße einreisten. Diese ableistischen Regulierungen endeten damit nicht: Präventiv wurde ihnen die Anti-Baby-Pille verschrieben, wobei ihnen ohne Deutschkenntnisse das notwendige Verständnis über die Wirkung, eventueller Nebenwirkungen und Gefahren verwehrt blieben.
Im Falle einer Schwangerschaft wurden Schwangere vor zwei Möglichkeiten gestellt: Einer Abtreibung oder einer Abschiebung bzw. „sofortige Rückkehr“ ins Herkunftsland. Ob die Entscheidung zu einer Abtreibung eine „selbstbestimmte“ war, ist aufgrund des Einflusses von verschiedenen Faktoren sehr unwahrscheinlich. Neben der Abschiebung als Gefahr, dürften auch Risiken wie soziale Stigmatisierung im Herkunftsland, Rückführungskosten und zum Teil sogar hohe Geldstrafen eine Rolle gespielt haben.
Laut Mai-Phuong Kollath führten die repressiven Schwangerschaftsbestimmungen dazu, dass in ihrem Umfeld jede Vertragsarbeiter*in vier bis fünf Abtreibungen durchführte. Gleichzeitig lag die Zahl der sogenannten „vorzeitige(n) Aufenthaltsbeendigung“ bis 1990 bei jährlich 300 Vietnames*innen.
Die cis-Heteronormativität des ganzen Mal außer Acht gelassen, spiegelt sich hier völkisches Denken wider, dass das Recht auf Schwangerschaft einer Gruppe absprach. Völkisches Denken, das entmenschlicht und das den heutigen Diskurs um den vermeintlichen großen „Bevölkerungsaustausch“, von dem zum Beispiel Victor Orban spricht, zu einer historischen Kontinuität macht.
Die Strukturen wurden nicht dafür gemacht, dass Menschen bleiben oder sich eine Zukunft aufbauen - das zeigt nicht zuletzt der Blick im Umgang mit schwangeren Vertrags- und Gastarbeiter*innen. Denn diese Bevölkerungspolitik kann auch heute noch in abgewandelter Form beobachtet werden: Wenn ein Kind aufgrund von selektiver Grenzpolitik nicht einreisen oder bleiben darf, ein Kind aus Hanau durch Rassist*innen ermordet wird oder eine Schwangerschaft mit Abschiebung bestraft wird, zeigt sich die entmenschlichende Kontinuität des selektiven (Des)interesses der Dominanzkultur. Ich frage mich: Wessen Kinder sind egal?
Dreifache Unterwerfung: als Schwangere, als Migrant*innen und als Arbeiter*innen
Nicht zuletzt am Beispiel der Schwangerschaftsregulierung (u.a. auch durch Einreisebestimmungen oder Abtreibungszwang) von Gast- und Vertragsarbeiter*innen wird klar, wie problematisch das Prinzip der sogenannten „Gast-“ oder „Vertragsarbeit“ ist. Migrant*innen nur solange im Land behalten, wie von ihnen profitiert werden kann oder sie nicht Fuß fassen wollen, zeugt von rassistischen Strukturen, welche die Bedürfnisse von migrantischen Arbeiter*innen nicht ins Zentrum rücken, sondern lediglich die Vermehrung des Kapitals und ökonomischer Dominanz zentrieren. Aus feministischer Perspektive zeigt uns dieses Beispiel auch, wie die Regulierung von Migrant*innen funktioniert und sogar institutionalisiert wird.
Es wird klar: Der intersektionale Kampf Reproduktiver Gerechtigkeit schließt nicht nur das Recht auf Abtreibung(en) und sexuelle Selbstbestimmung mit ein. Aktivist*innen wie Loretta Ross betonen zudem das Recht auf Kinder und Elternschaft, und das Recht, diese unter sicheren und gesunden Bedingungen aufziehen zu können, sprich Forderungen gegen Abschiebung von Migrant*innen, gegen die rassistische Ermordung von BIPoC, gegen die Ausbeutung von Arbeiter*innen und für das Recht Queerer Elternschaft.
Solange die Pro-Choice Bewegung ins alleinige Zentrum Reproduktiver Gerechtigkeit gerückt wird, während kapitalistische und rassistische Ausbeutungsverhältnisse von gebärfähigen Körpern, wie der von Gast- und Vertragsarbeiter*innen verschwiegen oder Morde an BIPoC wie in Hanau zur Normalität werden, bietet Pro-Choice nicht wirklich für alle eine freie Wahl.