Mehr als 50 Menschen wurden Anfang Juli in Tiflis bei Attacken auf Journalist*innen und die Zivilgesellschaft im Rahmen der Pride Week verletzt. Bundesregierung und EU sollten sich bei ihren georgischen Partner*innen für eine zeitnahe und umfassende juristische und politische Aufarbeitung der Gewalt einsetzen.
Selbst wer die Pride Week 2021 nur aus der Ferne verfolgte, konnte sich ausmalen, unter welch immensem Stress die georgische Zivilgesellschaft in den letzten Monaten stand. Schon Wochen vor der Pride machten ultrakonservative und rechtsextreme Akteure mobil. Die einflussreiche Georgische Orthodoxe Kirche bezichtigte die Organisator*innen der „Propagandierung nichttraditioneller Lebensstille“ und rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, der Pride ihren politischen Beistand zu versagen. Zu Beginn der Pride Week kam es bei einem Filmscreening am 1. Juli zu kleineren Zusammenstößen zwischen Polizei und gewaltbereiten Gegendemonstranten; 23 Personen wurden vorübergehend festgenommen. Am 3. Juli fand außerhalb der Innenstadt das Pride Fest statt, das dank des effektiven Polizeischutzes noch ohne größere Zwischenfälle verlief.
Eskalation mit Ansage
Im Folgenden steigerten die Kirche und georgische Regierungsvertreter jedoch das Eskalationslevel. Erstere gab ein weiteres Statement ab, in der sie die Propagierung eines vermeintlich „pervertierten Lebensstils“ und die „drastische Einmischung“ durch internationale Akteure scharf ablehnte und zum „friedlichen Protest“ am 5. Juli aufrief; dem Tag, an dem der Höhepunkt der Pride Week, der „Marsch der Würde“, stattfinden sollte. Rechtsextreme Gruppen riefen ebenfalls zum Protest auf. Am Morgen des 5. Juli versammelten sich hunderte Ultrakonservative und Rechtsextreme im Zentrum von Tiflis. Der georgische Premierminister Irakli Garibaschwili sprach sich öffentlich gegen die Abhaltung der Pride auf dem zentralen Rustaweli-Boulevard aus und stellte die Organisator*innen als Verbündete der „radikalen Opposition“ dar, die nur Unruhe stiften wollten. Daraufhin geriet die Lage außer Kontrolle und Gewaltbereite verletzten 53 Journalist*innen, die vor Ort berichteten. Sogar Todesdrohungen wurden ausgesprochen. Außerdem stürmten und verwüsteten sie das Büro von Tbilisi Pride und einer weiteren Organisation. Ein polnischer Tourist wurde niedergestochen, offenbar weil er einen Ohrring trug. Den Pride-Marsch sagten die Organisator*innen schlussendlich ab. Regierung und Polizei, die in den letzten Jahren wiederholt für ihre rabiaten Methoden in der Kritik standen, bedienten sich am 5. Juli nur ihrer Samthandschuhe und gingen kaum gegen die Gewalt vor. Der Vorsitzende der Regierungspartei Georgischer Traum, Irakli Kobachidse, verurteilte die Eskalation zwar, schob die Schuld aber ähnlich wie zuvor der Premierminister auf die Pride-Organisator*innen.
Breiter, friedlicher demokratischer Protest
Angesichts der schockierenden Ereignisse versammelten sich am nächsten Abend tausende Georgier*innen zum friedlichen demokratischen Protest. Die Bilder waren eindrücklich – vor dem Parlament wehte eine große Regenbogenfahne neben einem am Vortag errichteten eisernen orthodoxen Kreuz. Diesmal griff die Polizei durch und schützte den Protest vor gewaltbereiten Gegendemonstranten. Nach Auflösung der pro-demokratischen Versammlung zogen die Rechtsextremen und Ultrakonservativen jedoch zurück auf den Platz. Sie rissen ein zweites Mal die Europafahne vom Mast und verbrannten sie diesmal sogar – ein symbolträchtiges Zeichen in Georgien, in dem sich 41 Prozent der Bevölkerung „voll und ganz“ und 32 Prozent „eher“ für die EU-Mitgliedschaft ihres Landes aussprechen.
Hin zur Diktatur der Mehrheit?
Am 11. Juli kam es dann zum bislang schlimmsten Ereignis: Kameramann Aleksandre Laschkarawa wurde tot in seiner Wohnung aufgefunden, nachdem er bei den Angriffen am 5. Juli schwer verletzt worden war. Laut einer ersten Untersuchung habe er unter Drogeneinfluss gestanden, doch bestehen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Ergebnisse und besonders an ihrer Instrumentalisierung. So fanden sich am Abend erneut Tausende zu Protesten auf dem zentralen Rustaweli-Boulevard ein und forderten den Rücktritt der Regierung. Nach einem weiteren Auftritt von Premierminister Garibaschwili, in dem er die Opposition für die Gewalt verantwortlich machte und im Sinne der „Diktatur der Mehrheit“ gegen die Pride argumentierte, kam es auch am Abend des 12. Juli zu Protesten. 12 Personen wurden festgenommen, darunter auch der bekannte Journalist Irakli Absandze, der zuvor kritisch über die Entwicklungen berichtet hatte.
Bedrohungslage und Polarisierung spalten LGBTIQ+-Community und Zivilgesellschaft
Die Bedrohungslage für LGBTIQ+-Aktivist*innen gefährdet nicht nur Menschenleben, sie hat auch zur Spaltung der LGBTIQ+-Community beigetragen. Angesichts vergangener Gewalteskalationen herrscht in der Community Uneinigkeit darüber, ob primär sichtbarkeitsorientierte Aktionen eine erfolgsversprechende Strategie im Einsatz für LGBTIQ+-Rechte ausmachen. Auch in diesem Jahr hatte sich ein großer Teil der Community im Vorfeld mit einer Reihe von Argumenten von der Pride distanziert. Erstens bringe eine Pride zusätzliche Sicherheitsrisiken für Personen, die nicht der sozialen Norm entsprechen. Zweitens würde eine mehr oder weniger effektiv gesicherte Pride der Regierung die Gelegenheit bieten, sich international als Wahrerin der LGBTIQ+-Rechte darzustellen, obwohl sie sich ansonsten kaum für diese einsetze. Drittens könnte die unhinterfragte Übernahme von und Fokussierung auf westliche „Pride-Praktiken“ andere wichtige Diskussionen über LGBTIQ+-Rechte verdrängen, die im georgischen Kontext relevanter seien, beispielsweise die soziale Situation von LGBTIQ+-Menschen. Und viertens habe die Pride versäumt, progressive politische Allianzen zu schmieden.
Inzwischen geht die Spaltung über die LGBTIQ+-Community hinaus. Eine erfolgreiche Grassroots-Protestbewegung gegen den Bau von zwei Wasserkraftwerken vereinte Ende Mai bei einer großen Demonstration in Tiflis Protestierende aus verschiedensten gesellschaftlichen Schichten, inklusive solcher, die sich sonst diametral gegenüberstehen. Schon damals wurden die Anführer*innen dazu gedrängt, sich gegen die beteiligte LGBTIQ+-Community zu positionieren, riefen aber zu Toleranz auf. Letztendlich scheint der Druck auf die auch aus kirchlichen Akteur*innen bestehende Bewegung jedoch zu groß geworden zu sein: Die Anführer*innen der Umweltproteste traten bei einer Anti-Pride-Kundgebung am 5. Juli auf. In Folge sagten sich mehrere wichtige Mitstreiter*innen von ihnen los; Hoffnungen für eine breite Umweltbewegung liegen erstmal auf Eis.
Homophobie in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft
Die Gewalt der vergangenen Woche lässt sich durch verschiedene Faktoren erklären, darunter die tief verwurzelte Homophobie, regelmäßig geschürt durch die Kirche, die ihre gesellschaftliche Stellung bedroht sieht; die instabile innenpolitische Lage sowie zunehmend illiberale und anti-westliche Haltungen in den Reihen des Georgischen Traums; und die Schwächung der EU als liberale Macht.
Auch wenn Homophobie ein globales Phänomen ist, ist sie in Georgien besonders stark ausgeprägt. In der letzten Weltwertestudie äußerten 83 Prozent der Georgier*innen die Ansicht, dass sich Homosexualität niemals rechtfertigen ließe. Gleichzeitig ist die georgische Gesellschaft, auch durch die Globalisierung und das Heranrücken an die Europäische Union und die USA nach der Rosenrevolution im Jahr 2003, viel heterogener geworden. „Andersartigkeit“ und Queerness haben insbesondere in Tiflis zunehmend Ausdrucksmöglichkeiten gefunden. Doch die ganz unterschiedlichen „Welten“ mischen sich kaum, während die Armut im Land, jetzt auch verstärkt durch Corona, grassiert. So lassen sich kulturelle Ängste von politischen und religiösen Akteuren leicht instrumentalisieren.
Entwicklung der gewaltbereiten Anti-LGBTIQ+-Bewegung
Bereits seit 2007 organisieren ultrakonservative Akteure wie die Orthodoxe Kirche und der Orthodoxe Elternverein anti-LGBTIQ+-Kundgebungen. Nach einer kleineren Eskalation 2012 kam es 2013 zum ersten großen homophoben Gewaltausbruch, der in der Erinnerung der georgischen LGBTIQ+-Community als prägendes traumatisches Ereignis nach wie vor sehr präsent ist. Tausende Ultrakonservative, darunter zahlreiche Kirchenvertreter, attackierten etwa 50 Aktivist*innen. Ab 2014 organisierte die Kirche am Internationalen Tag gegen Homo- und Transfeindlichkeit einen jährlichen „Familientag“, an dem sie unter anderem Massenhochzeiten für heterosexuelle Paare durchführte. Georgische Rechtsextreme intensivierten ihre internationale Vernetzung mit antiliberalen Bewegungen – unter anderem in Russland, aber auch in den USA. Immer wieder kam es in den folgenden Jahren zu Drohungen und Eskalationen, auch bei der ersten Tbilisi Pride im Jahr 2019 und der georgischen Premiere des vielfach prämierten Films „And Then We Danced“. Nur selten münden polizeiliche Untersuchungen jedoch in Strafverfahren oder gar Verurteilungen, sodass gewaltbereite Ultrakonservative und Rechtsextremisten mit einem Gefühl der Straffreiheit agieren.
Illiberale Tendenzen und innenpolitischer Kampfmodus
Georgien ist in den letzten Jahren durch mehrere Phasen innenpolitischer Turbulenzen gegangen, die sich zur Dauerkrise ausgeweitet haben. Viele vergleichsweise liberale Politiker*innen des Georgischen Traums haben die Partei verlassen. Die Verbliebenen fallen inzwischen – trotz der Ankündigung, 2024 einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft zu stellen – vermehrt durch verbale Attacken auf die Zivilgesellschaft und „westliche“ Akteur*innen auf. Auch an den Geist des im April durch EU-Ratspräsident Charles Michel ausgehandelten Abkommens zwischen dem Georgischen Traum und den Oppositionsparteien hält die Regierung sich nur bedingt. Das Abkommen beinhaltet unter anderem eine Klausel, nach der vorgezogene Neuwahlen stattfinden sollen, wenn der Georgische Traum bei den kommenden Regionalwahlen weniger als 43 Prozent der proportionalen Stimmen erhält. Eine zu offene Unterstützung der Pride Week hätte die Partei Stimmen gekostet, daher sind das Mäandern und die Versuche, unterschiedliche Interessengruppen zu bedienen, aus einer Wahlkampflogik heraus verständlich. Unterstützer*innen der georgischen euro-atlantischen Integration im Westen – und viele für die Wirtschaft bedeutsame Touristen – blicken allerdings mit völlig anderen Maßstäben auf Georgien. So wurde die diesjährige Pride auch zum PR-Desaster für die georgische Regierung.
Schwächung der EU als liberale Macht
Gleichzeitig begünstigt auch die Schwächung der EU als liberale Macht die illiberalen Tendenzen in Georgien. In der Vergangenheit begründeten georgische Politiker*innen bereits illiberale politische Maßnahmen wie die Festschreibung der Ehe als Einheit von Mann und Frau in der Verfassung mit entsprechenden Entwicklungen innerhalb der EU. Vor und nach der Pride äußerten sich Mitglieder des Europäischen Parlaments, die EU-Delegation in Tiflis und einige Botschaften, darunter auch die Deutsche Botschaft, mehrfach im Sinne der Versammlungsfreiheit. Nach der Eskalation am 05. Juli veröffentlichten die EU-Delegation, weitere internationale Organisationen und Missionen sowie 24 Staaten ein starkes Statement, das unter anderem die strafrechtliche Verfolgung der Gewalttäter fordert. Die Botschaften Polens und Rumäniens unterzeichneten jedoch nicht. So ist harter Druck der EU auch angesichts der abweichenden Position Warschaus und Bukarests nicht zu erwarten.
Mehr Engagement von Bundesregierung und EU nötig
Georgien hat schwere Zeiten hinter und vor sich. Nie zuvor hat das Land eine solche Eskalation gegen die demokratische Zivilgesellschaft erlebt. Die traumatischen Gewalterfahrungen werden Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, insbesondere der Medien und LGBTIQ+-Community, noch Jahre verfolgen. Bundesregierung und soweit möglich auch die EU sollten sich jetzt erstens mit Nachdruck dafür einsetzen, dass zeitnahe und umfassende polizeiliche Ermittlungen und unabhängige Gerichtsverfahren durchgeführt werden. Zweitens sollten sie die politische und gesellschaftliche Aufarbeitung begleiten, beispielsweise durch Unterstützung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses und durch Stärkung der besonders hart getroffenen unabhängigen Medien. Drittens sollten Bundesregierung und EU sich mittel- und langfristig für die Zusammenarbeit von Regierung und Zivilgesellschaft bei der Entwicklung einer Strategie zur Prävention und Verfolgung von Hassverbrechen und Rechtsextremismus engagieren und mehr Trainings- und Austauschmaßnahmen anbieten. Viertens sollten sie den Moment nutzen, um gemeinsam mit der Zivilgesellschaft, insbesondere der vielfältigen LGBTIQ+-Community, ihre Ansätze zur Förderung von Minderheitenrechten, Diversität und Toleranz zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Die nächste Bundesregierung sollte als kritische Freundin an der Seite Georgiens stehen, mit (noch) mehr Engagement und Unterstützung – und einem scharfen Blick auf die großen, aber nicht unüberwindbaren Hindernisse auf dem Weg zur demokratischen Konsolidierung des Landes.
Dieser Artikel wurde zuerst auf der Seite der Heinrich-Böll-Stiftung veröffentlicht.