Niemand stört sich daran, dass Marxismus aus dem Westen kommt. Bei feministischer Arbeit stimmt es noch nicht mal. Machen wir Schluss mit der Diskussion über seine Ursprünge.
Eines der ersten Schriftstücke von Frauen, die Therigatha, ist eine Gedichtsammlung buddhistischer Nonnen, die aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. stammen soll, wahrscheinlich ist sie noch älter. Die insgesamt 73 Gedichte dieser kleinen Sammlung wurden zunächst mündlich überliefert. Sie beleuchten die Lebenswege von Frauen, die auf der Flucht vor Misshandlung in der Ehe und sozialer Ausgrenzung weltlichen Freuden entsagten und stattdessen nach etwas strebten, das alle Frauen bis heute wollen: Freiheit.
Für die Bhikunnis, die Nonnen, die diese Gedichte geschrieben haben, war Freiheit gleichbedeutend mit dem Beitritt zu einem buddhistischen Orden. Auch wenn diese nicht frei von patriarchalen Strukturen waren, zeigten sie sich offener gegenüber den Weltentsagerinnen als andere Religionen. Die Frauen, verbunden durch gemeinsame Lebenserfahrungen, bildeten eine Schwesternschaft, die ihnen vielleicht eine Art Heimatgefühl gab. Waren diese Frauen unsere frühen Feministinnen? Schwer zu sagen. Wir wissen wenig über sie – nur, dass sie sowohl aus ärmlichen als auch aus privilegierten Verhältnissen kamen. Und obwohl ihnen Buddha zunächst keinen Zugang zur Ordensgemeinschaft gewähren wollte, konnten sie ihn schließlich gemeinsam von ihrem Beitritt überzeugen.
Mehrere Jahrhunderte später war ein 14-jähriges Dalit1-Mädchen im von der Kriegerkaste der Peshwas beherrschten Maharashtra außer sich vor Wut, da sie als Frau und Angehörige einer niederen Kaste keine Schule besuchen durfte. Als Muktabai, so ihr Name, schließlich doch noch eine Einrichtung fand, die sie aufnahm (gegründet vom Sozialreformer Jyotiba Phule), verfasste sie eine leidenschaftliche und wütende Kritik an einem Kastensystem, das Armen und Angehörigen niederer Kasten den Zugang zur Bildung verwehrte. Sie sagte den Mächtigen die Wahrheit. Sie erhielt viele Preise für ihre Schrift.
Nahm sich Rokeya Sakhawat Hossain aus Bengalen ein Beispiel an Savitribai Phules Schule, als sie ihre eigene muslimische Mädchenschule gründete – zunächst in Bhagalpur in Bihar und später in Kalkutta? Vielleicht. Jedenfalls ging sie von Haus zu Haus, um Eltern von einem Schulbesuch ihrer Töchter zu überzeugen. Später, 1905, schrieb sie mit Sultana’s Dream eines der ersten feministischen Werke der Science-Fiction-Literatur und schuf mit dieser Erzählung den utopischen Raum eines von Frauen regierten Ladylands.
Waren Muktabai und Rokeya unsere feministischen Vorfahr*innen? Davon sind Tausende von Frauen aller Kasten und Klassen überzeugt.
Im Jahr 1947 endete die britische Kolonialherrschaft über Indien, das sich nun eine säkulare Verfassung als Basis für die neue unabhängige Demokratie geben wollte. Fünfzehn Frauen waren an der Ausarbeitung dieses wichtigen Grundlagendokuments beteiligt. Trotz ihrer geringen Zahl waren ihre Stimmen bedeutend, und sie kämpften für die Rechte ihrer Mitbürgerinnen, für Gleichstellung und für die Gewährung von Grundrechten unabhängig vom Geschlecht. Eine dieser Frauen, Hansa Mehta, arbeitete eng zusammen mit Eleanor Roosevelt an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Sie war es auch, die sich für die Änderung der ursprünglichen Formulierung in Artikel 1 von „Alle Männer sind frei und gleich geboren“ in „Alle Menschen sind frei und gleich geboren“ einsetzte. Die weltweiten Folgen dieser einzigartigen Intervention waren, und sind noch immer, nicht zu überschätzen. War Hansa Mehta eine unserer frühen Feministinnen? Sie selbst hätte sich mit Sicherheit als solche bezeichnet, denn mit ihrem unermüdlichen Einsatz für Frauenrechte in Indien und für den Kampf der weltweiten Frauenbewegung widmete sie ihr ganzes Leben der Sache der Frauen.
Indische Feministinnen fordern, dass Vergewaltigung in der Ehe bestraft wird. Rechte Politiker*innen antworten: Sie wüssten nur wenig über die „indische“ Kultur
Im Ramayana, dem Hindu-Epos über das Geschick der Götter und Menschen, gibt es eine Erzählung, in der unsere heutigen Feminismen einen tiefen Widerhall finden. Als Rama, König von Ayodhya, für 14 Jahre ins Exil in den Wald geschickt wurde, folgten seine Gefolgsleute ihm, seiner Frau Sita und seinem Bruder Laxmana. Am Waldesrand angekommen, drehte sich Rama noch einmal um und befahl: „All ihr Männer und Frauen, geht nun zurück nach Hause.“ Als Rama 14 Jahre später an diesen Ort zurückkehrte, erblickte er eine Siedlung. „Warum seid ihr hier?“ fragte er. „Ich habe euch doch nach Hause geschickt.“ „Nein“, entgegneten die Bewohner*innen, „Ihr habt gesagt, ‚all ihr Männer und Frauen, geht nun zurück nach Hause‘. Wir sind weder das eine noch das andere, wir sind beides.“ Dies waren unsere frühen trans Vorfahr*innen – diejenigen, die den Feminismus in aller Welt heute auf eine seiner härtesten Proben stellen.
Unsere heutigen Feminismen stützen sich auf das Vermächtnis dieser Frauen –wir stehen auf ihren Schultern. Ganz gleich, aus welchem Land in dieser Welt wir kommen, ob wir aus dem „Globalen Norden“ oder dem „Globalen Süden“ stammen, ganz gleich, in welcher Zeit und in welchem Jahrhundert wir gelebt haben, unsere Geschichten verbinden uns mit den Frauen, die steinige Pfade beschritten und auf ihrem Weg Räume geöffnet haben, die uns bis dahin verschlossen waren.
Warum die Encyclopaedia Britannica einen Fehler macht
Und doch erwähnt die Geschichtsschreibung nur einige dieser Frauen, indessen sie andere vergisst. Eleanor Roosevelts Name steht synonym für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, der Name Hansa Mehta dagegen wird in diesem Zusammenhang nur selten genannt. Obwohl die Therigatha vermutlich das älteste uns bekannte literarische Werk von Frauen ist, findet sie in den Weltgeschichten des Feminismus oder sogar der Frauenliteratur so gut wie keine Erwähnung. Und auch wenn Rokeyas Werk höchstwahrscheinlich zu den großen frühen feministischen Utopien gehört, ist es doch außerhalb von Südasien kaum bekannt. Diese keineswegs zufälligen, sondern vielmehr bewussten und systematischen Leerstellen und Auslassungen bestärken die weit verbreitete Annahme, die Länder des Westens, und Frauen in der westlichen Welt, hätten als Einzige einen Beitrag zum „Fortschritt“ und zur „Zivilisation“ und damit auch zur Ausbreitung des Feminismus in aller Welt geleistet, während der Rest von uns im Grunde nur damit beschäftigt war, mit ihnen Schritt zu halten. Die Encyclopaedia Britannica definiert „Feminismus“ als weltweite Erscheinung, deren Ursprünge vornehmlich in der westlichen Welt liegen. Diese Lesart beschreibt den Feminismus – eine radikale und transformative politische Philosophie, die den individuellen und kollektiven Widerstand von Frauen in aller Welt begründet hat und noch immer begründet und auf die Frauen überall einen Anspruch haben – als zunächst rein „westliches“ Phänomen, das sich später auch auf andere Teile der Welt „ausgebreitet“ hat.
Es gibt kein Copyright auf Ideen und Visionen
Es mag richtig sein, dass „Feminismus” ein westlicher Begriff ist, denn er wurde zunächst im Französischen geprägt und begegnet uns heute vor allem als englischer Begriff, und Englisch gehört zu den weltweit führenden Sprachen der Macht. Doch Wörter und die damit verbundenen Konzepte, die Bedeutungen und Geschichten, die sie mit der Zeit annehmen, sind nicht zwangsläufig an einen einzigen Ort oder eine einzige Kultur gebunden. Wiederum dürfen wir den historischen Zusammenhang nicht außer Acht lassen: Der Begriff wurde vermutlich von dem sozialistischen Philosoph Charles Fourier und damit von einem Mann geprägt, um weibliche Wesenszüge zu definieren und gleichzeitig für Gleichberechtigung einzutreten. Mit den Jahren gewannen Frauenbewegungen in verschiedenen Kulturen und Regionen an Bedeutung, lokale, nationale, regionale Sprachen passten sich an und neue Begriffe kamen auf, um ein Phänomen zu beschreiben, für das es bisher keine Worte gab, weil seine Existenz nicht unbedingt erwünscht war. In zwei der Sprachen Indiens – Hindi und Urdu – haben wir die Wörter „Naarivaad“ und „Niswaniyat“ geprägt. Doch keines von ihnen verfügt über dieselbe Bedeutungskraft wie das englische Wort „Feminism“, und deshalb sind wir noch immer mit dem Mythos konfrontiert, Feminismus sei etwas Westliches.
Dieser Mythos von den westlichen Ursprüngen des Feminismus ist nicht nur weit verbreitet, er wird auch an beiden Enden des politischen Spektrums propagiert – von Supermächten, Feminist*innen aus dem Westen, rechten Regimes, Fundamentalist*innen und häufig auch von Frauen des sogenannten Globalen Südens selbst. Als die USA 2001 ihren „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan ausriefen, begründeten sie diese Entscheidung mit ihrer angeblichen Sorge um die Situation der Frauen in Afghanistan. Tragischerweise waren auch feministische Gruppen aus dem Westen, die sich um das Schicksal ihrer weniger glücklichen Schwestern in der sogenannten weniger entwickelten Welt sorgten, ebenfalls davon überzeugt, dass ein militärisches Eingreifen der USA für die Verbesserung der Menschenrechte und der Situation der Frauen in Afghanistan notwendig sei. So hatte etwa fünf Jahre zuvor die Gruppe Feminist Majority Foundation besorgt darauf aufmerksam gemacht, dass in Afghanistan die Rechte von Frauen immer weiter beschnitten würden. Dieselbe Gruppe führte auch eine Bewegung an, die in feministischen Kreisen um Unterstützung für die US-Intervention warb, die absurderweise die Bezeichnung „erster feministischer Krieg in der Geschichte“ trug. An ihrer Kampagne gegen Gender-Apartheid in Afghanistan beteiligten sich Hollywoodstars und einflussreiche Feminist*innen wie Gloria Steinem.2 Das Syndrom „Feminist*innen der Ersten Welt eilen Feminist*innen der Dritten Welt zu Hilfe“ ist allgegenwärtig und hat wesentlich dazu beigetragen, die Idee von den sogenannten westlichen Ursprüngen des Feminismus zu verfestigen.
Wenn Feminismus nicht Teil „unserer“ Kultur sein soll
Doch die USA tragen nicht die alleinige Schuld. In jüngster Zeit haben sich rechte Politiker*innen in Indien das Phänomen des „Feminismus als westliches Konzept“ zunutze gemacht. Im Rahmen einer hitzigen Debatte über Vergewaltigung in der Ehe, die gegenwärtig nicht unter Strafe steht, behaupteten sie, Feminist*innen in Indien wüssten nur wenig über die „indische“ Kultur und brächten „westliche“ Ideen ins Land, welche die einzigartige „indische“ Institution der Ehe als eigentliches Fundament der indischen Gesellschaft zerstörten. Und als ob das noch nicht genug wäre, musste sich eine Gruppe von Ringkämpferinnen, die gegen einen führenden Politiker wegen sexueller Belästigung protestierte und seine Anklage vor Gericht auf Grundlage des indischen Gesetzes gegen sexuelle Belästigung forderte, den Vorwurf gefallen lassen, sie seien zu „westlich“ und das von Feminist*innen vorgebrachte Konzept der Zustimmung sei nicht Teil „unserer“ Kultur. Auf diese Weise wird aus der Idee des Feminismus als westliches Konzept ein praktisches Instrument, mit dem auf Frauen eingeschlagen werden kann, die unbequeme Fragen stellen.
Es stimmt allerdings auch, dass der Widerstand gegen feministische Ideen, insbesondere im „Globalen Süden“, häufig von Frauen selbst kommt. Wie oft musste ich mir von wortgewandten und mutigen Frauen anhören, dass sie sich nicht als Feminist*in bezeichnen lassen wollen? Unser Teil der Welt empfängt den Begriff Feminismus nicht mit offenen Armen. Viele Frauen mit klarer feministischer Haltung lehnen das Wort ab, weil es für sie etwas Fremdartiges ist und keinen Bezug zu ihrer Lebenswirklichkeit hat. Dies liegt zum Teil an den vielen Mythen, die den Feminismus umgeben und als Ballast beschweren. Feminist*innen sollen gegen die Ehe sein, dabei sind so viele Menschen gegen die Ehe und so viele Feminist*innen sind verheiratet. Feminist*innen wird nachgesagt, das Heim und die Ehe zu zerstören. (Bisher habe ich noch keine Feminist*in gefunden, die so etwas getan hat. Und braucht es außerdem wirklich Feminist*innen, um eine Ehe zu zerstören? Das hat bisher ganz gut auch ohne sie funktioniert!). Sie werden als „schrill“ und „laut“ bezeichnet, was sich auf eine Art zu sprechen bezieht, die nicht nur bei Frauen zu beobachten ist. Davon abgesehen können sich Frauen im allgemeinen Mansplaining häufig nur auf diese Weise Gehör verschaffen. Doch all dieser Ballast hindert Menschen daran, den Ausdruck für sich zu akzeptieren. Zudem wollen viele Frauen in Indien, die in ihren eigenen Sprachen und nicht in der englischen Sprache leben, nichts mit dem Begriff zu tun haben. Und zwar nicht, weil sie das ablehnen, wofür er steht – ganz im Gegenteil –, sondern weil sie das Wort selbst als Fremdkörper empfinden und sich einfach keine Bezeichnung geben wollen, die sie von ihren eigenen gesellschaftlichen Gruppen entfremdet.
Darüber hinaus besteht, wie bei allen guten Ideen weltweit, die sehr reale Gefahr einer politischen Vereinnahmung, zumal wenn rechtskonservative Kräfte in der Welt zunehmend an Einfluss gewinnen. Politiker*innen aller Lager (und sie müssen nicht unbedingt Männer sein) verbergen ihre Frauenfeindlichkeit mehr schlecht als recht, wenn sie sich selbst als Feminist*innen bezeichnen oder behaupten, auf der Seite der Frauen zu stehen, aber die für Feminismen zentralen Fragen ignorieren.
Marxismus kommt aus dem Westen, doch das stört niemanden
Keine andere politische Ideologie ist weltweit derart unter Beschuss wie der Feminismus, und sicherlich wird keine andere dafür so attackiert, von der westlichen oder östlichen Seite des Globus ihren Weg in die Welt angetreten zu haben.
Der Kapitalismus beispielsweise ist ohne Zweifel ein Konzept des Westens. Er hat seinen Ursprung im Westen, wo sich Macht und wirtschaftlicher Wohlstand konzentrieren, die jedoch auch im Rest der Welt begehrt und angestrebt werden. Trotzdem beklagt sich niemand weltweit darüber, dass der Kapitalismus aus dem Westen stammt. Der Marxismus ist eine weitere Ideologie, die aus dem Westen zu uns kam und die sich vom Osten in den Westen und vom Norden in den Süden verbreitet und dabei jeweils eine besondere lokale Prägung angenommen hat. Die Akzeptanz oder Ablehnung dieser Weltanschauungen hat nichts mit ihrem westlichen Ursprung zu tun. Die Demokratie – als westliche Idee – gehört auch uns allen, in aller Welt. Der Buddhismus als Lebensform hat sich aus dem Osten rund um den Globus verbreitet und wird niemals wegen seiner Herkunft verurteilt. Warum also sollte es beim Feminismus anders sein?
Es kann niemals ein Copyright auf Ideen oder den Kampf gegen Ungerechtigkeit geben. Es ist völlig gleichgültig, von wem eine Bewegung ursprünglich ausging
Tatsächlich kann es niemals ein Copyright auf Ideen oder auf den Kampf gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit geben. Es ist völlig gleichgültig, von wem eine Bewegung ursprünglich ausging, und in den meisten Fällen können wir diese Person oder diesen einen Moment gar nicht bestimmen. Wichtig ist allerdings, dass wir sehen, wie sich diese Bewegung, die wir als Feminismus bezeichnen, mit der Ausbreitung einer Vielzahl von Feminismen in aller Welt verändert, angepasst und weiterentwickelt hat. Der westliche Feminismus beispielsweise, der sich selbst als global betrachtete (einer seiner frühen Slogans lautete „Schwesternschaft ist global“), war lange Zeit eine Form des Feminismus, die überwiegend der Mittelschicht angehörende weiße Feminist*innen propagierten. Selbst die Suffragetten als frühe Feminist*innen, die für das Wahlrecht in Großbritannien kämpften, hatten keinen „Blick“ für die Diskriminierung und Unterdrückung ihrer Braunen und Schwarzen Schwestern in den Kolonien. Stattdessen unterstützen sie nach eigenem Bekunden die „Zivilisierungsmission“ des Imperialismus.
Solidarität muss die Unterschiede in Betracht ziehen
Erst in den 1970er Jahren stellten Schwarze Feminist*innen diesen Mangel an Solidarität, diese absichtliche Blindheit infrage. Sie waren es auch, die darauf aufmerksam machten, dass Frauen verschiedene Dimensionen der Diskriminierung und Benachteiligung erfuhren und ihr Geschlecht nur eine dieser Dimensionen war. Auch in Indien waren es Frauen am Rande der Gesellschaft, insbesondere aus den Reihen der Dalit, die den feministischen Mainstream darauf aufmerksam machten, inwieweit die Geschlechtsidentität mit wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Aspekten der Kastenunterdrückung verknüpft ist. In Malaysia waren es Muslima, viele von ihnen Feminist*innen, die mit ihrem internen Kampf gegen das religiöse Patriarchat bei dennoch festem Glauben eine andere Form des Feminismus prägten. Immer wieder haben Feminist*innen aus dem Globalen Süden Feminist*innen aus dem privilegierteren Norden darauf hingewiesen, dass unser Feminismus, vielleicht auch unsere Feminismen, nicht nur unseren gemeinsamen Unterdrückungen als Frauen, sondern auch unseren Unterschieden innerhalb dieser breiten Kategorie Rechnung tragen muss bzw. müssen. Sie haben gesagt: Es ist wichtig und notwendig, solidarisch zu sein. Doch Solidaritäten, die die Unterschiede nicht in Betracht ziehen und die keine Fragen und Zweifel innerhalb einer Gruppe zulassen, sind der Mühe nicht wert. Es waren Feminist*innen aus dem Globalen Süden, die Feminist*innen in aller Welt davor gewarnt haben, dass ein Feminismus, der sich Auseinandersetzungen und Herausforderungen von innen nicht stellt, der sich nicht solidarisch mit armen Frauen, Schwarzen Frauen, indigenen Frauen, Dalit-Frauen und allen anderen Personen – ungeachtet ihres Geschlechts – zeigt, die an den Rändern unserer Gesellschaften leben, kein Feminismus ist, für den es sich zu kämpfen lohnt. Wo auch immer die Ursprünge unserer Feminismen liegen, welche Strategien wir auch immer verfolgen, unser Ziel ist es, eine bessere Welt für Frauen und alle anderen Geschlechter zu schaffen. Darin sind wir uns alle ähnlich, und doch gibt es für den Feminismus keine Patentlösung.
Wenn wir als Feminist*innen den Feminismus weiterhin als etwas betrachten, das seinen Ursprung nicht bei uns, nicht in unseren Köpfen und Herzen und Lebenswirklichkeiten hat, dann tun wir der Bewegung letzten Endes unrecht und schaden der Weltanschauung, die unserem Leben Bedeutung gibt. Ebenso leisten wir mit der Bindung an einen einzigen geografischen Ort nichts für unsere Geschichten, sondern stärken vor allem das Patriarchat, das sich diese Auseinandersetzung zunutze machen kann, um den weltweiten Einfluss des Feminismus zu leugnen.
Das Wunderbare an der Bewegung oder den Bewegungen des Feminismus in aller Welt ist ihr Reichtum und ihre Vielfalt und die Tatsache, dass sie fast nirgendwo Führungspersonen benötigen. Wenn man eine Gruppe von Feminist*innen auffordert, aus ihren Reihen eine Anführer*in, eine Symbolfigur für alle zu wählen, dann werden sie nicht nur eine, sondern viele Personen benennen – eine Politiker*in, eine Gewerkschafter*in, eine Frau aus dem Dorf, eine queere Frau, eine Transfrau und viele mehr. Welche andere politische Weltanschauung kann das von sich behaupten?
Feminismus verändert und entwickelt sich ständig
Vielleicht sollten wir mit dieser Art des Nachkdenkens aufhören und uns ein paar Fragen stellen. Warum ist es uns beispielsweise so wichtig, ob Feminismus ein westliches Konzept ist oder nicht? Mit Sicherheit verfügt kein Land, keine Kultur über ein Copyright darauf, wie wir den Einfluss der Patriarchate auf unser Leben verstehen, erkennen und eindämmen können? Außerdem benötigen wir keinen Hinweis aus dem Westen, um Ungerechtigkeit vor unserer eigenen Haustür zu erkennen! Würde es außerdem wirklich einen Unterschied machen, wenn das Konzept aus dem Westen käme – es kann doch in einem bestimmten Teil der Welt entstehen und sich dann über die Welt ausbreiten. Wäre das wirklich ein Grund, ein solches Konzept abzulehnen? Als Kimberlé Crenshaw den Begriff „Intersektionalität“ prägte, gab sie damit einer Tatsache einen Namen, die Feminist*innen in aller Welt seit jeher bekannt war, nämlich dass die vielen Formen der Diskriminierung, die sie in ihrem Leben erfahren, auf komplexe Weise miteinander verwoben sind. Müssen wir dieses Konzept nun ablehnen, weil seine Erfinderin aus dem Westen stammt? Oder gehört es uns allen Nicht-Weißen, weil sie Schwarz ist? Die Kontroverse über den Ursprung bringt uns nicht weiter.
Vielleicht liegt die einzige Gemeinsamkeit des globalen Feminismus darin, dass er sich kontinuierlich entwickelt, erweitert und verändert. Ursprünglich eine Bewegung von Frauen (ein Begriff, der sich später nach ethnischer Herkunft, Klasse, Kaste, Herkunft, Religion aufschlüsselte), umfasst der heutige Feminismus eine Reihe von Identitäten und Allianzen – mit queeren, Trans-, nicht binären, marginalisierten Menschen, Angehörigen niederer Kasten, religiösen Minderheiten und anderen Individuen – und setzt sich damit auseinander, wie diese in unseren Leben zusammenwirken. In der Tat zeigen aktuelle Debatten über die Beständigkeit oder Fluidität von Identitäten, die Wichtigkeit oder Unwichtigkeit binärer Gegensätze, das faszinierende Spektrum unserer Sexualitäten, dass sich der Feminismus immer wieder selbst hinterfragt und über seine Fehler reflektiert, sie annimmt, verinnerlicht und aus ihnen lernt. Doch wie kann er dann nur an einen einzigen Ort gehören? Er ist auch nicht restriktiv – weltweit gibt es heute zahlreiche Debatten über die Kategorie der „Frau“ oder die Idee des „Feminismus“. Wichtig ist jedoch, dass dies Diskussionen und keine Diktate sind. Der Feminismus ist divers, so divers, dass er sich mit Begeisterung auch den Spannungen stellt, die sich aus dem Wunsch nach wirklicher Inklusivität ergeben. Er ist derart vielfältig und häufig auch derart komplex, dass wir genau darüber sprechen sollten, anstatt ihn durch Auseinandersetzungen über Begrifflichkeiten zu schwächen.
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1 Der Begriff „Dalit“ bezeichnet Menschen am unteren Ende der indischen Kastenhierarchie, die seit Jahrhunderten eine ständige strukturelle und persönliche Diskriminierung innerhalb eines gegen sie gerichteten Systems erfahren, das von Ungleichheit und Diskriminierung und häufig auch von Gewalt geprägt ist. Dalit-Frauen haben ihren Feminismus daher anders als durchschnittliche Frauen aus der Oberschicht und einer oberen Kaste definiert, weil sie überlappende und intersektionale Formen der Diskriminierung aufgrund ihrer Kastenzugehörigkeit, ihres Geschlechts und durch das Patriarchat erleben.
2 Zitiert in Ratna Kapur (2022): „The First Feminist War in All History: Epistemic Shifts and Relinquishing the Mission to Rescue the ‚Other Woman‘“, AJIL Unbound, 116: 270–274, https://doi.org/10.1017/aju.2022.45.
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Aus dem Englischen übersetzt von Kathrin Hadeler.
Dieser Artikel ist Bestandteil des Dossiers Feminist Voices Connected.