Die theoretische Trennung zwischen einer marktorientierten und einer Haus-, Familien- und Sorgearbeit schlägt sich in der Herausbildung zwei getrennter Sphären der Ökonomie nieder, einer öffentlichen und einer vermeintlich privaten, die auch heute noch wesentlich geschlechtlich geprägt sind. Die ausschließliche Konzentration der Ökonomie auf die Analyse von den eher männlich geprägten Marktprozessen verschließt die Sicht auf den im Großen und Ganzen immer noch wesentlich weiblich geprägten Care-Bereich, der oft der Markt-Ökonomie untergeordnet und geringgeschätzt wird. Doch diese Trennung ist künstlich und überholt. Der Fokus auf die entlohnte Tätigkeit im Produktions- und Dienstleistungssektor schließt meist die Aktivität, die in Sorgearbeiten (Betreuung, Erziehung und Pflege von Kindern oder älteren Menschen) geleistet wird, aus. Sie ist es aber, die die Marktökonomie erst ermöglicht. So können beide ökonomische Welten nicht unabhängig voneinander betrachtet werden, sie bedingen einander kontinuierlich.
Das Beispiel der Pflege soll in diesem Artikel als Bezugspunkt für die Erarbeitung eines grünen frauenpolitischen Konzeptes dienen. Ein Umweg über die Statistiken belegt das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit in Deutschland: 2005 waren 2,13 Millionen Menschen im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes pflegebedürftig, darunter 68 Prozent Frauen (Stat. Bundesamt, 2008). Doch die Zahl der Pflegebedürftigen wird zwischen 2005 und 2020 um mehr als ein Drittel (37 Prozent), von 2005 bis 2030 um 58 Prozent (Stat. Bundesamt, 2008) ansteigen. Gleichzeitig sinkt aber das „informelle“ Pflegepotenzial・bis 2050 voraussichtlich um ca. 30 Prozent. Das Problem der Pflege ist tief im Leben jedes Menschen, tief in der Gesellschaft verankert. Hier verschmelzen Privat- und Arbeitsleben sowie Sorgen, Können, Interessen, Ressourcen und Emotionen. Deshalb bedarf auch die damit zusammenhängende Care-Ökonomie einer minutiösen Betrachtung. Ihre Auswirkungen auf allen Ebenen des interpersonellen Zusammenlebens, sowohl im individuellen, gesellschaftlichen, marktrelevanten und staatlichen Bereich dürfen nicht heruntergespielt werden.
Nachhaltige frauenpolitische Konzepte vermengt mit arbeitsmarkt-, kommunal-, alten- und familienpolitischen Betrachtungen müssen der Selbstbestimmung, der Wahrung der Menschenwürde, der Stärkung der Rechte aller betroffenen Bürgerinnen und Bürger dienen, sie müssen die Stellung der Pflegebedürftigen und ihrer Familien wieder aufwerten und die Pflege in geteilter Verantwortung fördern.
Care-Arbeit ist gesellschaftlich und wirtschaftlich nützlich
Jede Arbeit, ob privat oder öffentlich, die der Gesellschaft nützt, verdient es, auch als Arbeit anerkannt zu werden. Sowohl auf dem Gebiet der entlohnt geleisteten Arbeit wie auch im Bereich der unbezahlten Arbeit werden gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten verrichtet. Dadurch aber, dass die Care-Arbeit meistens immer noch im privaten Rahmen der klassischen Kleinfamilie als unbezahlte Tätigkeit und zusätzlich zur Lohnarbeit durchgeführt wird, wird sie entpolitisiert und birgt individuelle Überforderung sowie hohe Kosten. Die Privatisierung führt zu einer Zunahme unbezahlter Care-Arbeit und damit zu einer zusätzlichen Indienstnahme von Frauen. Heute sind 73 Prozent der Pflegenden Frauen, sie tragen damit die Hauptlast in der Pflege (BMFSFJ, 2005, Gender Datenreport), was mit der Tatsache einhergeht, dass die Care-Ökonomie meistens als „Frauen-Problem“ abgestempelt wird. Es ist uns daher ein wichtiges Anliegen, besonders Männer zu sensibilisieren, sie für den Care-Bereich zu gewinnen und zur Übernahme von Pflegetätigkeiten auch im privaten Raum zu bewegen. Eine Bewusstseinswandel muss vollbracht werden, damit die Care-Ökonomie als eine lebensnotwendige gesellschaftliche Aufgabe anerkannt wird: Sie produziert Lebensstandard, sie ist Voraussetzung für die menschliche Entwicklung und für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit von Frauen wie Männern. Sie muss eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren. In Deutschland brauchen wir eine effektivere Care-Infrastruktur, die sich der alltäglichen Lebensführung der Menschen fügt, die eine demokratische, dezentrale Selbstorganisation jenseits von Markt- und Profitlogik möglich macht und eine Form von gesellschaftlicher Arbeit fördert, die Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger gerecht wird, von allen mitgestaltet und beeinflusst werden kann.
So darf die Care-Ökonomie nicht völlig der Marktlogik anheim fallen: Care-Arbeit wird zunehmend kommerzialisiert und verwandelt sich zu einer Ware, die man – je nach Kaufkraft – auf dem Dienstleistungsmarkt „einkaufen“ kann. Versorgungslücken und Zeitnot im Haushalt werden immer häufiger durch die Anstellung einer prekär und/oder illegal beschäftigten und bezahlten Hausarbeiterin (z.B. Putzfrau) meist mit Migrationshintergrund kompensiert. Doch die Pflege muss für alle Bürgerinnen und Bürger in Not unabhängig von der sozialen Stellung gleichermaßen zugänglich sein.
Das wirtschaftliche Potential des Pflegesektors
In Zeiten des demografischen Wandels verfügen der Pflege-, Gesundheits- und Dienstleistungssektor über ein riesiges arbeitsmarkpolitisches Potenzial. Schätzungen zufolge ist allein bei den Vollzeitstellen im Gesundheitswesen mit einem Anstieg von heute circa 545.000 auf etwa eine Million im Jahre 2030 und gar 1,4 bis 1,8 Millionen bis 2050 (Stat. Bundesamt 2008) zu rechnen. In diesem Marktsegment liegen noch viele Potenziale brach, von denen alle profitieren könnten: Viele neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze für Frauen und Männer, vielseitige Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten oder Leistungsangebote zur Verbesserung der Lebensqualität alter und kranker Menschen könnten entstehen.
Doch damit diese Chance auch wahrgenommen werden kann und zukünftig noch genügend Pflegekräfte zur Verfügung stehen, müssen Berufe in der Pflege attraktiver gestaltet werden. Es ist notwendig, mehr Anerkennung, eine fairere Bezahlung, einen Mindestlohn und bessere Arbeitsbedingungen für die Pflegekräfte zu erreichen, um sie ihrer oftmals sehr prekären Situation zu entreißen. Wir fordern auch mehr Handlungs- und Entscheidungskompetenzen für Pflegekräfte. Diese Berufsgruppe soll mehr Möglichkeiten zur Weiterqualifizierung – auch an Hochschulen – erhalten. Dies setzt ein abgestuftes und durchlässigeres Aus- und Weiterbildungssystem voraus.
Der demographische Wandel und seine Herausforderung für die Zukunft
Im Zuge des demografischen Wandels wird die Zahl der Pflegebedürftigen massiv ansteigen. Die Bewältigung der pflegerischen Versorgung heute, aber auch in Zukunft hängt daher wesentlich von der Bereitschaft und Möglichkeit von Angehörigen oder Bezugspersonen ab, sich direkt oder indirekt an der Versorgung pflegebedürftiger Familienmitglieder oder anderer nahestehender Personen zu beteiligen.
Auch in der privaten intergenerationellen Pflege müssen vor allem Frauen so weit wie möglich entlastet werden. Ausschlaggebend für die Überlastung ist die mangelhafte Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, die oft dazu führt, dass (in der Regel weibliche) Erwerbstätige ihre Berufstätigkeit reduzieren oder ganz aufgeben. Doch die Rollen sind in Bewegung: Die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen, die zunehmende Mobilitätsforderung im Erwerbsleben, die mit längeren Arbeitswegen einhergeht, und die sich wandelnden Familienstrukturen werden dazu führen, dass zukünftig weniger Frauen für die Familienpflege zur Verfügung stehen.
Aufgrund gesellschaftlicher Wandlungsprozesse werden zukünftig immer weniger Menschen auf langfristige und verlässliche Hilfe und Unterstützung aus traditionellen Familiennetzwerken zurückgreifen können. Dafür aber haben sich in den letzten Jahrzehnten immer vielfältigere Lebensformen neben den klassischen Familienbeziehungen entwickelt. Hinzu kommen der Rückgang der Geburtenrate bzw. die Zunahme von kompletter Kinderlosigkeit sowie die Ehescheidungen, das steigende Lebensalter und die Zunahme allein lebender und allein alternder Menschen. Daher sind tragfähige und moderne Konzepte nötig, um die Professionalisierung im Pflegebereich voranzutreiben.
Solidarität muss politisch ermöglicht werden
Um die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege zu fördern, hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Kristina Schröder, im Frühjahr 2010 ihr politisches Programm der „Familienpflegezeit“ vorgestellt. Ihr zufolge sollen ArbeitnehmerInnen zwei Jahre lang 50 Prozent arbeiten, um nebenbei Familienangehörige zu pflegen. Sie sollen aber solange nur 75 Prozent ihres Gehaltes verdienen, bis das Zeit- und Gehaltskontos wieder völlig ausgeglichen sind. Aus grüner Sicht ist diese Maßnahme nicht ausreichend, denn sie trägt nur bedingt den oft sehr langen Pflegezeiten Rechnung. Hinzu kommt, dass viele keinesfalls auf 25 Prozent des Lohnes verzichten können. In ihrer aktuellen Ankündigung vom Februar 2011 verzichtet Schröder auf den Rechtsanspruch auf eine Familienpflegezeit, sie schlägt nun ein "Fördergesetz" vor. Hier wird wieder auf eine Freiwilligkeit der Unternehmen gesetzt, die bereits in anderen Bereichen, wie bei der Gleichstellung, keine Ergebnisse gebracht hat.
Damit Solidarität im Pflegefall auch über Familiengrenzen hinaus gefördert wird, schlagen wir eine bis zu drei Monate dauernde und durch eine Einkommensersatzleistung finanzierte Pflegezeit vor (In Würde leben. Das grüne Pflegekonzept (PDF)). In dieser Zeit können die wichtigsten Schritte eingeleitet und eine Pflege organisiert werden. Auch das Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) sollte so weiterentwickelt werden, dass ein Rückkehrrecht für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die Arbeitszeit besteht, die für sie vor einer durch eine Pflegesituation bedingten Arbeitszeitreduzierung galt.
Auch die Disparitäten zwischen den städtischen und ländlichen Gegenden müssen in die Überlegung mit einbezogen werden: Die Voraussetzungen für eine flexible Pflege sind nicht immer gegeben, doch muss sie überall gleichermaßen gewährleistet werden. In einer effizienten Care-Ökonomie müssen vor allem im ländlichen Bereich die langen Fahrt- und Pendelwege berücksichtigt und die noch defizitären Angebote aufgestockt werden. Ein Pflegesystem muss für alle Betroffenen wohnortnah, individuell und bezahlbar sein. Deshalb treten wir für eine Verbesserung der regionalen bzw. kommunalen Infrastruktur ein, in der alle an der Pflege beteiligten Akteure eng vernetzt arbeiten und sich ergänzen.
Den Informationsbedarf decken
Ein gerechtes Pflegesystem sorgt sich nicht nur um das Wohl der zu Pflegenden, sondern auch um das der Pflegenden. Pflegende Angehörige sind extremen Belastungen ausgesetzt: Sie geraten oft in soziale Isolation und leiden unter körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen. Deshalb ist für uns zentral, dass die pflegerische Versorgung sich konsequent an den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Ressourcen der umsorgten sowie der sorgenden Personen orientiert. Informelle, professionelle, ehrenamtliche und niedrigschwellige Hilfen müssen zusammenfließen, sich ergänzen, damit die Betroffenen ein ausreichendes Angebot bezahlbarer ambulanter Unterstützungs- und Entlastungsangebote wahrnehmen können. Dieser Mix zielt darauf ab, die Aufgaben und die Verantwortung im Pflegefall auf mehrere Schultern zu verteilen und damit die Einzelne zu entlasten.
Es ist deshalb wichtig, eine Beratungsinfrastruktur aufzubauen und die Hilfe unabhängiger professioneller EinzelfallberaterInnen (Case-Manager) zu gewährleisten. Diese BeraterInnen, wie auch die Einführung eines persönlichen Pflegebudgets stärken die Position der VerbraucherInnen im Pflegesystem, die ein Recht auf Aufklärung, Unterstützung und Begleitung durch ein neutrales und unabhängiges Case Management (Fall-, Assistenzmanagement) haben. So kann der oder die EinzelfallberaterIn einen individuellen Hilfeplan ausarbeiten, die Familie über ihre Rechte und Möglichkeiten bei der Beschaffung von Leistungen informieren, bei der Suche nach individuellen Angeboten helfen und Informationen für die medizinische und pflegerische Behandlung zwischen ÄrztInnen, Pflegedienst, Sanitätshaus etc. und Familie koordinieren.
Die Care-Ökonomie bietet die Grundlage für den intergenerationellen Vertrag, der Kinder, Jugendliche, Erwachsene und alte Menschen verbindet und der uns in den unterschiedlichen Phasen unseres Lebens dazu verpflichtet, Verantwortung füreinander zu übernehmen. Voraussetzung für die Umsetzung dieser Verantwortung ist eine gerechte (Frauen-)Politik, die die Defizite im Care-Bereich erkennt und diese langfristig überwindet.