Nichts hat moderne Reproduktion so geprägt wie die Technologie der In-vitro-Fertilisation. Neu entstandene soziale Praktiken haben weitreichende Folgen für das, was Familie ausmacht. Und sie verstärken die Klassenunterschiede.
Die Geburt von Louise Brown im Sommer 1978 in Großbritannien bewies die Machbarkeit der In-Vitro-Fertilisation. Heute, im Jahr 2023 ist die Reproduktionsmedizin weltweit ein bedeutender Wirtschaftszweig. Doch der Weg dorthin war lang und ereignisreich. 1978 war Margaret Thatcher noch nicht ins Amt der britischen Premierministerin gelangt, die Berliner Mauer stand noch, und Spanien wagte erste zaghafte Schritte in Richtung Demokratie. Hinzu kamen nicht zuletzt der Aufstieg des Neoliberalismus, die Globalisierung, die Normalisierung des weltweiten Tourismus, Billigflüge, die (Teil-)Privatisierung vieler Gesundheitssysteme in Europa und die Ausweitung der Bioökonomie. All diese Faktoren bildeten das Umfeld, in dem die Reproduktionsmärkte entstanden sind und das ihre Entwicklung maßgeblich beeinflusst hat.
Vom Ausnahmefall zur boomenden Industrie
Es gibt viele Unterschiede zwischen damals und heute. Denn sowohl die In-vitro-Fertilisation als auch die ersten Behandlungen mit Eizellspenden waren als Methoden eingeführt worden, um medizinische Aspekte der Unfruchtbarkeit zu lösen, die nur einen kleinen Teil der Bevölkerung betrafen. Heute hingegen ist die sogenannte Kinderwunschbehandlung sehr viel mehr als das. Aus einer „experimentellen Technik“, mit der in den 1970ern einige wenige Babys auf die Welt gebracht wurden, hat sich eine Industrie entwickelt, die weltweit zur Geburt von etwa 10 Millionen Kinder beiträgt. Diese Branche ist nicht länger eine Antwort auf Unfruchtbarkeit, im Gegenteil, sie stützt eine neue kulturelle Form des „Kinderkriegens“. Sie fördert ein reproduktives Modell, in dem Schwangerschaften in einem höheren Alter erfolgen und geplant werden. Sie forciert ein Modell, das Produktion und Reproduktion auf symbolischer und materieller Ebene neu definiert. Damit unterstützt der Markt nicht nur die Reproduktion, sondern er formt sie auch entscheidend.
Drei Charakteristika der gegenwärtigen assistierten Reproduktion in Spanien
- Vermehrte reproduktive Selektion[1] : Aufgrund von immer häufiger genutzter Präimplantationsdiagnostik, werden immer mehr Embryonen vor der Implantation einem Gentest unterzogen. Außerdem wird die Kompatibilität zwischen den spendenden und den empfangenden Personen von Eizellen und Sperma, mittels Screening- und Matching-Prozessen getestet.
- Die Veränderung der Temporalität mittels Kryokonservierung[2]: Dabei werden Eizellen oder Embryonen eingefroren, um sie zu einem zukünftigen Zeitpunkt nutzen zu können.
- Die Einbindung Dritter durch den „Transfer der reproduktiven Kapazität“[3]: In diesem Verständnis handelt es sich bei der Eizellspende – oder der Samen- oder Embryonenspende – nicht um eine Technik an sich, sondern um eine Praxis, die durch die Techniken der künstlichen Befruchtung möglich wird.
Reproduktive Kapazitäten werden übertragen
Der Schlüssel zum Erfolg der spanischen Reproduktionsindustrie liegt darin begründet, dass sie nicht nur technische Unterstützung leistet, sondern dazu beiträgt, die reproduktive Kapazität von jüngeren Frauen auf ältere Frauen zu übertragen. Damit werden nicht allein Unfruchtbarkeitsprobleme überwunden, sondern insbesondere Probleme, die mit dem steigenden Reproduktionsalter eingehen.
Das spanische Modell hat sich darauf spezialisiert, die Reproduktion in dreierlei Weise zu formen: durch eine stärkere Selektion, durch eine Veränderung der reproduktiven Temporalität sowie durch die Einbindung der reproduktiven Kapazität Dritter. Auf dem Zusammenspiel dieser drei Faktoren basiert das Versprechen des Marktes: nicht irgendein Baby hervorzubringen, sondern gesunde Babys, die einer bestimmten Person oder Familie ähneln (gesund durch Selektion, ähnlich durch eine genetische „als ob“-Übereinstimmung durch ein „Phänotyp-Matching“ zwischen spendenden und empfangenden Personen).
Spanien als Reproduktionshotspot
Gemessen am Gesamtumsatz, noch mehr jedoch in Relation zur Einwohner:innenzahl, ist in Spanien die bedeutsamste Reproduktionsindustrie Europas ansässig. Schätzungen zufolge konnte 2012 durch künstliche Befruchtung hier ein Umsatz von 600 Millionen Euro erwirtschaftet werden.[4] Inzwischen hat sich die Zahl der Behandlungen verdoppelt – entsprechend auch die Gewinne. 2019 fanden in Spanien 148.165 IVF-Zyklen statt. Im selben Jahr gab es im Land 296.333 eingefrorene Eizellen und 668.082 eingefrorene Embryonen; Eizellen und Embryonen, die ggf. zu einem späteren Zeitpunkt in weiteren Zyklen eingesetzt werden, für wissenschaftliche Untersuchungen zur Verfügung gestellt oder entsorgt werden könnten.
Dieses „spanische Wunder“ der Reproduktionsmedizin gründet sich auf drei Faktoren. Erstens, sind spanische Reproduktionskliniken bekannt für ein hohes biomedizinisches Niveau. Zweitens haben wirtschaftliche Interessen im Bereich der Reproduktionstechnologien quasi freies Geleit, da es kaum gesellschaftliche Debatten und relativ liberale Bestimmungen gibt. Drittens kann Spanien im EU-Vergleich eine hohe Verfügbarkeit von anonym gespendeten Eizellen vorweisen, was u.a. durch die Aufwandsentschädigung zu erklären ist, die knapp über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt.
Reproduktive Wünsche auf der einen, reproduktive Arbeit auf der anderen Seite
So konnte eine gesellschaftliche Wirklichkeit entstehen, in der das Spenden von Eizellen normal ist. Darüber hinaus trägt der Markt auch zur Aufrechterhaltung und Ausweitung eines Modells bei, das auf Klassenunterschieden aufbaut: Je nachdem, welcher sozialen Klasse wir angehören oder welchen Aufenthaltsstatus wir haben, um nur zwei Variablen zu nennen, verfügen wir über höchst ungleiche Chancen, unseren Kinderwunsch zu realisieren. Entscheidende Fragen sind daher: Wer kann sich eine Behandlung leisten? Wessen Körper werden medikalisiert? In welchem sozio-ökonomischen Verhältnis stehen spendende und empfangende Personen?
Spanien ist ein Paradebeispiel dafür, wie der Wandel seit den 70er Jahren bis heute die Privatisierung der Gesundheit und die Kommerzialisierung des Lebens befördert hat. Der spanische Reproduktionsmarkt ist der größte in Europa. Exemplarisch zeigt er, was eine laxe Gesetzgebung bewirken kann, insbesondere wenn Nachbarstaaten über sehr viel strengere Regeln verfügen, sodass der Bedarf nicht gedeckt werden kann
Wie wollen wir die Zukunft der Reproduktion gestalten?
Die Regulierung des Reproduktionsmarktes ist in vollem Gange. Seine Grenzen verändern sich. Was rechtlich erlaubt ist und was nicht – steht nicht fest. Daher fällt uns eine historisch bedeutsame Verantwortung zu: Wir sind aufgefordert, uns als Gesellschaft der Frage zu stellen, wie Reproduktion heute und in der Zukunft geregelt sein soll. Wie wollen wir uns reproduzieren und welche Anteile hiervon sollen sich nach marktwirtschaftlichen und biomedizinischen Logiken richten? Der gegenwärtige Trend zu einer immer späteren Mutterschaft ist eng mit der Existenz von Märkten zur Einbindung der Kapazitäten Dritter verbunden, weshalb es wichtig ist, diese Frage nicht ausschließlich als technisches oder biomedizinisches Thema, sondern auch als politisches Thema zu verhandeln.
Aus dem Spanischen übersetzt und lektoriert von Sebastian Landsberger und Kristina Vesper.