Sexuelle Gewalt im Fokus
Unlängst ist das schwerwiegende Problem der in bewaffneten Konflikten verübten sexuellen Gewalt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Es vergeht nunmehr kaum eine Woche ohne eine neue Schlagzeile oder den Bericht einer Nichtregierungsorganisation, die das Problem beleuchten. Das Thema hat zudem sämtliche Bereiche der Vereinten Nationen durchdrungen: von der Arbeit des Sicherheitsrates über die Sonderbeauftragten des Generalsekretärs und die Weltgesundheitsorganisation bis hin zu den internationalen Ad-hoc-Strafgerichtshöfen. Das Problem hat mittlerweile ein so großes Ausmaß erreicht, dass eine ressortübergreifende UN-Initiative gegen sexuelle Gewalt unter dem Namen „Stop Rape Now’ ins Leben gerufen wurde, u.a. um die Reaktionen der UN auf das Problem zu koordinieren.
Der jüngste und prominenteste Schritt der Vereinten Nationen in diesem Zusammenhang war die Verabschiedung der Sicherheitsratsresolution 1820 (2008). In dieser Resolution „fordert[e]“ der Sicherheitsrat „die sofortige und vollständige Einstellung aller sexuellen Gewalthandlungen gegen Zivilpersonen“ und „ersucht[e] den Generalsekretär, dem Rat einen Bericht über die Durchführung dieser Resolution im Zusammenhang mit den auf der Tagesordnung des Rates stehenden Situationen vorzulegen“. Ferner erteilt die Resolution dem Sicherheitsrat die Erlaubnis, das Problem zu lösen. Es folgten dann UN-Sicherheitsresolution 1888 (2009) sowie die Einrichtung des Postens des Sonderbeauftragten des Generalsekretärs zum Thema sexuelle Gewalt in Konflikten.
Die Sicherheitsratsresolutionen 1325, 1820 und 1888
Die Sicherheitsratsresolutionen 1820 und 1888 waren Teil des Frauen-, Friedens- und Sicherheitsprozesses, der von der Sicherheitsratsresolution 1325 (2000) angestoßen worden war. Dies birgt zwei mögliche Risiken: Erstens, könnten die wichtigen Verbindungen zwischen Frauen und Frieden und Sicherheit auf Frauen und sexuelle Gewalt reduziert werden. Der Trend, sich auf sexuelle Gewalt zu konzentrieren, könnte trotz der Wichtigkeit des Themas bedeuten, dass die Erfahrungen von Frauen in bewaffneten Konflikten mit sexueller Gewalt gleichgesetzt werden. Die mannigfaltigen anderen Wege, auf denen Frauen von bewaffneten Konflikten betroffen sind, laufen Gefahr, übersehen zu werden.
Zweitens (und gleichzeitig Thema des vorliegenden Beitrags), ist die Sicherheitsratsresolution 1820 zum Kernstück der UN-Anstrengungen im Kampf gegen sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten geworden. Die Tatsache, dass Resolution 1820 aus dem Frauen-, Friedens- und Sicherheitsprozess hervorgegangen ist, birgt die Gefahr, dass man sich bei zukünftigen Anstrengungen auf sexuelle Gewalt gegen Frauen in bewaffneten Konflikten und nicht auf das Problem der sexuellen Gewalt im Allgemeinen konzentriert. Diese Gefahr besteht nicht nur auf dem Papier, wie der folgende Betrag zeigt.
Sexuelle Gewalt gegen Männer und Jungen
Es gibt hinreichende Beweise, die darauf hindeuten, dass sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten auch gegen Männer und Jungen verübt wird; das genaue Ausmaß ist allerdings nach wie vor unbekannt.
Es ist wahrscheinlich, dass sexuelle Gewalt gegen Männer und Jungen in bewaffneten Konflikten weiter verbreitet ist, als wir gemeinhin heute annehmen, denn der Mangel an harten Zahlen ist auf die Untererfassung der Praxis sowie auf die Tatsache zurückzuführen, dass das Problem nicht thematisiert wird, und nicht darauf, dass es praktisch nicht existiert. Es wird gemeinhin akzeptiert, dass es eine Untererfassung von Vergewaltigungen und sexueller Gewalt im Allgemeinen und von Vergewaltigungen und sexueller Gewalt gegen Männer und Jungen im Besonderen gibt. Grund dafür ist eine Kombination aus Scham, Verwirrung, Schuld, Angst und Stigma. Männer sprechen wohlmöglich eher ungern über ihnen zugefügte Schikanen, da sie dies für unvereinbar mit ihrer Männlichkeit halten. Und wenn sexuelle Gewalt zudem nur einen Teil der Misshandlungen, denen ein Überlebender ausgesetzt war, ausmachte, werden diese vielleicht eher als Prügel oder Peinigung im Allgemeinen und nicht so sehr als sexuelle Gewalt oder sexuelle Folter im Besonderen betrachtet. Die Menschen vor Ort spiegeln die Antworten der Überlebenden wider, indem sie es versäumen, Zeichen sexueller Gewalt gegen Männer und Jungen zu erkennen und aufzugreifen. Wird ein Missbrauch anerkannt, wird er nicht unbedingt als sexueller Gewaltakt eingestuft, da das Problem oft unter der Rubrik „Missbrauch“ oder „Folter“ erfasst wird, wobei Kastration als „Verstümmelung“ und Vergewaltigung als „Folter“ eingestuft wird. Es ist wichtig, sowohl das Allgemeine (Vergewaltigung als Folter) als auch das Besondere (Vergewaltigung als Vergewaltigung) anzuerkennen.
Ein weiterer Grund zu glauben, dass sich, wenn man ernsthaft etwas in diesem Bereich tun würde, die Zahlen vor uns entfalten würden, ist das unterschiedliche Wesen der Praxis. Sie ist nicht auf einen bestimmten Teil der Erde begrenzt. Sie ist nicht auf staatliche Kräfte, bewaffnete Gruppen oder private Militärfirmen beschränkt. Sie ist nicht auf ein bestimmtes Alter von Opfern oder einen bestimmten Ort der Ausübung begrenzt. In über 25 bewaffneten Konflikten sind derartige Praktiken nachgewiesen worden (1). Die Zahlen variieren: in einigen Konflikten scheint sexuelle Gewalt eher sporadisch und ad hoc aufzutreten, in Anderen hingegen eher systematisch. In den Fällen, in denen sexuelle Gewalttaten eingehend untersucht wurden, ist sexuelle Gewalt gegen Männer und Jungen als regulär und gewöhnlich, vorherrschend und weit verbreitet anerkannt worden. Die gründlichste Untersuchung zum Thema sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten wurde zu den im Rahmen des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien verübten Gräueltaten durchgeführt. Während und nach diesem Konflikt lassen sich in allen Phasen des Ermittlungsverfahrens Beispiele für sexuelle Gewalt gegen Männer und Jungen finden: von Berichten von Staaten, Nichtregierungsorganisationen und UN-Experten bis hin zu Anklagen und Verurteilungen von Einzeltätern. In den Bezug auf den Konflikt in der Demokratischen Republik Kongo, bei dem immer mehr Berichte über sexuelle Gewalt an die Oberfläche kommen, sind Berichte über sexuelle Gewalt gegen Männer und Jungen mit Berichten über sexuelle Gewalt gegen Frauen durchsetzt (2).
Die Sicherheitsratsresolutionen 1325, 1820, 1888 und sexuelle Gewalt gegen Männer
UN-Berichte über sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten werden nunmehr auf das Problem der sexuellen Gewalt gegen Männer ausgerichtet. Demzufolge findet man immer wieder Sätze wie „Männer und Jungen sind ebenfalls sexueller Gewalt ausgesetzt“ (3). Ein solcher Satz, wenn es ihn denn gibt, ist jedoch der einzige Bezug auf Männer und Jungen in derartigen Berichten. Somit ist diese kurze Anerkennung noch nicht in konkrete Anstrengungen im Namen von männlichen Opfern gemündet, sei es in Form von Mechanismen zur Sensibilisierung für das Problem, fokussierte Forschungspläne zum Thema oder Präventionsstrategien.
Gelegentlich werden Gründe genannt, um zu erklären, warum man sich auf das Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen konzentriert. Diese Gründe sind jedoch nicht immer überzeugend, z.B. dass Frauen und Mädchen „die Mehrheit der Zivilisten ausmachen, die Zielscheibe für eine bestimmte Gräueltat sind… dass ihr Reproduktionsvermögen durch Gruppenvergewaltigungen und Brutalität ruiniert wird“ und dass „gewalttätige, sexuelle Übergriffe gegen Frauen und Mädchen in der Tat eine besondere Herausforderung für die Friedenstruppen darstellen – Herausforderungen, die sich auch von Fällen, in den Männer zur Zielscheibe sexueller Übergriffe wurden, unterscheiden (4). Als derartige Herausforderungen gelten z.B. der Mangel an Berichterstattung von Seiten weiblicher Opfer sowie das soziale Stigma, das mit sexueller Gewalt einhergeht (5). Dennoch lassen sich viele, wenn nicht sogar alle diese Punkte auch auf sexuelle Gewalt gegen Männer und Jungen anwenden. Trotzdem sollten diese Erklärungen lobend erwähnt werden und einem Schweigen vorgezogen werden, da sie den Dialog am Laufen halten.
Besorgniserregender ist allerdings Sicherheitsresolution 1820. Vermutlich (und hoffentlich) unbeabsichtigt, scheint diese Resolution männliche Opfer sexueller Gewalt auszuschließen. Obgleich die Resolution an manchen Stellen schon auf sexuelle Gewalt „insbesondere gegen Frauen und Mädchen“ oder den Schutz von Zivilisten „einschließlich Frauen und Mädchen“ Bezug nimmt, bedient sich die Resolution all zu oft der Formulierung „sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen“ (Hervorhebung des Autors).
Ein Beispiel: Der Sicherheitsrat „bestätigt seine Absicht, bei der Errichtung und Erneuerung von staatsspezifischen Sanktionen, die Angemessenheit von zielgerichteten und abgestuften Maßnahmen gegen Parteien bewaffneter Konflikte, die Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen in bewaffneten Konfliktsituationen ausüben, zu berücksichtigen“ (6).
Besonders interessant sind die Stellen, an denen die Sprache der Resolution einbindend ist und an denen sie ausgrenzend wird. Eine Analyse der Resolution zeigt, dass, wenn sie versucht, das Problem der sexuellen Gewalt zu beschreiben und bei Gelegenheiten, wo sie allgemeine Maßnahmen einführt, die Sprache immer einbindend ist. Kommt die Resolution hingegen auf spezifische, konkrete, detaillierte Maßnahmen der Umsetzung oder Vollstreckung zu sprechen, wird die Sprache ausgrenzend. Das beste Beispiel hierfür sind die Abschnitte, in denen sowohl die deskriptiven als auch die Umsetzungsmaßnahmen gemeinsam betrachtet werden oder die Stellen, wo sowohl die allgemeinen als auch die spezifischen Maßnahmen gemeinsam behandelt werden.
Ein Beispiel: Der Sicherheitsrat „ermuntert die Staaten, die Truppen- und Polizeikontingente stellen, in Absprache mit dem Generalsekretär, mögliche Schritte zu erwägen, um das Bewusstsein und die Reaktionsfähigkeit ihres an Blauhelmeinsätzen beteiligten Personals zu stärken, um Zivilisten, einschließlich Frauen und Kinder, zu schützen und sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Konflikt- und Postkonfliktsituationen zu verhindern...“ (7).
Wenn es um Verbesserung der Sensibilisierung und Reaktionsfähigkeit geht, ist die Sprache einbindend – „alle Zivilisten, einschließlich Frauen und Kinder“. Wenn es dann aber im Weiteren um die beschwerlichere Prävention von sexueller Gewalt geht, sind die zu schützenden Objekte ausschließlich Frauen und Mädchen.
Glücklicherweise ist das Follow-up zur Resolution zufriedenstellender. Der Bericht des Generalsekretärs gemäß UNSCR 1820 ist weitgehend geschlechterneutral verfasst worden und besagt ausdrücklich, dass „sexuelle Gewalt gegen Zivilisten, insbesondere gegen Frauen und Mädchen, in zahlreichen Konflikten in der Geschichte verübt wurde“, und dass „während Frauen und Mädchen besondere Zielgruppen sind und die Mehrheit der Opfer sexueller Gewalt stellen, das Fallrecht des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und der Sondergerichtshof für Sierra Leone (SCSL) auch die Ausübung von Gewalt gegen Männer bezeugen“ (8).
Noch feinsinniger ist UNSCR 1888. Sie baut auf den Resolutionen 1325 und 1820 auf und ist sehr viel vorsichtiger in der Wahl ihrer Begrifflichkeiten. Die überwiegende Mehrheit der Artikel ist vorsichtig verfasst, um sowohl männliche als auch weibliche Opfer sexueller Gewalt zu erfassen. Dies beinhaltet vor allem auch jene Artikel, die die Einrichtung des Postens eines Sondergesandten, die Entsendung von Expertenteams in potentielle Krisengebiete und die Verabschiedung von Sanktionen vorsehen (9).
Hier entsteht jedoch ein anderes Problem: Der gesamte Prozess ist auf sexuelle Gewalt gegen Zivilisten ausgerichtet. Ein beträchtlicher Anteil sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten wird jedoch in Haftsituationen, gegen Kriegsgefangene und Mitglieder von Streitkräften oder Mitglieder bewaffneter Gruppen verübt. Zudem werden Kindersoldaten, sowohl Jungen als auch Mädchen, Opfer sexueller Gewalt. Und dennoch deckt UNSCR 1820 mit ihrem ausschließlichen Fokus auf Zivilisten keine der vorbenannten Formen sexueller Gewalt ab. Durch die steigende Zahl von Kämpferinnen und Frauen, die an Kampfhandlungen direkt beteiligt sind, schränkt der ausschließliche Fokus der Resolution auf Zivilisten den Schutzbereich der Frauen ein.
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(1) S Sivakumaran, ‘Sexual Violence against Men in Armed Conflict’ (2007) 18 European Journal of International Law 253.
(2) Siehe z.B. das letzte Briefing an den Sicherheitsrat durch den Stellvertretenden Generalsekretär für Friedenseinsätze nach Berichten über Massenvergewaltigungen in Nord und Süd Kivu; UN Doc S/PV.6378, 7. September 2010, Seite 6.
(3) Siehe z.B. Women, Peace and Security: Study submitted by the Secretary-General pursuant to Security Council resolution 1325 (2000) (United Nations, 2002) 16, Absatz 59.
(4) A-M Goetz, ‘Einleitung’, in Women Targeted or Affected by Armed Conflict: What Role for Military Peacekeepers? (Wilton Park, 27.-29. Mai 2008) 4 (Hervorhebungen entfernt).
(5) Ibid.
(6) Sicherheitsratsresolution 1820, operative para. 5 (Hervorhebungen des Autors).
(7) Ibid, operative para. 8.
(8) Bericht des Generalsekretärs gemäß Sicherheitsratsresolution 1820 (2008), S/2009/362, Absatz 3 und 6.
(9) Sicherheitsratsresolution 1888, operative paras 4, 8, und 10.
Krisen bewältigen, bewaffnete Konflikte beenden - Friedenspolitische Strategien von Männern und Frauen
In Kooperation mit: Frauensicherheitsrat & Friedensfrauen weltweit
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