Was sind die Stärken und die Schwächen der Frauenbewegung im heutigen Russland?
Zu den Stärken zähle ich die Entwicklung der theoretischen Grundlagen, das gesammelte Wissen und die Umsetzung einer Genderbildung, die bei Russinnen die Entwicklung eines Selbstbewusstseins fördert, welches sich auf die Anerkennung des Rechts gründet, ihre Rolle in der Gesellschaft selbst zu bestimmen. Es gibt nicht den einen richtigen Weg, der für alle Frauen der Welt gelten würde: Gleiche Ursachen können unterschiedliche Folgen hervorrufen. Daher ist der Beitrag der russischen Wissenschaftler/innen zur Genderforschung von solcher Bedeutung.
Die Frauenbewegung ist erst im Entstehen begriffen, daher hat sie auch Schwächen: Das unzureichende Bewusstsein der Aktivistinnen in Bezug auf ihre bürgerlichen Rechte, die Unterschätzung der Notwendigkeit politischer Beteiligung, die zu schwach ausgebildete Verbindung von feministischer Theorie und Praxis der Frauenbewegung sind ein Manko. Die soziale Basis der Bewegung muss erweitert werden, es muss an Koalitionen gearbeitet werden, sowohl zwischen Frauen-NGOs untereinander als auch mit anderen Organisationen, einschließlich politischer Parteien und Gewerkschaften.
Warum ist Ihrer Ansicht nach politische Beteiligung so wichtig?
Es gibt mehrere Gründe, warum Frauen in die Politik gehen müssen. Die paritätische Vertretung von Frauen in bestellten und gewählten öffentlichen Ämtern ist eine Frage der Gerechtigkeit und der Gleichstellung, wenn wir wirklich eine demokratische Gesellschaft aufbauen. Frauen bringen neue Elemente in die politische Kultur. Frauen initiieren Gesetze, die ihren Interessen entgegenkommen, und verleihen so dem Staat eine sozialere Orientierung. Politikerinnen dienen als „Modellrolle“, als Beispiel dafür, dass für Frauen jede Lebensrolle möglich ist. Die Erfahrung weltweit wie auch der gesunde Menschenverstand legen nahe, dass es nur dort einen komfortablen Staat geben kann, wo sowohl in der Familie wie außerhalb eine Parität zwischen Frauen und Männern besteht. Der Einzug der Frauen in den Bereich der Macht ist eine ebenso objektive historische Notwendigkeit wie der Einzug des PC in unser tägliches Leben.
Übersetzung:
Hartmut Schröder
- Interview mit Galina Michaleva: Über den 8. März und Demokratisierungsprozesse in Russland
- Interview mit Nadeshda Schwedowa: Die Frauenbewegung im heutigen Russland
- Interview mit Irina Tartakovskaja: Gleichheit und Quote in Russland
- Interview mit Olga Woronina: Über Genderzensur und den Feminismusbegriff in Russland
- Jelena Maximowa: Der 8. März in Russland: Vom Marxismus zum Sexismus
- Interview mit Soja Chotkina : Frauen auf dem russischen Arbeitsmarkt
- Interview mit Nina Ostanina: Nur der Sozialismus kann den Frauen eine wirkliche Gleichstellung garantieren
- Interview mit Olga Sdrawomyslowa: Renaissance des Patriarchats in Russland