Derzeit ist viel der Begriff „Renaissance des Patriarchats“ zu hören. Denken Sie, dass dies eine treffende Kennzeichnung der gegenwärtigen Entwicklung der russischen Gesellschaft ist?
Von einer „Renaissance des Patriarchats“ wird nicht erst jetzt gesprochen, sondern bereits seit Anfang der 90er Jahre. Genderforscherinnen hatten damit eine verstärkte Diskriminierung der Frau auf dem Arbeitsmarkt, das Abdrängen der Frauen in den Bereich der Hausarbeit (unbezahlter Arbeit) und die Verbreitung einer anhaltenden Frauenarmut (Feminisierung der Armut) bezeichnet. Gleichzeitig jedoch entwickelte sich in Russland – als Gegengewicht hierzu – in den 90er Jahren eine unabhängige Frauenbewegung, und es entstand eine Genderkritik der neuen sozialen Ordnung.
Die gegenwärtige historische Phase hat eine andere Spezifik. Der moderne russische Trend besteht darin, dass mit traditionalistischer Ideologie und Politik führende Positionen im öffentlichen Raum eingenommen werden. Hierzu gibt es kein Gegengewicht; es fehlen jetzt praktisch jene kritische Reflexion oder sozialen Bewegungen, die auf diese Genderherausforderung antworten würden.
Ich denke, es lassen sich viele finden, die sofort fragen würden, was denn am traditionalistischen Ansatz Schlechtes sei oder wozu wir die Gleichstellung der Geschlechter eigentlich brauchen ...
Wir leben im 21. Jahrhundert, und die historisch erkämpften Werte – Menschenrechte, die Würde der Person und (aus eben jenem Register) die Gleichberechtigung der Geschlechter – lassen sich nicht mehr abschaffen. Das Fehlen einer so wesentlichen Modernisierungskomponente wie Gleichstellung der Geschlechter wirft die Gesellschaft zweifellos ins Archaische zurück. Das ist jetzt sehr gefährlich.
Welche Kräfte können unsere Gesellschaft aus dieser Situation herausführen, wo doch im öffentlichen Diskurs die Probleme bei der Herstellung von Gleichstellung praktisch von der Tagesordnung gestrichen sind?
Eine Zivilgesellschaft, die in Richtung Demokratisierung und Modernisierung tätig wird. Der Einsatz einzelner Bürger/innen, denen Freiheit als Wert und die Prinzipien der Demokratie am Herzen liegen. Wenn sich die traditionalistischen Tendenzen verstärken, wird es in der Gesellschaft zu heftigsten Konflikten und zu einem Anwachsen von Gewalt mit Genderhintergrund kommen. Das hätte äußerst negative Folgen, vor allem für Familien, Kinder und Jugendliche, und würde die Demographie-Politik zum Scheitern verurteilen. Anders gesagt: Es geht hier um die Zukunft Russlands, deshalb gibt es letztlich zu einer Bewegung in Richtung Gleichstellung der Geschlechter keine Alternative.
Übersetzung:
Hartmut Schröder
- Interview mit Galina Michaleva: Über den 8. März und Demokratisierungsprozesse in Russland
- Interview mit Nadeshda Schwedowa: Die Frauenbewegung im heutigen Russland
- Interview mit Irina Tartakovskaja: Gleichheit und Quote in Russland
- Interview mit Olga Woronina: Über Genderzensur und den Feminismusbegriff in Russland
- Jelena Maximowa: Der 8. März in Russland: Vom Marxismus zum Sexismus
- Interview mit Soja Chotkina : Frauen auf dem russischen Arbeitsmarkt
- Interview mit Nina Ostanina: Nur der Sozialismus kann den Frauen eine wirkliche Gleichstellung garantieren
- Interview mit Olga Sdrawomyslowa: Renaissance des Patriarchats in Russland