Jedes Jahr sterben in Mexiko Tausende von Frauen infolge von illegal und stümperhaft durchgeführten Abtreibungen, andere werden zu Haftstrafen verurteilt. Der Grund dafür sind zum einen die restriktiven Abtreibungsgesetze, zum anderen die hohe Zahl an ungewollten Schwangerschaften. Dabei spielen zahlreiche Faktoren zusammen: falsche Moralvorstellungen, die den Frauen ihr Recht auf Selbstbestimmung absprechen, ungenügende Sexualaufklärung und die weit verbreitete sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen.
Noch immer ist Abtreibung im gesamten Staatsgebiet Mexikos illegal. Die einzige Ausnahme bildet Mexiko-Stadt. Hier sind Schwangerschaftsabbrüche innerhalb der ersten 12 Schwangerschaftswochen seit einer Gesetzesreform in 2007 in den folgenden Fällen gesetzlich erlaubt: wenn die Schwangerschaft die Folge einer Vergewaltigung ist, es sich um einen unbeabsichtigten Schwangerschaftsabbruch handelt, die Schwangerschaft das Leben oder die Gesundheit der Frau gefährdet, der Fötus missgebildet ist, die Schwangerschaft die Folge einer ungewollten künstlichen Befruchtung ist - wobei es eher unwahrscheinlich erscheint, dass ein solcher Fall eintritt -, und wenn die Frau sich gezwungen sieht, die Schwangerschaft aus ökonomischen Gründen abzubrechen und bereits drei Kinder hat.
In ganz Mexiko ist von den genannten Fällen ein Schwangerschaftsabbruch nur im ersten Fall - infolge einer Vergewaltigung - erlaubt. In 30 der 32 Bundesstaaten ist Abtreibung außerdem straffrei, wenn es sich um einen unbeabsichtigten Abbruch handelt und in 29 Bundesstaaten, wenn die Schwangerschaft das Leben der Frau gefährdet.
Die Gesetzesreform in Mexiko-Stadt zog zahlreiche Gesetzesänderungen in anderen Bundesstaaten nach sich, die die Bedingungen für ungewollt schwangere Frauen noch verschärft haben. So zum Beispiel im Bundesstaat Baja California. Hier wurde im Dezember 2008 ein Gesetz verabschiedet, das das menschliche Leben ab dem Moment der Befruchtung schützen soll. Im Januar 2011 wurde dort eine Frau zu 23 Jahren Haft verurteilt, weil die Richter davon ausgingen, dass sie zwei Jahre zuvor heimlich einen Schwangerschaftsabbruch herbeigeführt hatte. Nach eigener Aussage hatte sie nicht bemerkt, dass sie schwanger war, bis plötzlich Blutungen auftraten, die schließlich zur Ausstoßung des Fötus führten. Nachdem die Frau von ihrer Familie ins Allgemeine Krankenhaus von Mexicali gebracht wurde, hat das Personal sie bei der Generalstaatsanwaltschaft von Baja California angezeigt.
Wie viele Frauen in Mexiko bisher aufgrund einer Abtreibung zu Haftstrafen verurteilt wurden, ist nicht bekannt, da es laut María del Carmen Rioseco, von der Grupo Feminista Alaíde Foppa mit Sitz in Baja California, sehr schwierig ist, Informationen dazu zu bekommen.
Trotz des Verbotes sind Abtreibungen in ganz Mexiko weit verbreitet. Nach Angaben des Alan Guttmacher Institutes haben 2006 über 800.000 Frauen abgetrieben. Die NGO GIRE (Grupo de Información en Reproducción Elegida) betont bezüglich der stark voneinander abweichenden offiziellen Zahlen zu illegalen Abtreibungen in Mexiko, dass es sich dabei lediglich um Schätzwerte handeln kann. Als Gründe dafür, dass Frauen keine Auskunft über eine erfolgte Abtreibung erteilen, nennt sie einerseits die soziale Stigmatisierung der Betroffenen, andererseits deren Angst vor den gesetzlichen Folgen. Noch schwieriger sei es, die Zahl der Frauen zu ermitteln, die an einem heimlich durchgeführten Schwangerschaftsabbruch gestorben sind. Dem CONAP (Consejo Nacional de Población) zufolge, ist Abtreibung in Mexiko die vierthäufigste Todesursache bei Frauen im gebährfähigen Alter.
Ein großes Problem ist, dass nicht alle betroffenen Mädchen und Frauen die finanziellen Mittel aufbringen können, um nach Mexiko-Stadt zu kommen und hier unter geeigneten medizinischen und hygienischen Bedingungen den Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. So kommt es zu unzähligen heimlichen Abtreibungen, die in den meisten Fällen nicht fachgerecht und unter unhygienischen Bedingungen durchgeführt werden. Die gesundheitlichen Folgen sind für die Frauen katastrophal. Oft kommt es zu Blutungen, Infektionen oder Traumen. Jährlich sterben Tausende von Frauen an nicht fachgerecht vorgenommenen Abtreibungen.
Die Situation wird zusätzlich dadurch verschärft, dass vielen Frauen ein Schwangerschaftsabbruch nach einer Vergewaltigung nicht von den zuständigen Behörden gewährt wird, obwohl er in allen Bundesstaaten gesetzlich erlaubt ist. In Veracruz beispielsweise hat die Staatsanwaltschaft laut Nachrichtenagentur CIMAC einer Abtreibung bei zwei 12-jährigen Mädchen, die vor kurzem in ihren Gemeinden vergewaltigt wurden, nicht zugestimmt.
Im nördlichen Bundesstaat Chihuahua kommt es seit der massiven Militär- und Polizeipräsenz im Zuge des Kampfes gegen die Drogenkriminalität immer wieder zu Massenvergewaltigungen an Frauen durch bewaffnete Männer. Der Frauenrechtsorganisation Cedehm (Centro de Derechos Humanos de las Mujeres) zufolge sei es jedoch äußerst schwierig jeweils herauszufinden, ob die Täter dem Militär, der Polizei oder aber den kriminellen Banden zuzuordnen seien. Auch hier wird den betroffenen Frauen meist ihr Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch versagt. Als Gründe nennt Cedehm die persönlichen Vorurteile und Überzeugungen der Beamten im Gesundheitssektor, fehlende Strafmaßnahmen für das Personal, das den Frauen diesen Dienst verweigert sowie der nötige gesetzliche Rahmen zur Inanspruchnahme dieses Rechts.
Hinzu kommt, dass das mexikanische Recht bisher keinen Schutz gegen häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch an Mädchen und Frauen garantiert. Nur in 12 Bundesstaaten gelten Vergewaltigungen durch den Ehemann als Straftat.
Aber auch die Zahl der Abbrüche ungewollter Schwangerschaften, die nicht die Folge einer Gewalttat sind, ist in Mexiko hoch. Dabei spielen unter anderem regionale und soziale Faktoren eine bedeutende Rolle: Während in den städtischen Gegenden mehr legale Schwangerschaftsabbrüche und bei Frauen, die der Mittelklasse angehören, erfolgen, kommt es in ländlichen Gebieten zu mehr illegalen Abbrüchen, hauptsächlich bei armen, ungebildeten Frauen.
Hier ist unter anderem der gerade in den ländlicheren und konservativeren Gegenden Mexikos weiterhin große Einfluss der katholischen Kirche hervorzuheben. So reagiert sie mit vehementer Ablehnung auf jede Kampagne, die den Gebrauch von Verhütungsmitteln propagiert.
Immerhin hat kürzlich sogar Papst Benedikt XVI. eingeräumt, dass der Gebrauch von Kondomen unter bestimmten Umständen nun doch vertretbar sei, beispielsweise um eine Ansteckungsgefahr zu verringern.
Sicher ist nämlich, dass die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche nicht primär mit der jeweiligen Gesetzgebung eines Landes zusammenhängt. Vielmehr scheint eine direkte Verbindung zwischen dem Grad der Sexualaufklärung der Bevölkerung und der Abtreibungsrate zu bestehen. Der FIAPAC (Internationale Vereinigung von Fachkräften zu Schwangerschaftsabbruch und Kontrazeption) zufolge ist die Abtreibungsrate umso niedriger, je intensiver Präventionsmaßnahmen betrieben werden. Als positives Beispiel gelten die Niederlande, die weltweit zu den Ländern mit den niedrigsten Abtreibungszahlen zählen. Dort würden Jugendliche umfassend in den Schulen und durch die Medien aufgeklärt. Dazu komme ein einfacher Zugang zu Verhütungsmitteln.
Das INEGI (Instituto Nacional de Estadística y Geografía) hat auf seiner Homepage die neuesten Zahlen zum Gebrauch von Verhütungsmitteln in Mexiko veröffentlicht. Demnach kannten im Jahr 2009 bundesweit durchschnittlich 98% der Mädchen und Frauen im gebährfähigen Alter mindestens eine Verhütungsmethode. Verhütungsmittel sind also bekannt. Benutzt werden sie allerdings nicht ganz so häufig - landesweit nur von 72,5% der Frauen. Dabei variieren die Zahlen je nach Bundesstaat. In Mexiko-Stadt ist sie mit knapp 80% am höchsten. In ärmeren Bundesstaaten hingegen sind sie um einiges niedriger: In Chiapas beispielsweise verwenden 55 %, in Guerrero 61 % und in Oaxaca 63 % der Frauen regelmäßig Verhütungsmittel.
Die hohen Abtreibungszahlen korrellieren also mit fehlender Aufklärung, einem niedrigen Bildungsniveau, dem unzureichenden Zugang zu Verhütungsmitteln sowie einer großen Zahl von Mädchen und Frauen, deren Partner sich um ihre Verantwortung drücken. Es ist deshalb dringend notwendig, dass der Aufklärungsunterricht konsequent und systematisch an mexikanischen Schulen durchgeführt wird. 2009 wurden mindestens 7,6% aller Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren schwanger. Infolge dessen kündigte der Minister für öffentliche Bildung, Alonso Lujambio, im Oktober letzten Jahres an, Maßnahmen für einen “verantwortungsvollen Umgang mit Sexualität” voranzutreiben. Alle Bildungseinrichtungen sollen demnach aktiv den Gebrauch von Verhütungsmitteln fördern.
Im Bundesstaat Oaxaca ist es der Organisation Mexfam (Fundación Mexicana para la Planeación Familiar) im Rahmen einer Studie im Zeitraum von 2004 bis 2008 gelungen, die Zahl der ungewollten Schwangerschaften bei Mädchen zischen 12 und 19 Jahren in knapp 30 ländlichen Gemeinden durch gezielte Aufklärungsmaßnahmen und die Einrichtung von speziellen Beratungsstellen für Sexualaufklärung und Prävention deutlich zu verringern. Oaxaca zählt zu den Bundesstaaten mit der höchsten Dichte an ländlicher und indigener Bevölkerung. Zudem liegt die Zahl der Frauen im gebährfähigen Alter über dem Landesdurchschnitt von 15,6%. Deshalb sei es dringend notwendig, eine höhere Nachfrage nach Verhütungsmitteln zu schaffen, so Maricela Durá, Direktorin von Mexfam.
Am Ende der Studie habe sich die Zahl der ungewollten Schwangerschaften bei den Mädchen der untersuchten Gemeinden im Vergleich zu den Jugendlichen gleichen Alters, die in Gemeinden lebten, in denen Mexfam keine Kampagne gestartet hatte, um fast 10% verringert.
In Mexiko-Stadt wurden laut Inmujer (Instituto de las Mujeres de la Ciudad de México) zwischen April 2007 und April 2010 mehr als 39.000 Schwangerschaftsabbrüche in dafür spezialisierten Krankenhäusern durchgeführt. Die betroffenen Frauen kamen mehrheitlich aus Mexiko-Stadt - knapp 30.000 -, zirka 8.000 aus dem angrenzenden Bundesstaat Mexiko und weitere 1.000 aus anderen Bundesstaaten. Heute kommt es in Mexiko-Stadt in weniger als 1% der Fälle zu Komplikationen. Die Leistungen sind für alle Frauen kostenlos.
Um das Leben aller Frauen zu schützen und deren Gleichberechtigung und das Recht auf Selbstbestimmung zu garantieren, müssen neben gezielten Aufklärungsmaßnahmen Schwangerschaftsabbrüche im gesamten Staatsgebiet legalisiert und den Frauen aller sozialen Schichten der Zugang zu einer adäquaten Behandlung gewährleistet werden.
Des Weiteren müssen Mädchen und Frauen besser vor sexuellen Übergriffen im familiären Bereich geschützt werden. Auch Vergewaltigungen durch Angehörige des Militärs oder der Polizei dürfen nicht länger unbestraft bleiben.
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