"Think of all the women you know who will not allow themselves to be seen without makeup. I often wonder how they feel about themselves at night when they are climbing into bed with intimate partners. Are they overwhelmed with secret shame that someone sees them as they really are? Or do they sleep with rage that who they really are can be celebrated or cared for only in secret?
Bell Hooks, Communion: The Female Search for Love"
Der große Seminarraum. Viele der Zuschauer_innen sitzen bereits erwartungsvoll auf ihren Plätzen. Andere betreten den Raum und suchen in den Reihen nach freien Stühlen. Vorne steht Bibiana Arena. Sie hat bereits begonnen über Gestik und Mimik mit Einzelnen im Publikum zu interagieren.
Sie ist Schneewittchen in einem improvisierten, etwas zu großen jedoch unmissverständlich konnotierten Kostüm.
Dann beginnt die Performance. Erzählerische Episoden, Elemente von Tanz und Bewegung, Sprache, Bilder und Gesang fließen ineinander.
Plötzlich treten im Seminarraum Emotionen und Gefühle in den Mittelpunkt, die bisher den ganzen Tag nur ab und zu schüchtern hinter den Gesichtern der Konferenzteilnehmer_innen hervorblicken durften. Die Künstlerin inszeniert sie auf und mit Hilfe ihres Körpers und wirft sie ins Publikum. Wut, Liebe, Angst, Trauer, Unsicherheit, Unbehagen…
"Ich habe etwas Falsches getan.", sagt sie zu ihrem imaginären Spiegel an der Wand, "Ich wurde geboren." Es erklingt leises, zustimmendes Gelächter aus dem Publikum.
"Ich habe etwas Falsches getan: ich bin nicht weiß!"
Schweigen.
Indem sie Schneewittchen, die der Konferenz ihren Namen geliehen hat, am Ende noch einmal das Wort erteilt, markiert die Künstlerin den Körper als eine jener Leerstellen, die sich in konventionellen Diskursen über Kapitalismus, Arbeit und Wachstum finden.
Schneewittchen ist so sehr durch ihre „Schönheit“ charakterisiert, wie keine andere klassische Märchenfigur. Es ist nicht nur durch den Konferenztitel bedingt, dass Bibiana Arena sich zur Aneignung ausgerechnet dieser Rolle entscheidet. Ich denke an dominante Vorstellungen von weiblicher Schönheit, die nicht zuletzt auch auf Weißsein beruhen. Diese befördern eine Multi-Milliarden-Euro-Industrie, und haben darüber hinaus ein weiteres unbezahltes Arbeitsfeld für Frauen weltweit etabliert.
Insbesondere Schwarze Frauen und Frauen of Color sehen sich mit der Erwartung konfrontiert, ihre rassifizierten Körper einer dominanten Norm, notfalls unter Zuhilfenahme teurer und gesundheitsschädigender Kosmetika, wie Bleaching- oder Entkrausungsprodukten, anzupassen.
Eine Maschinerie ästhetischer und konzeptioneller Bilder unterfüttert eine Kultur der körperlichen Entfremdung und der Konkurrenz, von der der Markt lebt.
„My mother hates everything that makes me who I am“, erzählt Schneewittchen aka Bibiana Arena ihrem Spiegel und wird später selbst zur Mutter, die sich in typischen „pregnancy-is-fun“-Posen darstellt.
Schließlich ist „Schneewittchen“ auch eine Geschichte von der Rivalität zweier Frauen, einer (Stief)Mutter und einer (Stief)Tochter, die sich aus eben jenem lukrativen Schönheitsmythos speist.
Boaventura de Sousa Santos verweist auf die Notwendigkeit konkreter Orte, anstelle diffuser Räume als Ausgangspunkt für soziale Emanzipation, da innerhalb zeitgenössischer konventioneller Konzepte, wie Demokratie und Menschenrechte, die meisten Menschen nicht etwa als Subjekte, sondern als Diskursobjekte fungieren. Ohne bewusst diese Linie zu ziehen, stellte die Politologin Christine Rudolf im Rahmen der Podiumsdiskussion Was kann Feministische Ökonomie leisten eine ähnliche Forderung:
"Wenn ich feministische Ökonomie immer als Abgrenzung und als Ausgrenzungsanalyse definiere dann unterwerfe ich mich ständig diesem Marktmechanismus. Wenn ich aber sage, dass die Bedürfnisse, die Menschen haben, die ja nicht nur wirtschaftlicher Art sind sondern vielfältige Perspektiven haben [und teilweise] gar nicht über dieses Modell der Ökonomie abbildbar sind, dann muss ich mich fragen mit welchen anderen Analysemethoden ich da herangehe und da ist eine Möglichkeit, die Menschen direkt zu fragen und das ist natürlich dann auch noch in der Wissenschaft die Frage: gibt es andere Instrumente, diese tatsächliche Realität von Menschen, wie ich sie begreife, wenn ich mir mein eigenes Leben oder das meiner Umgebung angucke, ob ich nicht eine Wissenschaft finden muss, die das besser aufgreift und die vielleicht dieses Kästchendenken zwischen Ökonomie und Politik und anderen Disziplinen aufhebt."
Dekoloniale Kritiker_innen, wie Sousa Santos gehen jedoch noch weit über diese Forderung hinaus und stellen infrage, dass Wissenschaft – als epistemologisches Tool – ausreicht, beziehungsweise überhaupt geeignet sein kann, um bestimmte zeitgenössisch akute Fragestellungen zu beantworten, insbesondere da ihr westlich-patriarchale, kolonialrassistische Strategien und Standpunkte eingeschrieben sind.
An anderer Stelle, dem Open-Space-Teil der Konferenz, der als Auswertungs- und Vernetzungsraum dienen soll, stößt der Hinweis, dass dekoloniale Ansätze an diesem Tag gefehlt hätten zunächst auf Unverständnis und Abwehr von Seiten der Moderation.
Dabei stellen gerade diese Denkansätze – die Forderung nach epistemologischer Vielfalt, nach einer Soziologie der Absenzen, der Anerkennung alternativer Formen der Wissensproduktion, die aus dem westlichen, weißen (ja, auch dem westlichen, weißen, feministischen Kanon) der Wissenschaft ausgegrenzt werden – interessante und zielführende Perspektiven dar, die nicht utopisch sind, sondern in vielen Gemeinschaften des globalen Südens (und auch im im globalen Norden enthaltenen Süden) bereits praktiziert und gelebt werden. Mit Patricia Hill Collins Worten:
"[There is] a potential for oppressed people to possess a moral vision and standpoint on society that grows from their situation of oppression. This standpoint also emerges as an incipient foundation for a more humanistic, just society."
Der menschliche Körper als konkreter Ort der Erfahrung und Wissensproduktion steht in diesen Epistemologien häufig im Mittelpunkt.
Auch Bibiana Arenas Körper wird an diesem Abend zu einem solchen konkreten Ort, innerhalb eines diffusen Raumes, der Dank der im Konzept eingegliederten und sorgfältig kuratierten Kunst ein Stück weit über seine epistemologischen Grenzen hinauswachsen darf.
2012