Unsere Gesellschaft ist längst von einer Vielfalt an Lebensentwürfen geprägt. Menschen leben in unterschiedlichen Verbindungen, in Wahl-, Regenbogen- und Patchwork-Familien, in Freund /innen-Netzwerken, in schwulen oder lesbischen Lebensgemeinschaften, in polyamourösen Beziehungen. Auch die klassische Laufbahn « verliebt, verlobt, verheiratet » war gestern: Seit 1968 hat sich die Zahl unverheirateter Mütter und Väter in Westdeutschland mehr als verdoppelt (auf über 11 Prozent), in Ostdeutschland vervierfacht (auf über 40 Prozent). Lebensentwürfe lösen sich zunehmend von festgefügten Mustern. Doch so individuell die Entscheidungen begründet sein mögen, echte Wahlfreiheit für neue Lebensentwürfe impliziert auch, dass sich die politischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen dem gesellschaftlichen Wandel anpassen.
Was brauchen wir, um frei wählen - zu können?
Eigenständige Existenzsicherung – hinter diesem etwas sperrigen Begriff aus dem Wahlprogramm der Grünen verbirgt sich ein Konzept, das für jeden Menschen die gleichen Rechte, den Zugang zu Ressourcen und Teilhabe fordert – das Fundament der Wahlfreiheit also. Es sieht vor, alle Fehlanreize, die die Ungleichheit der Geschlechter begünstigen, im Steuerrecht, in der Sozialpolitik oder auf dem Arbeitsmarkt zu überprüfen und umgekehrt zu fragen: Welche Infrastruktur, welche Rahmenbedingungen – zum Beispiel bei der Kinderbetreuung, in der Pflege – brauchen wir, damit wir tatsächlich frei wählen können und nicht ständig traditionelle Muster in der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern reproduzieren?
In der Bundesrepublik lebt heute die am besten ausgebildete Frauengeneration aller Zeiten. Sie stößt jedoch an gläserne Decken, kommt weniger beruflich voran als Männer. Das betrifft nicht nur ihre Aufstiegschancen, das betrifft auch den Lohn: Vergleicht man mittlere Einkommen, beträgt der Unterschied zwischen Männer- und Frauengehältern 22 Prozent. Mit dieser Zahl liegt Deutschland auf dem drittletzten Platz aller OECD-Länder. Ein großer Teil dieser Differenz ist auf Teilzeitarbeit zurückzuführen. In Deutschland arbeiten 62 Prozent der Frauen zwischen 25 und 54 Jahren in Teilzeit, zum Vergleich: In Frankreich sind es nur 26 Prozent.
Überrepräsentiert sind Frauen hingegen in schlecht bezahlten und prekären Arbeitsverhältnissen. Von den 6,94 Millionen Menschen, die im Jahr 2011 einen Minijob angenommen haben, stellen Frauen mehr als zwei Drittel. Die Folgen: Im Laufe ihrer Erwerbsbiografie erwirtschaften Frauen heute nur eine halb so hohe Rente wie Männer, viele Frauen sind deshalb von Altersarmut bedroht. Mit diesem Unterschied in den Rentenbezügen landet Deutschland auf dem letzten Platz aller 34 Länder, die die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrem letzten Gleichstellungsbericht verglichen hat. Wer also weibliche Altersarmut verhindern will, muss unter anderem beim Arbeitsmarkt ansetzen und umsteuern.
Eine Kita ist wichtiger als bares Geld
Mehr denn je wollen viele junge Menschen die Erwerbs- und Hausarbeit gerecht unter den Geschlechtern aufteilen. Der Blick auf die Lebensverläufe von Männern und Frauen zeigt jedoch: Sobald Kinder gewünscht oder da sind, wird dieser Wunsch von Einkommen und Angeboten wie Kinderbetreuung stark beeinflusst. Es sind eben nicht ewig alte Denkmuster in den Köpfen werdender Eltern, die jede Veränderung blockieren. Junge Paare müssen sehr genau kalkulieren, wie viel am Ende des Monats zum Leben in der Haushaltskasse bleibt, und planen, wie sie Beruf und die Betreuung ihrer Kinder verbinden können. Eltern, die ihr Leben partnerschaftlich gestalten wollen, scheitern letztendlich an den Rahmenbedingungen. « Kita ist wichtiger als Bares » – titelte die Süddeutsche Zeitung am 30. April und verwies auf eine neue Studie des Ifo-Instituts, das untersucht hat, wie sich die Familienpolitik des Staates auf die Geburtenzahl und die Karriere von Frauen auswirkt. « Gerade in Haushalten mit niedrigem Einkommen reduzieren Frauen ihre Stundenzahl oder verschwinden ganz vom Arbeitsmarkt .» So halten sich traditionelle Arbeitsteilung und die Rollenzuweisung innerhalb der Familie hartnäckig. Das Ehegattensplitting fördert dies noch. Wenn jedoch 40 Prozent der Ehen ohne Kinder von diesem Steuermodell profitieren, fragt sich, was mit den Steuern eigentlich gesteuert bzw. gefördert wird: das Leben mit Kindern oder ein mehr und mehr überkommenes Alleinernährermodell?
Wichtige Stationen des Lebens müssen stärker in den Fokus
Nun mag es nicht nur ein berechtigtes persönliches Bedürfnis sein, sondern auch ökonomisch sinnvoll, wenn Eltern Erwerbs- und Sorgearbeit zu unterschiedlichen Teilen übernehmen und mit dem Splittingvorteil qua Trauschein in der Haushaltskasse rechnen. Die Ehe ist auch weiterhin eine mehrheitlich gewählte Lebensform. Doch als Leitbild, zumindest auf Lebenszeit, ist sie überholt: Wurde in Westdeutschland in den 50er Jahren jede achte Ehe geschieden, ist es heute jede zweite. Was also in einem Lebensabschnitt ein persönliches Bedürfnis und auch ökonomisch sinnvoll sein kann, kann mit Blick auf eine gesamte Biografie negative Wirkungen entfalten.
Der erste Gleichstellungsbericht der Bundesregierung empfiehlt deshalb einen ganz neuen Blick auf die Politik von Gleichstellung. Sie soll die verschiedenen Knotenpunkte im Verlauf des Lebens stärker in den Fokus nehmen, also die Stationen, an denen Menschen wichtige Entscheidungen treffen – eine Ausbildung beginnen, heiraten oder aus dem Beruf aussteigen. Sie soll Fehlanreize abbauen und positive Bedingungen schaffen, die Wahlfreiheit erlauben, ohne massive Einbußen vor allem bei der beruflichen Entwicklung und Karriere und bei der Altersrente in Kauf nehmen zu müssen.
Punktuell gibt es eine solche am Lebensverlauf orientierte Politik schon. Sorgezeiten werden als Phasen oder Unterbrechungen im Lebensverlauf arbeits- und sozialrechtlich besser abgesichert. Neue Regelungen wie die Elternzeit stärken die Verantwortung von Männern und die Möglichkeit, die Sorgearbeit von Eltern zu teilen. Mit solchen neuen Regelungen nähert sich die Politik aber erst allmählich einem neuen Leitbild der eigenständigen Existenzsicherung.
Arbeits-, Steuer- und Sozialrecht - müssen entrümpelt werden
Vor allem die Grünen wollen diesem Leitbild zum Durchbruch verhelfen; es ist nicht unumstritten und erfordert Mut – wie die mediale Empörung über die Steuerpläne im grünen Wahlprogramm Ende April zeigte. Das Leitbild ist an Selbstbestimmung und an echter Wahlfreiheit orientiert. Ohne Entrümpelung und Reformen im Arbeits-, Sozial und Steuerrecht sind diese nicht zu haben. Denn eigenständige Existenzsicherung bedeutet, dass alle Menschen einen Rechtsanspruch auf soziale Absicherung und grundsätzliche individuelle Leistungen haben – unabhängig von Geschlecht und partnerschaftlicher Bindung.
Das Abschmelzen des Ehegattensplittings zugunsten der Förderung von Kindern, eine Reform der Minijobs, Anreize für den beruflichen Aufstieg von Frauen sind das eine. Das andere ist es, eine Infrastruktur zu schaffen, die Männer und Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglicht. Dazu gehört auch eine andere Gestaltung der Erwerbsarbeit, die Sorgearbeit für Kinder und pflegebedürftige Menschen – und zwar ohne Nachteile für Beruf, Karriere und Rentenansprüche – möglich macht.
Das Leitbild der eigenständigen Existenzsicherung soll jedoch nicht als Individualisierung von Existenzsicherung missverstanden werden, im Gegenteil: Es geht um die Neuverhandlung sozialer Gerechtigkeit.
Auch das Leitbild einer eigenständigen Existenzsicherung begrüßt es, dass Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. Es wirft aber Fragen auf, welche Art von Solidarität der Staat voraussetzen darf und wie Steuer-, Familien-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gestaltet werden können, so dass sie Bedürfnissen von Individuen gerecht werden und mit der staatlichen Schutz- und Förderverantwortung in Einklang stehen.
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Barbara Unmüßig ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Neben der internationalen Arbeit der Stiftung ist sie verantwortlich für das Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie. Eines ihrer zentralen Anliegen ist die konsequente Umsetzung des Leitbilds Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung.
Susanne Diehr ist Referentin im Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie in der Heinrich-Böll-Stiftung.
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Böll.Thema 02/2013
Wie frei bin ich? – Lebensentwürfe in Bewegung
Online-Ausgabe mit kostenlosem Download
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Barbara Unmüßig bei Grün.links.denken: Wahlfreiheit – das große Versprechen