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Gewalt, Politik und der Körper der Frau

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Frauen protestieren am 20. April 2012 auf dem Tahrir-Platz
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Frauen protestieren am 20. April 2012 auf dem Tahrir-Platz - ein riskantes Unterfangen, denn während der Demonstrationen kam es zu zahlreichen Vergewaltigungen

Die Organisation "Nazra for Feminist Studies" versucht in Ägypten eine feministische Bewegung aufzubauen. Die Gruppe hat hunderte Fälle von geschlechtsbezogener Gewalt dokumentiert, Aussagen von Opfern aufgenommen und bietet psychologische, medizinische sowie rechtliche Beratung an. Darüber hinaus arbeitet Nazra mit Politikerinnen und Parteien zusammen, um den Frauenanteil in der Politik zu erhöhen. Der Interviewer sowie die Vertreterin von Nazra möchten aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt werden.



Geschlechtsbezogene Gewalt im öffentlichen Raum ist seit langem ein großes Problem in Ägypten. Seit der Revolution von 2011 hat sich dieses Problem verschärft. Haben Sie eine Erklärung dafür?

 

Wir wissen, dass die Täter immer wieder straffrei ausgehen, so ist unsere tagtägliche Erfahrung. Der Oberster Rat der Streitkräfte (SCAF), der nach Mubarak die Macht übernahm, hat das wiederholt demonstriert: Beispielsweise als er im März 2011 Menschenrechtsaktivistinnen auf ihre Jungfräulichkeit untersuchen ließ. Nachdem ein Verwaltungsgericht dieses Vorgehen für gesetzeswidrig erklärte, hat ein Militärgericht den Arzt, der diese Untersuchungen durchführte, freigesprochen. Sehr früh wurde so klargestellt, man kann mit den Körpern von Frauen tun was man will – und keiner muss deshalb mit Konsequenzen rechnen. Im November 2011 gab es bei den Großdemonstrationen am Tahrir-Platz sexuelle Übergriffe der Sicherheitskräfte auf Demonstrantinnen. Dazu ist es immer wieder gekommen, ganz gleich, wer an der Macht war. Im Dezember 2012 wurde bei den Zusammenstößen vor dem Präsidentenpalast die Frauenrechtsaktivistin Ola Shahba verhaftet und von Anhängern Mursis sexuell misshandelt. Die Sicherheitskräfte waren daran beteiligt und unternahmen nichts, um es verhindern. Auch im November 2013 wurden Demonstrantinnen verhaftet, vergewaltigt und anschließend in der Wüste ausgesetzt. Wir wissen auch von eine Fall, bei dem ein Polizeioffizier eine Frau oral vergewaltigte - das war im Dezember 2013 an der Al-Azhar Universität. Nie wurde in diesen Fällen jemand zur Verantwortung gezogen.



Auch Angriffe auf Frauen im öffentlichen Raum haben zugenommen. Es wird darüber gerätselt, ob das Zufall ist oder Teil einer politischen Kampagne.



Tatsächlich kam es auch vor der Revolution häufig zu solchen Zwischenfällen, nur wurden sie meist von den Medien unter den Teppich gekehrt. Nach dem 25. Januar 2011 nahm das deutlich zu, da große Menschenmassen auf den Straßen waren – und damit auch viel mehr Frauen. Manche sagen, das Innenministerium stecke dahinter und wolle die Proteste diskreditieren, die Menschen abschrecken. Andere sagen, es seinen die Muslimbrüder, die Frauen aus der Öffentlichkeit vertreiben wollten. Ehrlich gesagt wissen wir einfach nicht, wer diese Leute sind. Es ist auch nie ernsthaft untersucht worden.



Zu tun hat es jedenfalls mit der Kultur der Straflosigkeit in unserem Land. Seit der Revolution haben die Täter die Erfahrung gemacht, sie können Frauen vergewaltigen, sie sexuell belästigen – und ihnen wird nichts passieren. Und, wie gesagt, das war durchgehend so, ganz gleich wer an der Macht war. Zum ersten Zwischenfall dieser Art am Tahrir-Platz, der Gruppenvergewaltigung der Fernsehjournalistin Lara Logan, kam es am 11. Februar 2011. Das war unmittelbar nach Mubaraks Rücktritt, als die Menschen auf den Platz strömten, um das zu feiern. Wir haben beobachtet, dass, je größer eine Menschenmenge wird und je mehr die Feierstimmung überhandnimmt, desto häufiger kommt es zu diesen Verbrechen. Im Juni 2012 haben wir drei Gruppenvergewaltigungen dokumentiert, im November 2012 waren es 19, wobei teils scharfe Gegenstände und Finger eingesetzt wurden. Eine Frau musste sich anschließend einer Hysterektomie unterziehen. Im Januar 2013 haben wir 24 Fälle dokumentiert. In der Zeit vom 28. Juni bis zum 7. Juli 2013, während der Proteste gegen Präsident Mursi, war es am schlimmsten. Wir haben 186 Fälle gezählt, 46 am 30. Juni, 80 am 3. Juli, dem Tag, an dem Mursi abgesetzt und die Übergangsregierung ernannt wurde. Die Menschen haben auf dem Platz gefeiert – indem sie Frauen vergewaltigt haben. Das setzt sich bis heute fort. Kürzlich wurden zwei Mädchen ermordet, eines nahe Assiut in Oberägypten, das andere in Tanta, im Nildelta. Beide hatten sich verbal gegen Belästigungen gewehrt. In einem Fall zog ein Mann eine Pistole und schoss, das andere Mädchen wurde überfahren. Viele Männer glauben, ihnen kann nichts passieren und sie hätten das Recht, so etwas zu tun.



Für Außenstehende ist das schwer zu begreifen. Wie kann es sein, dass ein solches Verhalten von einer Gesellschaft geduldet wird, in der konservative Moralvorstellungen und Werte so wichtig sind?



Es sind dieselben Rechtfertigungen wie überall auf der Welt: Sie war unziemlich gekleidet..., sie hat es so gewollt, usw. Dazu kommt, dass Gewalt gegen Frauen Alltag ist. Männer wachsen in einer Gesellschaft auf, in der ein Mann seine Ehefrau schlagen, demütigen und vergewaltigen darf. Wenn häusliche Gewalt nicht verfolgt wird, dann ist es kein Wunder, dass es zu solcher Gewalt auch in der Öffentlichkeit kommt. Man glaubt, dass der Körper einer Frau nicht der Frau, sondern den Männern gehört – und die damit anstellen können, was sie nur wollen.



Was Werte angeht, ein Beispiel: Im November 2012 entstand eine Initiative namens "Operation Anti Sexual Harassment" (OpAntiSH), deren Ziel es ist gegen sexuelle Gewalttaten, die aus einem Mob heraus verübt werden, vorzugehen. Sie versuchen, dass Opfer so rasch wie möglich aus der Menschenmenge zu holen. Dabei fiel ihnen auf, dass die Lage sich oft noch verschlimmerte, wenn sie laut "Vergewaltigung" schrien, denn das zog weitere Täter an. Meist beginnt es mit 10 oder 20, und die Menge vergrößert sich dann rasch auf 100. Wenn man erreichen will, dass Menschen helfen und einschreiten, ist es besser "Dieb" zu rufen. Das zeigt Ihnen, wie es um die Werte bestellt ist: Diebstahl ist ein Verbrechen; eine Frau zu vergewaltigen oder sexuell zu belästigen hingegen nicht.



Dennoch ist es schwierig, diese Ausbrüche von Aggression, Gewalt und den Verlust sozialer Kontrolle zu begreifen. Hat es mit angestautem Frust zu tun oder mit Armut? Ist es eine Frage der Klassenzugehörigkeit?



Wir haben es zu tun mit einer schlechter werdenden Sicherheitslage, mit zunehmender Gewalt auf den Straßen und mit immer mehr Menschen, die Schußwaffen tragen. All das trägt sicher nicht zur Verbesserung der Lage bei. Wir denken aber nicht, dass es sich dabei um ein klassenspezifisches Problem handelt. Wir weisen solche Begründungen ausdrücklich zurück. Wir denken, auf diese Art wird nach Rechtfertigungen gesucht, die sich nicht so sehr von der Behauptung unterscheiden, eine Frau habe sich unziemlich gekleidet. Manche sagen, weil diese Männer keine Arbeit haben und nicht das Geld um zu heiraten, sind sie sexuell frustriert – und greifen folglich Frauen an. Wir erlauben uns ganz bescheiden einzuwenden, dass das Quatsch ist. Wenn es daran läge, dass man nicht heiraten kann und sexuell frustriert ist, warum sehen wir dann nicht, wie die Millionen von Frauen, denen es ebenso geht, Männer auf der Straße verfolgen und sie vergewaltigen? Handelte es sich um ein klassenspezifisches Problem, wie kann man dann erklären, dass sozial hochstehende Männer ihre Ehefrauen vergewaltigen, Professoren ihre Studentinnen belästigen? Es geht hier um eine patriarchale Gesellschaft, in der Gewalt gegen Frauen an der Tagesordnung ist. Mit der Klassenzugehörigkeit hat das nichts zu tun.



Als die Muslimbrüder 2012 an die Macht kamen, waren viele besorgt, dass die Rechte der Frauen beschnitten würden – speziell als es um den Entwurf der neuen Verfassung ging. Der Sturz von Mursi im Sommer 2013 war und ist umstritten. Kann man wenigstens sagen, für die Lage der Frauen war das positiv?



Ein positives Element der Übergangsregierung war das 50-köpfige Komittee, dem es oblag, die Verfassung zu überarbeiten. Es hat einige Paragraphen eingeführt, die für Frauen ganz ausgezeichnet sind, was wir den Anstrengungen von Feministinnen wie Professor Hoda El-Sadda verdanken. Allerdings ist davon bislang nichts umgesetzt worden. Beispielsweise gibt es einen Artikel, der vorschreibt, dass in alle öffentlichen Ämter auch Frauen berufen werden sollen. Die Vorsitzende des Nationalen Frauenrats, Mervat El-Tallawi, forderte daraufhin auf, der Staatsrat möge Richterinnen ernennen. Der Staatsrat antwortete, dies sei keine verfassungsrechtliche Angelegenheit, und man behalte sich das Recht vor, Frauen in dieses Amt zu berufen – oder auch nicht. In der neuen Verfassung steht ebenfalls, dass jede Art von Gewalt gegen Frauen staatlich verfolgt werden muss. Davon haben wir noch nichts gesehen. Auch sieht die Verfassung eine Kommission vor, die die Benachteiligung von Frauen bekämpfen soll. Wann diese Kommission eingerichtet und welche Rechte sie haben wird, ist aber völlig unklar.



Dann ist da auch noch das neue Wahlrecht, dem zufolge 80 Prozent der Abgeordneten direkt gewählt werden und 20 Prozent über Listen. Ein solches Wahlsystem begünstigt jene, die bereits Macht an der Macht sind – Personen aus einflussreichen Familien oder mit Verbindungen. Und das sind stets Männer. Beim Verhältniswahlrecht kann man dagegen Druck auf die Parteien ausüben, mehr Frauen zu nominieren. Die werden dann auch gewählt, da die Menschen für eine Partei stimmen. Die nächsten Parlamentswahlen, davon kann man ausgehen, werden für Frauen eine Katastrophe sein, ein klarer Rückschritt gegenüber 2011/12, als über Zweidrittel der Sitze nach dem Verhältniswahlrecht vergeben wurden. Der Staat, das ist ganz klar, arbeitet weiter daran, Frauen vom politischen Leben und aus der Öffentlichkeit auszuschließen.



Bei den letzten Wahlen haben Sie mit einigen Kandidatinnen zusammengearbeitet. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?



Die "Akademie für die Politische Teilhabe von Frauen" hat während der Wahlen 2011/12 im Rahmen eines Trainingsprogramms mit 16 Frauen gearbeitet. Mitglieder von Nazra haben diese Frauen in ihren Dörfern aufgesucht und mit ihnen an ihrem Wahlkampf gearbeitet, d.h. ihnen gezeigt wie man Reden hält oder die eigene Botschaft vermittelt. Nur eine dieser 16 Frauen wurde ins Parlament gewählt. Das Programm ist aber langfristig angelegt und es geht nicht unbedingt darum, gleich ins Parlament zu kommen, sondern darum, politisch aktiv zu werden. Das ist gelungen und viele dieser Frauen gehören nun Parteien an.



Sind Sie bei den Parteien als aktive Mitglieder erwünscht?



Nun, wir leben in einer partriarchalen Gesellschaft, entsprechend haben die Parteien kein so großes Interesse an Frauen in Führungspositionen. Einmal besuchten wir in einer Region einen prominenten Parteivertreter, und der Kerl sagt zur Kandidatin seiner Partei, sie möge doch bitte für das Nazra-Team Tee kochen. Mozn Hassan, unsere Vorsitzende, musste ihm dann erklären, dass er, wenn er Tee trinken wolle, sich doch bitte selbst darum kümmern möge. Wir wären hier, um die Kandidatin bei ihrem Wahlkampf zu beraten, nicht damit sie uns Tee zubereitet. Das Beispiel zeigt, wie man Frauen in diesen Parteien sieht und was man für die Pflichten der Frau hält. Beim Thema "Öffentliche Gewalt gegen Frauen" sind sie alle gleich, sei es die SCAF, Mursis Leute oder die Übergangsregierung.



Gilt das wirklich für alle Parteien - sind einige besser als andere?



Ehrlich gesagt gibt es da kaum Unterschiede. Die Geisteshaltung ist überall die gleiche. In den vergangenen drei Jahren war von den Parteien zu den Rechten von Frauen fast nichts zu hören. Wenn Frauen und feministische Organisationen hier nicht Druck machen würden, käme ihnen das nicht einmal in den Sinn.



Und wenn Sie Druck machen, reagieren da einige besser als andere?



Ich gebe Ihnen ein Beispiel, die Demonstrationen am 30. Juni 2013 gegen Mursi. Von früheren Ereignissen her wussten wir, es würde zu Gruppenvergewaltigungen und sexuellen Belästigungen aus dem Mob heraus kommen. Wir haben die Parteien deshalb gebeten, hier aktiv zu werden. Sie aber haben bestritten, dass es das Problem überhaupt gebe und nichts getan. Nur zwei Parteien sind tätig geworden, die Sozialistische Volksallianz und die Partei Freies Ägypten. Sie haben große Scheinwerfer aufgestellt, mit denen die dunklen Ecken des Platzes ausgeleuchtet wurden. Allein diese beiden Parteien haben etwas getan, was Ihnen zeigt, die anderen Parteien schert das nicht – Frauenthemen sind denen egal.





Aus dem Englischen von Bernd Herrmann.