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Sicher auf hoher See

'Verhältnisse, wie auf hoher See', kommentiert Ulrike Baureithel das deutsche Gesundheitssystem.
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'Verhältnisse, wie auf hoher See', kommentiert Ulrike Baureithel das deutsche Gesundheitssystem.

Das deutsche Gesundheitssystem erinnert an Verhältnisse auf hoher See: 90 Prozent der Bevölkerung fährt auf einem riesigen, etwas schwerfälligen Tanker. Für die Überfahrt zahlt man je nach Einkommen einen Obolus und darf dafür erwarten, dass man vernünftiges Essen bekommt und eine Koje, auch wenn man bei der Essenausgabe oft anstehen muss. Auf den Tanker werden automatisch alle geleitet, die in Lohn und Brot stehen, erwerbslos sind oder Rentner.

Alle übrigen, also Gutverdienende, Selbstständige und Beamte, entscheiden sich dagegen für eine smarte Yacht, wo man zwar viel mehr bezahlen muss und Ehefrau und Kinder ein eigenes Ticket brauchen, aber auf der man erwarten kann, in seiner Luxuskabine äußerst zuvorkommend bedient zu werden.

Auch Yachten können in Seenot geraten

Das geht alles so lange halbwegs gut, wie sich auf dem Tanker nicht zu viele arme Schlucker versammeln und sich für die Fahrt auf der Yacht genügend wohlhabende, junge und gesunde Mitreisende finden, die wenig Versorgung brauchen. Sonst nämlich wird das Vergnügen teuer, weil der Ticketpreis nach Ausgabenrisiko kalkuliert wird. Auf dem Tanker dagegen ist es selbstverständlich, dass die Stärkeren die Schwächeren mitnehmen.

Aber sowohl der Tanker als auch die Yacht laufen Gefahr, in Seenot zu geraten. Dann nämlich, wenn sich vom Tanker diejenigen verabschieden, die sich die Yachtreise ebenfalls leisten können, zum Beispiel, weil sie keinen Familienanhang haben. Oder aber die unberechenbaren Wellengänge der Ökonomie den Tanker in unruhige See bringen. Die Reeder der Yacht wiederum kämpfen mit steigenden Preisen und immer älter werdenden Kunden. Die Tarife klettern in die Höhe, und am Ende können sich das nur noch wenige Leute leisten. Das ganze Geschäft funktioniert nicht mehr. Deshalb wäre es eigentlich viel vernünftiger, wenn sich alle Bürgerinnen und Bürger zusammenfinden würden, um diese Risiken gemeinsam zu schultern.

Dann würde jeder entsprechend seinem Einkommen, egal ob es aus Erwerbsarbeit, Zinsen, Dividenden oder Mieten stammt, für den Eintritt bezahlen, man könnte den Tanker etwas wetterfester ausstatten und möglicherweise sogar den Service verbessern. Zwar hätten die einstigen Yachtreisenden nicht mehr das Gefühl, etwas Besseres zu sein, aber immerhin die Befriedigung, etwas für die zu tun, denen das Schicksal übel mitspielt. Vielleicht würde der eine oder andere Jüngere etwas mehr bezahlen müssen als vorher, aber er könnte sicher sein, dass er sich im Alter die Fahrkarte auch noch leisten kann.

Das Modell, von dem hier die Rede ist, nennt sich Bürgerversicherung, und es kam in Mode, als um die Jahrtausendwende die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ins Straucheln geriet, weil aufgrund steigender Arbeitslosigkeit die Einnahmen dramatisch zurückgingen, während die Gesundheitskosten stiegen. Als Erfinder gilt der Gesundheitsökonom Karl Lauterbach, als er noch als Berater von SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt fungierte. Das Vorhaben fand so viel Widerhall, dass es gleich drei Parteien – SPD, Bündnisgrüne und Linkspartei – in unterschiedlicher Ausgestaltung in ihr Parteiprogramm aufnahmen.

Bürger empfinden das Modell als gerecht

Was zunächst nur wie eine bequeme Ausweitung der Finanzierungsgrundlagen des Gesundheitssystems aussieht, indem nicht nur alle Einkommensarten, sondern überhaupt alle Bürger in die Pflicht genommen werden, stößt in der Bevölkerung auf positive Resonanz, weil es viel gerechter erscheint als das bisherige System. Denn das in Europa ohnehin einmalige Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung gründet in den spätfeudalen Verhältnissen des 19. Jahrhunderts, und es gibt keinerlei triftige Gründe – mit Ausnahme, dass die Privatversicherungen um ihr Geschäftsmodell fürchten –, weshalb Selbstständige oder Beamte versicherungstechnisch anders behandelt werden sollten als alle übrigen Erwerbstätigen und Bürger, die von Mieteinkünften oder Kapitalerträgen leben, überhaupt nicht in die Versicherungspflicht genommen werden.

Natürlich ist auch eine Bürgerversicherung – von den Gegnern gerne als "Einheitsversicherung" schlechtgeredet – keine absolute Garantie für die Stabilität des Gesundheitssystems, und es gibt viele offene Fragen. Wie beispielsweise soll mit den Angehörigen verfahren werden, die heute in der GKV mitversichert sind? Soll die bestehende Beitragsbemessungsgrenze (also die Grenze des zu versichernden Einkommens) bestehen bleiben oder angehoben oder ganz abgeschafft werden, wie Grüne und Linkspartei fordern? Umstritten ist auch der Umgang mit Zinseinkommen und Mieten, die die SPD nicht unmittelbar einbeziehen will, weil der Verwaltungsaufwand zu groß wäre. Unterschiedliche Vorstellungen gibt es außerdem darüber, in welcher Höhe die Arbeitgeber mit von der Partie sein sollen, ob der Staat für die sozial Schwächeren einspringen muss und wie man die Bürgerversicherung demografiefest gestaltet.

Modell ließe sich auf Rentenversicherung ausweiten

Aber die Vorteile liegen auf Hand: Das Zweiklassenmedizin-System in Deutschland hätte endlich ein Ende. Keine Frage bei der Terminvergabe mehr, ob man privat oder gesetzlich versichert ist. Kein mulmiges Gefühl im Sprechzimmer, dass der Patient in der Privatsprechstunde vielleicht doch besser versorgt wird. Aber auch keine überflüssigen Behandlungen von Privatpatienten mehr. Oder vor allem keine Angst, sich irgendwann überhaupt noch Krankenversicherung leisten zu können. Wenn keiner mehr auf der Yacht fährt, das ist wahr, verliert das Bordpersonal seine Jobs. Rund 100.000 Arbeitsplätze sollen, so ein bislang nicht veröffentlichtes Gutachten von Verdi, in der privaten Versicherungswirtschaft verloren gehen.

Aber das wird über kurz oder lang auch in der Autoindustrie geschehen oder, hoffentlich, in der Rüstungsindustrie. Der Verlust des Arbeitsplatzes ist jedenfalls kein gutes Argument dafür, dass eine zerstörende Produktion oder fragwürdige Geschäftsmodelle weiter existieren. Außerdem werden im Rahmen der Bürgerversicherung möglicherweise auch neue Verwaltungsaufgaben nötig. Das Modell ließe sich außerdem auf die Rentenversicherung ausweiten, wie kürzlich die Bertelsmann-Stiftung vorschlug. Wenn nämlich auch hier alle entsprechend ihrer Gesamteinkommen in eine gemeinsame Rentenkasse einzahlen würden, ließe sich daraus zumindest ein Fundament bauen, um die Alterseinkommen armutsfest zu machen.

Solidarität wird erlebbar

Aber, wie schon gesagt, ein Allheilmittel ist die Bürgerversicherung auch in diesem Fall nicht, jedenfalls nicht ohne flankierende Maßnahmen. Einer nicht erwerbstätigen Ehefrau, der der Mann wegläuft, nützt es wenig, dass er in die Bürgerkasse einbezahlt hat, wenn sie hinterher ohne Arbeit dasteht. Deshalb müssen alle Anreize beseitigt werden, die Frauen zuhause halten und in falscher Sicherheit wiegen: Ehegattensplitting, Betreuungsgeld und vom Ehemann abgeleitete Witwenrenten. Ob das Kind am Ende "grüne Garantierente" heißt oder sozialdemokratisch "Solidarrente" ist egal, Hauptsache, sie ist auskömmlich und sichert eine menschenwürdiges Leben.

Die Bürgerversicherung ist attraktiv, weil sie Bürgerinnen und Bürger emanzipiert von persönlicher oder staatlicher Abhängigkeit. Und sie nimmt ernst, was neoliberale Politiker nur im Munde führen: Leistungsgerechtigkeit. Wenn aber der Kapitalmarkt versagt und die Leistungsgesellschaft ihre Zusicherungen nicht für alle einhält, sollten die, die es besser getroffen haben, für die anderen einstehen. In der Bürgerversicherung liegt das Sinnversprechen erlebbarer Solidarität.

 
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Böll.Thema 2/2013

Wie frei bin ich? Schwerpunkt: Lebensentwürfe in Bewegung

Unser aktuelles Magazin liefert Analysen, Denkanstöße und praktische Vorschläge, wie für die eigenständige Existenzsicherung politische und gesetzliche Weichen gestellt werden können. Mit Beiträgen von Barbara Unmüßig & Susanne Diehr, Uta Meier-Gräwe, Heide Oestreich, Astrid Rothe-Beinlich, Götz Aly, Julia Friedrichs, Chris Köver, Ulrike Baureithel u.v.a.