Anlässlich der intensiven Debatte über sexualisierte Gewalt gegen Frauen* in der Silvesternacht, veranstaltete das Gunda-Werner-Institut am 1. März 2016 eine Podiumsdiskussion. Es ging um Rassismus, das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung in Deutschland sowie die rassistische Instrumentalisierung sexualisierter Gewalt
Ines Kappert, die Leiterin des Gunda-Werner-Instituts der Heinrich-Böll-Stiftung, eröffnet die Diskussion mit einem kurzen Abriss der Ereignisse. Zahlreiche Frauen und Mädchen wurden in der Silvesternacht von migrantischen Männern sexuell belästigt. Laut Süddeutscher Zeitung haben knapp 1.100 Betroffene deutschlandweit Anzeige erstattet. Dabei wurden in rund 600 Fällen sexuelle Übergriffe angezeigt. Köln stand in der medialen Öffentlichkeit fortan für den gefährlichen, jungen Mann, der aus einer "orientalischen" Kultur nach Deutschland kommt und hier deutsche Frauen bedroht. Ein Strafverfahren wurde nur in drei Fällen eröffnet. Die kollektive Aufregung steht damit im krassen Gegensatz zur strafrechtlichen Verfolgung der Vorfälle. Die sowohl vom Deutschen Juristinnen Bund (DJB) als auch den feministischen Aktivistinnen #ausnahmslos unmittelbar nach den Übergriffen geforderte konsequente Strafverfolgung fand damit nicht statt.
Statt einer differenzierten Diskussion über sexualisierte Gewalt in Deutschland und einer längst überfälligen Reform des Sexualstrafrechts, wurde sexualisierte Gewalt als Import-Problem deklariert und das Grundrecht auf Asyl weiter eingeschränkt. Frauen*politische Kämpfe wurden damit für eine Politik gegen die Einwanderungsgesellschaft instrumentalisiert. Doch wie lässt sich eine solche Dynamik in Zukunft vermeiden? Wie kann Rassismus kollektiv reflektiert und vor allem abgebaut werden? Und wie steht es um das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung in Deutschland? Dies galt es im Zuge der Diskussion zu klären.
Koloniale tagesschau
Die Filmemacherin und Medienaktivistin T. Vicky Germain zeigte im Anschluss im Rahmen ihres Kurzvortrags „Anschwärzen“, wie Nicht-Weiße durch die Berichterstattung sogenannter Qualitätsmedien wie etwa der tagesschau zu einer Gruppe mit Gewaltpotenzial homogenisiert werden. Germain veranschaulichte dies mit Hilfe ihres „Mindhistory-Konzepts".
In Anlehnung an die Relativitätstheorie von Albert Einstein, die sich mit der Struktur von Raum und Zeit sowie der Gravitation beschäftigt, soll mit dem Begriff "Mindhistory" eine Einheit von kollektiver Psyche (Mind) und Geschichte (History) versinnbildlicht werden. Psyche und Geschichtsverständnis bedingen einander und bilden ein Kontinuum. Für Germain ist der Kolonialismus eine wesentliche Kontinuität in ihrer Erfahrungswelt und somit ein fester Bestandteil ihrer „Mindhistory“. Die systematische Ausbeutung, Vertreibung und Ermordung von sogenannten Naturvölkern wurde durch die Annahme der kulturellen Überlegenheit der Kolonialist_innen legitimiert.
Die „Mindhistory“ von Weißen indessen ist lückenhaft. Denn die koloniale Vergangenheit und die wirkmächtigen rassistischen Stereotype werden tabuisiert. Es fehlt das Bewusstsein für die rassistische Herkunftsgeschichte und dementsprechend auch das vollständige Bewusstsein für den Ist-Zustand. Im Zuge dessen verweist Germain vor allem auf die kritische Reflexion von Bildungsprozessen: Wie wird über Kolonialismus gelehrt, was wird erzählt, was wird ausgelassen? Besonders das Prinzip der Auslassung ist ein wichtiges Moment weißer Herrschaftsstabilisation.
Germain zeigt mithilfe von Ausschnitten aus der tagesschau exemplarisch wie Mutmaßungen in Bezug auf den kulturellen Hintergrund der Täter der Silvesternacht geäußert werden. Dem wird die Nachricht über den in einer Flüchtlingsunterkunft angeschossenen Syrer gegenübergestellt. Hierbei wird weder auf den kulturellen Hintergrund der Täter_innen, noch auf die mögliche rassistische Motivation der Tat eingegangen. Bezogen auf Geflüchtete und Migrierende ist es demnach deutlich einfacher, Mutmaßungen als Fakten zu verkaufen und diese Gruppe zu homogenisieren und „anzuschwärzen“.
Das Vertrauen in den Rechtsstaat
Der Austausch der geladenen Gäste beginnt mit einer allgemeinen Einschätzung des Silvesterdiskurses: "Was bleibt für Sie von 'Köln' übrig? Was möchten Sie auf keinen Fall vergessen wissen?" Bereits hier wird deutlich wie unterschiedlich weiße und nicht-weiße Perspektiven in Bezug auf grundlegende demokratische Rechte sein können.
Ramona Pisal, Präsidentin des Deutschen Juristinnen Bundes (DJB) und Richterin des Brandenburgischen Oberlandesgerichts, hat sehr geärgert, dass die betroffenen Frauen sich selbst überlassen wurden. Köln habe ihr Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert. Im vermeintlich geregelten Deutschland scheint es zu Lasten der Frauen einen rechtsfreien Raum zu geben, der es Männern* ermöglicht, diese im öffentlichen Raum frei nach Belieben anzufassen und somit sexuell zu nötigen. Özcan Karadeniz vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften erwidert, dass viele Nicht-Weiße ein Vertrauen in den Rechtsstaat gar nicht erst aufgebaut können. Er verweist auf Rassismus in Jugendämtern, bei der Polizei und Rechtsprechung und nennt "Mölln" und "Lichtenhagen" als Chiffren für den institutionalisierten Rassismus. Kappert wirft ein, dass die mangelnde rechtliche Aufarbeitung der NSU-Verbrechen dieses Misstrauen weiter verstärkt haben dürfte. Das Vertrauen in den Rechtsstaat als schützende Instanz ist für viele Nicht-Weiße keine Selbstverständlichkeit.
Das Rechtsgut der sexuelle Selbstbestimmung
Doch ob weiße oder nicht-weiße Frauen* oder Männer*, sie sind rechtlich in Bezug auf sexualisierte Gewalt in Deutschland nicht ausreichend geschützt. So muss sexualisierte Gewalt immer mit physischer Gewalt oder unter Androhung von Gewalt geschehen, um strafrechtlich relevant zu werden. Auch das sogenannte „Angrapschen“ müsse eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten, um justiziabel zu sein. Im Zuge dessen kommt es bei Verbrechen im Bereich sexueller Selbstbestimmung in den meisten Fällen gar nicht erst zur Anklage und noch weniger zu Verurteilungen.
Klar ist, so Pisal, dass diese Schutzlücken bereits seit Jahrzehnten bekannt sind und dass es bei Köln nie um die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen ging. Vielmehr sollte der Besitzanspruch des weißen Mannes gegenüber dem nicht-weißen Mann verteidigt werden. Auch dass die Reform des Sexualstrafrechts jetzt diskutiert und umgesetzt werden soll, habe laut Pisal wenig mit Köln zu tun. Mit der Unterzeichnung der Istanbulkonvention hatte sich die Bundesrepublik bereits 2011 bereit erklärt, die sexuelle Selbstbestimmung seiner Bürger_innen besser zu schützen. Erst im Sommer 2015 sollte nach langer Diskussion über einen entsprechenden Referentenentwurf entschieden werden. Dazu gekommen ist es bisher nicht. Die geplante Reform reicht jedoch nicht aus, um die gegebenen Schutzlücken zu füllen, wie der Deutsche Juristinnen Bund in einer Stellungnahme vom 18.02.2016 erklärt.
#ausnahmslos Vorbild sein
Nur wenige Tage nach Bekanntwerden der sexualisierten Gewalt in der Silvesternacht positionierte sich die Initiative #ausnahmslos mit dem Slogan „Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus – Immer. Überall“. Sie machten darauf aufmerksam, dass sexualisierte Gewalt alle sozialen Milieus und Kulturen durchzieht und wenn dann folglich auch ausnahmslos überall thematisiert werden muss. Doch wie und warum funktionierte eine derart klare feministische, antirassistische Positionierung bei dieser Initiative so gut und so schnell?
Die Mitbegründerin der Initiative #ausnahmslos und #schauhin Keshia Fredua-Mensah beantwortet diese Frage vor allem mit dem politisch geteilten Konsens der ansonsten vielfältig positionierten Aktivistinnen*-Gruppe. Der Anspruch stets intersektional zu sein, also verschiedenste Diskriminierungsmerkmale wie zum Beispiel Behinderung, Hautfarbe, Geschlecht, Alter (usw.) mitzudenken, eint die Initiatorinnen*. Ein Entweder-oder in Bezug auf Rassismus und sexualisierte Gewalt gab es dementsprechend nicht. Die Initiative ist zudem ein Zusammenschluss von Menschen mit verschiedenen feministischen Perspektiven. Diese werden in ihrer Unterschiedlichkeit anerkannt und an den entscheidenden Punkten zusammengebracht. Im Prinzip habe #ausnahmslos nach Fredua-Mensah das erreicht, worüber die Gesellschaft gerade streitet: Vielfalt.
Das Gefühl nicht dazuzugehören
Öczan Karadeniz skizziert eindrucksvoll das Grundprinzip von Rassismus. Rassismus bedeutet zunächst, dass verschiedene Individuen aufgrund eines bestimmten Merkmals, nämlich ihrer Hautfarbe, als eine zusammengehörige Gruppe mit ähnlichen Eigenschaften wahrgenommen werden. Im Laufe ihres Lebens werden Nicht-Weiße dementsprechend immer wieder über dieses Merkmal definiert und mit diversen, diesbezüglichen Zuschreibungen konfrontiert. In der Konsequenz heißt das eine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Gefühl nicht dazuzugehören, sich Zuhause fremd fühlen zu müssen.
Karadeniz plädiert dementsprechend dafür das Bild des rechtsextremen Ostdeutschen als einziges Sinnbild für Rassismus zu begraben. Denn rassistisch tradiertes Wissen und dementsprechende Reaktionsmuster durchziehen alle Milieus und Lebensbereiche, dessen müssen wir uns bewusster werden. Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der wir uns insbesondere in Anbetracht aktueller politischer Situationen stellen müssen. Denn wie Karadeniz an anderer Stelle frei nach George Santayana zitiert, wenn wir Geschichte nicht verstehen, sind wir verdammt sie zu wiederholen.
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Männlich, fremd – gefährlich? Von der Legende des schwarzhaarigen Täters - Heinrich-Böll-Stiftung
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