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Gleichberechtigung mit Austragungspflicht?

Feministischer Zwischenruf

Jedes Jahr im September zieht  der sogenannte Marsch für das Leben durch Berlin. Abtreibungsgegner*innen demonstrieren für ein veraltetes Familienbild und  das in ihren Worten „angebliche Menschenrecht auf Abtreibung“. Doch die Forderung nach Abschaffung des §218 ist wichtig für eine gleichberechtigte Gesellschaft.

Plakat mit Aufschrift: §218 abschaffen
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Die Forderung nach Abschaffung des §218 ist wichtig für eine gleichberechtigte Gesellschaft

Im September ist es wieder soweit, der sogenannte Marsch für das Leben zieht erneut durch Berlin, in dem Abtreibungsgegner*innen für ihre Ziele und gegen das in ihren Worten „angebliche Menschenrecht auf Abtreibung“ aussprechen. Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung stellt sich dagegen und ruft für den 17. September 2016 zum Aktionstag „Mein Körper, Meine Verantwortung, Meine Entscheidung“ – Weg mit §218! auf. Das ist gut so.

Prof. Dr. Maria Wersig ist Juristin und Politikwissenschaftlerin. Sie unterrichtet Sozialrecht an der Fachhochschule Dortmund und forscht und publiziert zu sozial- und geschlechterpolitischen Themen und den Schnittstellen von Sozial- und Familienrecht. Sie ist Mitglied des Bundesvorstands des Deutschen Juristinnenbundes.

 

Denn es gibt immer noch kein Recht auf Abtreibung in Deutschland. Die Debatte muss unbedingt weitergeführt werden, denn eine gleichberechtigte Gesellschaft muss das Recht auf Entscheidungen über den eigenen Körper umfassen. Wenn ich in meinen Vorlesungen mit Studierenden darüber spreche, dass es rechtlich eine Austragungspflicht für ungewollte Schwangerschaften gibt, ernte ich häufig erstaunte Blicke oder den Einwand, mit Beratungsschein sei das doch alles kein Problem. Die faktische Lösung des Abtreibungskonflikts, die in den 1990er Jahren mit dem Pflichtberatungsmodell gefunden wurde, gaukelt Schwangeren (und vermutlich auch dem Rest der Gesellschaft) ein Entscheidungsrecht vor. Das gibt es aber nur als Gnade des Staates verbunden mit einem großen moralischen Zeigefinger. Eine Abtreibung nach diesem Fristenmodell mit Pflichtberatung ist trotzdem rechtswidrig, wenn auch straflos. Das muss so sein, entschied das Bundesverfassungsgericht 1993, um die grundsätzliche staatliche Missbilligung des Schwangerschaftsabbruchs zu signalisieren. Natürlich gibt es auch feministische Kritik an dieser Position, so schrieb die Frankfurter Staatsrechtsprofessorin Ute Sacksofsky im Jahr 2003 in der Kritischen Justiz, man müsse auch berücksichtigen, dass der Embryo von der schwangeren Person ein Leistungsrecht „verlangt“, welches einen unmittelbaren und schweren Eingriff in ihren Körper bedeutet. Und das von einer Rechtsordnung, die aus Grundrechtsgründen eine Pflicht zur Organspende oder zur Blutspende zugunsten eines anderen Menschen ablehnt. Die Austragung einer ungewollten Schwangerschaft, sei deshalb immer unzumutbar und ihre Aufrechterhaltung auch nicht vom Verfassungsrecht verlangt.[1]

Der Abtreibungskompromiss treibt zum Teil absurde Blüten: Im Schwangerschaftskonfliktgesetz (§ 12 Abs. 1) ist geregelt, dass niemand verpflichtet ist, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken. Das gilt allerdings nicht, wenn „die Mitwirkung notwendig ist, um von der Frau eine anders nicht abwendbare Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden“ (Abs. 2). Wenn man Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe werden möchte, sehen die Musterweiterbildungsrichtlinien der Bundesärztekammer trotzdem das Thema Schwangerschaftsabbruch nicht als zu erlernenden Weiterbildungsinhalt vor. Begründet wird das mit der Möglichkeit, die Teilnahme an Schwangerschaftsabbrüchen zu verweigern, dann fehlt aber die Kompetenz zumindest auch in den erwähnten Notsituationen, wo eine Weigerung unzulässig ist. Ein weiteres Beispiel ist die Kosten für den Schwangerschaftsabbruch. Im 1993er Urteil hat das Bundesverfasssungsgericht ausdrücklich vermerkt, dass eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen unzulässig ist. Die Kosten sind deshalb von den Betroffenen selbst zu tragen, nur bei sozialer Bedürftigkeit gibt es Hilfe.  

Mit einer grundsätzlich bestehenden Austragungspflicht für ungewollte Schwangerschaften kann es keine gleichberechtigte Gesellschaft geben, der Aufruf „Weg mit § 218!“ ist deshalb auch heute noch wichtig. Die Ambivalenz der gesellschaftlichen Mitte beim Thema Abtreibung ist auch ein Einfallstor für die AfD, die eine „tragfähige Geburtenrate“ (biodeutscher Eltern) für wünschenswert hält und das Thema Abtreibung in den Kontext dieser rassistischen Bevölkerungspolitik stellt.

 


[1] Ute Sacksofsky, Präimplantationsdiagnostik und Grundgesetz, Kritische Justiz 2003, S. 284.